Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

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Blindlings ins Glück - Ria Hellichten


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kühle Wasser ins Gesicht. Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, machte er eine eilige Katzenwäsche und versuchte, mit den feuchten Fingern seine Frisur in Ordnung zu bringen. Er zog sich die Kleidung über und stellte dabei fest, dass auch sein Outfit von Freitag noch auf dem Fliesenboden lag. Erleichtert zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche der Jeans: Die Chipkarte der Krankenkasse würde er brauchen. Er steckte die Geldbörse ein, aber plötzlich ließ ihn etwas innehalten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal das Haus verlassen hatte, ohne einen gründlichen Blick in den Spiegel zu werfen. Bei diesem Gedanken stieg ein beklemmendes Gefühl in Johnny auf. Er ließ die Finger in sein Gesicht wandern, um die vertrauten Konturen zu betasten. Er war immer noch der Alte. Die hellbraunen, mit ein paar Silberfäden durchsetzten Haare fielen ihm in die Stirn, weil er sie nicht geföhnt hatte, aber sie waren auch nicht lichter als gestern, da war er sicher. Er konnte die stoppelige Haut ertasten, die sich über seine Wangenknochen und sein Kinn spannte – die Rasur musste warten. Probeweise verzog er die Lippen zu einem Lächeln, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. Die Grübchen saßen an derselben Stelle wie immer. Erleichtert atmete er auf und schüttelte den Kopf über sich selbst. Er war noch genau derselbe Mann. Derselbe gut aussehende Mann, auch wenn er nicht in den Spiegel gucken konnte, um das zu überprüfen.

      Was Babsi anging, hatte er ohnehin schon länger den Verdacht, dass sie mehr als nur kollegiale Gefühle für ihn hegte. So wie beinahe alle Frauen, die diese Stelle in der Personalabteilung vorher bekleidet hatten. Im Gegensatz zu Babsi war keine von ihnen lang geblieben. Diese Anziehungskraft musste wohl von der Aura der Autorität ausgehen, die ihn umgab. Trotzdem würde er niemals etwas mit Babsi anfangen: Er pflegte Berufliches und Privates zu trennen. Kein Techtelmechtel im Job. Geschäftsreisen waren die Ausnahme, denn da konnte er sicher sein, seine Begleitung der vergangenen Nacht niemals im Büro wiederzutreffen. Oder überhaupt bei Tageslicht. Die Stadt bot schließlich genügend Möglichkeiten, seine Einsamkeit zu vergessen, wenn sie ihn doch einmal überkam, was selten genug passierte.

      Aber von all dem brauchte Babsi nichts zu wissen. Schließlich war er jetzt auf sie angewiesen, wenn er nicht seine Mutter – Gott behüte! – oder seinen Kumpel Dirk anrufen wollte, der irgendwie nicht mehr derselbe war, seit er in den Ehehafen geschippert war.

      Johnny hörte, wie Babsi sich räusperte. „Können wir jetzt bitte los? Ich habe heute noch etwas vor.“

      Johnny seufzte und schwankte ein paar Schritte durch den Flur, um ihr seine Hand entgegenzustrecken. Aber anstatt sich bei ihm einzuhaken, schloss Babsi die Finger um seinen Unterarm und führte ihn zur Wohnungstür.

      „Ein bisschen sanfter bitte“, säuselte Johnny mit gespielter Entrüstung. Den langen Haarsträhnen nach, die seine Wange kitzelten, schüttelte Babsi jetzt gerade den Kopf. „Ich brauche dringend einen neuen Job“, sagte sie halb laut zu sich selbst.

      „Wie war das?“ Johnny blieb stehen. „Sagen Sie so etwas nicht! Hinterher landen Sie bei irgendeinem Ekel, das es nur auf Ihren hübschen Hintern abgesehen hat und nicht auf Ihre anderen Qua–“

      Johnny spürte ihren wütenden Blick. Er hatte zwar nie sonderlich feine Antennen für zwischenmenschliche Stimmungen besessen, aber hier knisterte die Luft.

      „Sie können von Glück reden, dass ich so geduldig bin“, zischte Babsi. „Ich hätte nicht wenig Lust, Sie hier sitzen zu lassen, und was machen Sie dann? Es ist Sonntagabend und zu Hause wartet mein Verlobter mit dem inzwischen kalten Essen, also lassen Sie einfach die blöden Sprüche.“

      Johnny erstarrte. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr schockierte: dass es schon Abend war und er über vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte oder dass Babsi verlobt war. Zwar war ihm nicht entgangen, dass sie in letzter Zeit irgendwie aufgeblüht war, aber ... ein Verlobter? Und er hatte nichts davon gewusst? Nicht zu fassen.

      „Sie sind verlobt?“, fragte er, ohne sich Mühe zu geben, die Neugier in seiner Stimme zu verhehlen.

      Babsi stieß einen langen Seufzer aus und womöglich verdrehte sie auch die Augen. „Ach, hören Sie bitte auf, sich für mein Privatleben zu interessieren, das kaufe ich Ihnen nicht ab. Wenn Sie nicht so ein –“

      Johnny zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch. Vielleicht hatte er es mit seinen Provokationen diesmal doch zu weit getrieben. Keine von Babsis Vorgängerinnen hatte ihn je beleidigt.

      „Wenn Sie nicht so mit sich selbst beschäftigt wären, hätten Sie das vielleicht auch mitbekommen.“

      Johnny zuckte nonchalant mit den Schultern. „Spätestens wenn sich der ganze Papierkram wegen der Namensänderung auf meinem Schreibtisch gestapelt hätte, wäre es mir schon aufgefallen.“

      Babsi öffnete stumm die Wohnungstür und schob ihn umständlich hindurch. Johnny schaffte es gerade noch, in einem Anflug geistiger Gegenwärtigkeit seinen Wohnungsschlüssel vom Haken neben der Tür zu nehmen und einzustecken, dann zog Babsi die Tür hinter ihnen wieder zu. „Das sind bezahlte Überstunden“, sagte sie, bevor sie auf die Ruftaste für den Aufzug drückte, die einen leisen Piepton von sich gab. Johnny überlegte kurz, was er erwidern könnte; aber hier, an der Schwelle, die von seiner gewohnten Umgebung in die ihm neuerdings fremde Welt hinausführte, verging ihm plötzlich die Lust, zu streiten.

      Vor dem Aufnahmetresen des Krankenhauses ließ Babsi ihn einfach stehen. „Es tut mir leid, Herr Baumann. Ich wünsche Ihnen alles Gute, aber ich muss jetzt wirklich wieder nach Hause.“

      In ihrer gereizten Stimme schwang noch ein anderes Gefühl mit, das dafür sorgte, dass Johnny sich plötzlich wieder wie ein Schuljunge fühlte, der ins Büro des Direktors gerufen worden war. Wieder und wieder huschte ihm derselbe Gedanke durch den Kopf: Scheiße. Diesmal hast du wirklich großen Mist gebaut. Verdammte Scheiße …

      „Bitte?“, fragte im nächsten Moment eine kratzige Frauenstimme mittleren Alters. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

      Johnny stammelte drauflos und schaffte es irgendwie, der Dame am Tresen zu erklären, weshalb er dort war. Er berichtete von bunten Blitzen, die durch sein Sichtfeld zuckten, von stechenden Kopfschmerzen und dem Wunsch, das Patienten-WC aufzusuchen. Gern in Begleitung, weil er es allein leider nicht finden würde.

      Die Rezeptionistin schien etwas überfordert zu sein. Sie gab ein paar undefinierbare, genuschelte Wörter von sich und tippte dann wild auf den Tasten eines Telefons herum, bevor sie mit eindringlicher Stimme eine Stationsschwester herbeirief. Dann ging auf einmal alles ganz schnell: Menschen kamen, fragten Johnny aus, zerrten an ihm herum und ließen ihn wieder allein. „Guten Tag, ich bin Herr Doktor Soundso.“ „Hallo, ziehen Sie sich bitte aus und legen Sie sich hin.“ „Wir machen noch eine Computertomografie, könnten Sie die Uhr ablegen?“ …

      Johnnys Kopf schwirrte und er wusste nicht, ob es am Kater lag oder an den Eindrücken, die er kaum zu fassen bekam, weil er in der riesigen Klinik und dem Gewirr aus fremden Stimmen inzwischen jegliche Orientierung verloren hatte. Gut zwei Stunden und etliche Untersuchungen später – er lag in einem Krankenbett und man hatte ihm inzwischen eine Infusion gelegt – fragte ihn jemand, der sich noch nicht einmal richtig vorgestellt hatte, schlicht: „Was haben Sie in den letzten achtundvierzig Stunden gemacht?“

      Johnny klopfte mit zitternden Fingern auf die Tischplatte in dem Einzelzimmer, das man ihm kurzerhand zugewiesen hatte. „Wie ich bereits Ihrem Kollegen und dessen Kollegin gesagt habe, bin ich von einer Geschäftsreise zurückgekommen.“

      „Wo arbeiten Sie?“

      „Im Personalmanagement. Bei Sanacur, einem Pharmaunternehmen.“

      „Die Reise war innerhalb Europas?“

      „Spanien.“

      Sein Gegenüber schien zu überlegen. „Und haben Sie am letzten Abend etwas getrunken?“

      Johnny nickte beiläufig.

      „Was genau?“

      Er seufzte ungeduldig. „Meine Güte, ein paar Drinks eben. Als ob ich mich an jeden einzeln erinnern würde. Wir waren in einer Bar, also … erst Bier, dann ein paar Mojitos oder Caipirinhas und so weiter


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