Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

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Blindlings ins Glück - Ria Hellichten


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er, den letzten Abend noch einmal in Gedanken Revue passieren zu lassen. „Außer –“ Er hielt inne und spürte, wie Wirbel für Wirbel ein eiskalter Schauer seinen Rücken hinunterlief. „Ich war später noch mit einer Frau auf meinem Hotelzimmer, die hatte eine Flasche dabei. Aber fragen Sie mich nicht, was das für ein Zeug war. Korn oder so was.“

      Es folgte eine schwere, unheilvolle Stille, die nur von dem Geräusch durchbrochen wurde, das Johnnys nervös trippelnde Finger auf der billigen Pressspanplatte des Tisches verursachten. Es machte ihn wahnsinnig, dass der Arzt schwieg und er ihm nicht einmal ins Gesicht sehen konnte. „Jetzt sagen Sie doch was: Ist das irgendwie wichtig? Und wann bekomme ich endlich die Kopfschmerztablette, die mir die Schwester schon vor einer halben Stunde bringen wollte? Sonst lassen Sie mich wenigstens wieder nach Hause.“

      Statt einer Antwort hörte Johnny leise Pieptöne, dann sprach der gesichtslose Arzt eilige Worte – größtenteils unverständlichen Fachjargon – in ein Telefon. „Herr Baumann“, begann er kurz darauf. „Bleiben Sie jetzt bitte ruhig und hören Sie mir gut zu.“

      Schlagartig war Johnny hellwach. Er ballte die Finger zur Faust und versuchte sich ganz auf die Worte des anderen Mannes zu konzentrieren. Die Zeit schien für einen kurzen Augenblick stillzustehen. Er konnte seinen eigenen Herzschlag hören und spürte, wie das Blut durch seine Adern rauschte.

      „Es ist denkbar, dass Sie eine Methanolvergiftung haben. Wir müssen noch auf einige Testergebnisse warten, aber ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen.“

      Johnny begann, unmerklich zu zittern. Er konnte nicht sagen, ob es an den Kopfschmerzen, an der Erschöpfung oder am Schock lag. Und bevor er eine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, fuhr der Arzt erbarmungslos fort.

      „Wenn Sie vor über achtundvierzig Stunden gepanschten Schnaps getrunken haben, sind die Schäden eventuell nicht mehr reversibel. Ihr Sehnerv ist womöglich geschädigt und es kann sein, dass Sie Ihr Augenlicht selbst bei sofortigem Therapiebeginn nicht zurückgewinnen. Mit Glück haben Ihre Nieren keinen Schaden davongetragen, das werden die Blutwerte zeigen. Wir verlegen Sie gleich in die Klinik für innere Medizin IV, die auf Nierenleiden spezialisiert ist. Dort kann der zuständige Nephrologe über das weitere Vorgehen entscheiden, aber wahrscheinlich ist eine Blutwäsche nötig, um weitere Spätfolgen zu vermeiden.“

      Das Zittern wurde stärker und Johnny verbarg sein Gesicht in einer Handfläche. Er spürte, dass der Mann ihm sacht seine Finger auf die Schulter legte, aber die Berührung war so kalt wie das nach Sterilium und Linoleum stinkende Zimmer. „Ein Glas mehr von dem Schnaps und Sie wären jetzt vielleicht nicht mehr hier.“

      Johnnys Brustkorb schnürte sich zu. Gleichzeitig schoss das Adrenalin schwindelerregend durch seinen Körper. Er schnappte nach Luft und schüttelte fassungslos den Kopf. Sein bisheriges Leben war zu Ende. Alles rauschte in einem irrsinnigen Kopfkino an ihm vorbei: der Erfolg, das Geld, die Frauen. Ja, er konnte sogar bildhaft vor sich sehen, wie seine Mutter entsetzt die Hände vor das Gesicht schlug und ihre effektvollen Krokodilstränen schluchzte. Ihr Junge, ihr einziges Kind, war ein Krüppel.

      In diesem Augenblick wurde die Tür aufgeworfen, Jemand kam eilig herein, vermutlich eine Schwester, und nestelte an seinem Infusionsständer herum.

      „Herr Baumann, ich bringe Sie zur Hämodialyse auf die nephrologische Station“, sagte sie.

      Johnny setzte sich halb auf. „Kann ich danach wieder nach Hause?“

      Die Schwester drückte ihn sanft zurück ins Kissen.

      „Vorerst müssen wir Sie stationär aufnehmen“, entgegnete der Arzt. „Es kann einige Tage dauern, bis alle Behandlungen abgeschlossen sind.“

      Johnny schnaubte spöttisch und spürte, wie ihm gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. „Machen Sie von mir aus diese Dialyse oder was auch immer. Und dann will ich einfach nur noch schlafen.“

      Die Verlegung und alle folgenden Prozeduren ließ Johnny mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Er spürte den kalten Nebel auf seiner Haut und eine übelkeiterregende Alkoholwolke stieg ihm in die Nase, als die Schwester ihm Hals und Brustkorb desinfizierte. Der Nephrologe erklärte ihm, dass man eine örtliche Betäubung für einen zentralen Venenkatheter setzen müsste, um sein Blut möglichst schnell von den schädlichen Stoffen zu reinigen. Johnny nickte stumm. Er fragte nichts mehr und widersprach auch nicht. Er wollte endlich allein sein, um irgendwie zu begreifen, was geschehen war. Einen Schritt nach dem anderen, sagte er sich, obwohl dieser Gedanke ihn kaum beruhigen konnte. Du musst die Zwischenziele im Blick haben – wie beim Projektmanagement. Stell dir vor, es ginge um Geld und nicht etwa um dein eigenes Leben. Er stieß ein höhnisches Lachen aus.

      Die Stunden zogen an ihm vorbei, ohne dass er genau verstand, was passierte. Johnny konzentrierte sich nur darauf, ein- und wieder auszuatmen und dabei möglichst nicht nachzudenken.

      Nach der Blutwäsche fühlte er sich unendlich müde. Der Arzt fragte ihn, ob er irgendjemanden für ihn anrufen sollte, und Johnny verneinte vehement. Als der Arzt gegangen war, kam der Schlaf endlich tief und erlösend über ihn.

      Am nächsten Morgen fragte eine Schwester wieder, ob er jemanden anrufen wolle. Johnny rieb sich stöhnend die Schläfen, ohne die Augen zu öffnen. „In meinem Portemonnaie – ich glaube, es liegt auf dem Nachttisch – sind Visitenkarten. Können Sie bitte meinen Arbeitgeber, Sanacur, benachrichtigen und ihm mitteilen, wie lange ich hier noch bleiben muss?“

      „Natürlich.“ Er hörte, wie die Schwester an seiner Geldbörse herumnestelte. „Gibt es … keine Angehörigen, die ich informieren soll?“, fragte sie.

      Johnny schüttelte den Kopf. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. „Doch: Rufen Sie meine Mutter an. Sie muss den Kater füttern. Die Katze ist alleine in meiner Wohnung.“

      „Haben Sie die Nummer für mich?“

      Johnny überlegte. „0 … 7 … 61 … “ Er schluckte schwer. Verdammter Mist! Konnte es sein, dass er sich nicht einmal an die Nummer seiner Mutter erinnerte, die sich seit Jahrzehnten nicht geändert hatte und nur aus vier Ziffern bestand? „Sehen Sie in meinem Handy nach. Der Code ist mein Geburtsdatum.“ Zumindest das wusste er noch, auch wenn ihm die genaue Zahlenfolge nicht einfallen wollte.

      Keine halbe Stunde später stand seine Mutter im Zimmer. Sie trug schon seit über dreißig Jahren das gleiche Parfum – Opium von Yves Saint Laurent –, sodass er instinktiv aus seinem Dämmerschlaf hochschreckte, sobald sie durch die Tür trat. Sie stellte etwas auf dem Boden ab, vermutlich hatte sie ihm Kleidung mitgebracht, dann umfasste sie sein Gesicht mit beiden Händen und sagte mit leiser, zitternder Stimme: „Oh, mein Junge. Du siehst schrecklich aus. Was hast du nur angestellt?“

      Eine Weile saß sie stumm neben seinem Bett und er erkannte nur an ihrem verhaltenen Schluchzen und der aufdringlichen Duftwolke, dass sie noch da war. Seine Zunge fühlte sich plötzlich klebrig und trocken an und der aufdringlich-süße Duft verstärkte das Gefühl noch. Johnny wusste, dass auf dem Nachtschrank ein Wasserglas stand, aber er wollte sich nicht die Blöße geben, sich vor seiner Mutter zu bekleckern. Es war schon demütigend genug, dass sie jetzt hier war und ihn bemitleidete wie ein kleines Kind. Außerdem hatte man ihn wieder an eine Infusion gehängt, sodass sein Körper so oder so mit der nötigen Flüssigkeit versorgt wurde.

      „Ich werde jetzt deinen Vater anrufen“, durchbrach Violetta plötzlich das Schweigen, dann hörte er, wie sie in ihrer Handtasche kramte.

      Johnny erstarrte. Er hatte fast genauso lange nicht mit seinem Vater gesprochen wie sie. Waren es fünf Jahre oder schon zehn? Ganz sicher wollte er nicht, dass er ihn so sehen konnte. „Das wirst du nicht“, erwiderte er kühl.

      Sie schnalzte mit der Zunge. „Junge, sei nicht albern! Er muss doch Bescheid wissen. Bis er von München hier ist, dauert es eine Weile.“

      „Ich will ihn nicht sehen.“ Johnny sprach die Worte so hart und entschlossen aus, wie er konnte. Falls sie widersprach, müsste er sich die Infusionsnadel aus dem Arm reißen, aufstehen und sie persönlich aus dem Zimmer begleiten.

      Violetta


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