Blindlings ins Glück. Ria Hellichten

Читать онлайн книгу.

Blindlings ins Glück - Ria Hellichten


Скачать книгу
hatten wir ja schon gesprochen. Die Bibliografie scheint mir recht ordentlich zu sein …“ Er blätterte durch die Unterlagen. „Aber jetzt kommen wir mal auf den Punkt: Ich sehe hier keine Eigenleistung.“

      Tabea blinzelte und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihr gerade das Herz in die Hose gerutscht war. „Ich verstehe nicht ganz –“

      Kohlmeis begutachtete sie von oben bis unten und schenkte ihr dann ein Lächeln, das irgendwie väterlich wirkte. „Frau Bach, ich mag Sie ja gern. Sie sind immer so fleißig. Und Ihr Engagement für … für …“ Er stockte, zog seine Brille von der Nase und putzte sie am Pullunder ab. „Ihr generelles Engagement in allen Ehren, aber Sie haben nicht mehr allzu viel Zeit bis zum Abgabetermin und wenn Sie bis dahin nicht mehr vorzuweisen haben, muss ich Ihnen leider sagen, dass das nicht genügen wird.“

      Tabea spürte, wie ihr ein kalter Schauer über den Rücken lief. War sie hier im falschen Film? Sie hatte ungefähr jede deutsch- und englischsprachige Publikation gewälzt, die es auf dem Gebiet gab, nicht wenige davon sogar zweimal. Was hatte Kohlmeis, der olle Vogel, bloß für ein Problem?

      „Wir hatten Ihre Fragestellung besprochen“, sagte er jetzt etwas energischer. „Sie sollten eine Korrelation zwischen den konkreten Führungsstrategien des leitenden Personals und der Motivation und Arbeitsleistung der Mitarbeiter herstellen.“

      „Genau das habe ich ja vor“, warf Tabea ein.

      „Nein.“ Der Professor nahm die Brille ab, legte sie auf den Tisch und massierte seine buschigen Augenbrauen. „Sie sind da leider auf dem Holzweg.“

      Tabea schüttelte wie in Trance den Kopf und holte Luft, um etwas zu erwidern, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, was da gerade passierte. Aber in diesem Moment hob Kohlmeis mahnend eine Hand.

      „Die persönliche Komponente fehlt gänzlich. Dass die Psychologie eine Wissenschaft ist, die sich mit dem Seelenleben des Menschen befasst, brauche ich Ihnen wohl nicht zu erklären. Dieser Herr …“ Er blätterte hektisch durch die Unterlagen. „Dieser Herr …“

      „Baumann“, bemerkte sie trocken. „Johannes Baumann, der Leiter der Personalabteilung. Meinen Sie den?“

      „Genau. Also, dieser Herr Baumann, was ist das für ein Mensch?“

      Kohlmeis hatte seine Brille wieder aufgesetzt und senkte den Kopf ein wenig, um sie über die dicken Gläser hinweg anzusehen. „Sie haben den armen Mann ja förmlich als Ungeheuer dargestellt.“ Er schmunzelte. „Ein Chef, wie er im Buche steht. Aber warum, frage ich mich? Wie tickt dieser Mann ganz persönlich? Und wo könnte man ansetzen, um ihn zu wertorientierter Führung zu veranlassen? Was sind Ihre Schlüsse, Frau Bach, und was ist Ihr Erkenntnisgewinn?“

      Ihr Erkenntnisgewinn? Wut stieg in Tabea auf und brannte in ihrer Kehle. Oh, sie hatte in diesen vier Wochen im letzten Herbst ganz gewiss eine Erkenntnis gewonnen: dass Johannes Baumann ein Mensch war, dem sie nie wieder begegnen wollte. Dabei konnte sie sich nicht einmal erinnern, ob er mehr als ein paar Worte mit ihr gewechselt hatte. Wahrscheinlich nicht, denn er war sehr beschäftigt damit gewesen, seine Mitarbeiter in Schach zu halten – allen voran die arme Barbara, die von ihm fast im Minutentakt getriezt worden war. Babsi, wo kommt das Chaos auf meinem Schreibtisch schon wieder her? Das gehört in die Ablage! Ach, heute mal im Rollkragenpullover – wollen Sie sich für die Außendienststelle in Sibirien bewerben? Und was sollen diese Hieroglyphen in meinem Terminkalender heißen, habe ich etwa um zehn ein Treffen mit dem ägyptischen Museum?

      Wie dieser Mensch ganz persönlich tickte? Nein danke, das interessierte sie nicht die Bohne.

      Prof. Dr. Kohlmeis ordnete die Blätter ihrer Arbeit fein säuberlich auf dem Tisch, ehe er sie beiseite legte.

      Allmählich schien er Mitleid mit ihr zu haben, denn sein Blick wurde sanfter. „Nun gut. Mein Vorschlag wäre, dass Sie einen Persönlichkeitstest durchführen, um die Verhaltensmuster dieses Herrn Baumann detaillierter zu beschreiben. Ich dachte zum Beispiel an das FPI. Sie wissen, was ich meine?“

      Tatsächlich erinnerte sich Tabea an das Freiburger Persönlichkeitsinventar, von dem sie das erste Mal in einer Überblicksvorlesung zu Beginn ihres Studiums gehört hatte. Das inzwischen etwas veraltete Verfahren funktionierte mit einem Katalog aus 138 Fragen. Das waren 138 Fragen mehr, als sie Johannes Baumann jemals stellen wollte. „Vielen Dank für die Anregung, Prof. Dr. Kohlmeis. Ich bezweifle allerdings, dass Herr Baumann für ein Interview oder gar einen psychologischen Test zur Verfügung stehen wird.“

      Kohlmeis streckte die offenen Handflächen von sich und zuckte mit den Schultern. „Mit Verlaub, Frau Bach, das ist Ihr Problem.“ Er zog eine Augenbraue hoch, ließ seinen Blick noch einmal an ihr hinuntergleiten und ergänzte dann: „Gehen Sie nicht so viel auf Demonstrationen und dergleichen. Setzen Sie sich lieber an Ihren Schreibtisch. Das neue Kapitel können Sie mir ja per E-Mail zukommen lassen. So, jetzt muss ich los, bevor die Mensa schließt.“

      Er erhob sich schwerfällig aus seinem Stuhl, drückte kurz und kräftig ihre Hand und bedeutete ihr mit einer Geste, das Zimmer zu verlassen.

      Tabea wollte erwidern, dass sie nicht auf einer Demonstration gewesen war – zumindest nicht in den letzten zwei Wochen –, aber der Professor war bereits vorausgegangen und wackelte ungeduldig mit dem Büroschlüssel, den er in seiner Rechten hielt.

      So freundlich, wie es ihr Stolz zuließ, murmelte sie ein Dankeschön, nickte ihm zu und lief den schmalen Korridor entlang, ohne sich noch einmal umzudrehen. Ein psychologischer Test mit dem größten Misanthropen des Jahrhunderts: Das konnte ja nur schiefgehen.

      JOHNNY

      Violetta legte ihre Finger fest um Johnnys Arm. Die langen Nägel kratzten auf seiner Haut. Trotzdem wartete er stoisch, bis sich endlich die Tür des Fahrstuhls schloss. Eine dichte Wolke aus Parfum und Nikotin erfüllte die enge Kabine und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Johnny spürte, wie der Kragen ihrer Lederjacke seinen Arm streifte. Er selbst schwitzte bei den hochsommerlichen Temperaturen, die in diesem Juni herrschten, obwohl er nur ein T-Shirt trug.

      „Mutter“, versuchte er es noch einmal. „Ich hatte dich gebeten, mich nach Hause zu bringen.“

      „Ich weiß.“ Sie stieß einen langen Seufzer aus. „Aber ist es nicht besser, wenn du erst mal mit zu mir kommst?“ Sie ließ seinen Arm nicht los. „Ich kümmere mich doch jetzt um dich. Ich kann einfach nicht glauben, dass mein armer Junge –“

      „Sicher ist dir nicht entgangen, dass ich inzwischen ein erwachsener Mann bin.“

      Darauf antwortete Violetta nur mit einem unterdrückten Schluchzen und Johnny war erleichtert, als sich die Fahrstuhltür surrend wieder öffnete.

      Seine Mutter ging energisch voran und führte ihn in ihre Dreizimmerwohnung mit Blick über die Stadtteile Haslach und Weingarten, auch bekannt als Ha-Wei oder Hawaii. Ein knarzendes Geräusch zeigte Johnny, dass sie gerade einen ihrer Louis-XVI-Stühle vom Esstisch zog, und schon drückte sie ihn beherzt auf das weiche Polster. „Ich koche einen Kaffee. Du möchtest doch einen Kaffee?“, fragte sie mit zittriger Stimme, während sie den Glasschrank öffnete, in dem ihr Gin stand. Das Scharnier quietschte schon seit Ewigkeiten.

      „Ich kann hören, dass du an der Vitrine bist. Schenk mir bitte auch einen ein.“ Erschöpft ließ Johnny den Kopf gegen die Lehne sacken. „Ach, was soll’s, gib mir einfach die Flasche rüber!“

      Violetta seufzte. „Auf keinen Fall. Ich glaube nicht, dass es in deiner momentanen Verfassung –“

      „Mutter, ich bin nicht sterbenskrank.“

      Jetzt stieß sie ein empörtes Schnauben aus. „Ha! Du tust ja so, als wäre das gar nichts … Ich kenne dich, mein Junge, du brauchst dich nicht zu verstellen. Lass es einfach raus.“

      Johnny kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf. Wenn seine Mutter so weitermachte, würden sich bald die Kopfschmerzen wieder melden. Er spürte schon ein unangenehmes Pochen hinter seinen Schläfen. Wieso, verdammt noch mal, hatte er sich kein Taxi gerufen? Konnte es sein,


Скачать книгу