TodesGrant. Wilfried Oschischnig

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TodesGrant - Wilfried Oschischnig


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Blätterwirbel auf den Winterschlaf vor.

      Stinknormal, alles schrecklich stinknormal.

      Nur wer mit seinem Blick von der anderen Gehsteigseite das Gebäude hochschweift, entdeckt rechts über sich ein grünes Stacheldrahtgitter. Und wäre er ein Vogel, könnte er dort oben über den Gefängnishof fliegen. Und dann würde er Matthias Frerk Gradoneg erspähen, wie dieser gerade im Gefängnishof steht und von drei Justizwachebeamten umzingelt ist; wie ihm gerade vor den vielen fremden Gesichtern hinter den vergitterten Fenstern angst und bange ist. Der Boden unter ihm wankt, und wie sein verzweifelter Blick zum Himmel flüchtet. Und nun erschrickt er: So klein ist der Himmel plötzlich geworden, nur noch eine graue Plastikplane schwebt da über ihm.

      Zwei Justizwachebeamte standen direkt neben Gradoneg, ein dritter marschierte etwas entfernt mit einem surrenden Funkgerät den Hof ab. Redete und lauschte und nahm dann das Funkgerät vom Ohr: „Dauert noch ein paar Minuten“, informierte er seine beiden Kollegen, die Gradoneg bewachten. „Wissen wieder einmal nicht, wo sie noch ein Bett unterbringen können. Lauter obergescheite Studierte – und haben keine Ahnung. Eventuell geben sie ihn zu den Pädophilen in den Sicherheitstrakt. Oder wir packen ihn wieder ein und liefern ihn gleich zu den geistig Abnormen auf den Mittersteig. Das entscheiden sie gerade mit dem Richter.“

      Einer von Gradonegs Bewachern rief genervt zurück: „Die sollen sich gefälligst beeilen! Wär eh besser, wenn sie ihn auf den Mittersteig liefern. Rein in den Transporter und ab damit. Mir reicht schon das Theater mit dem Amokläufer. Wenn jetzt noch ein Kannibale einsitzt, stolpern wir draußen auf der Wickenburggasse nur noch über Journalisten und Fernsehkameras.“

      So unverblümt unterhielten sie sich in Gradonegs Gegenwart. Als wäre er bloß ein seelenloser Wasser­hydrant, der zufällig neben ihnen stand. Seltsamerweise störte das Gradoneg nicht. Er war einfach zu erschöpft, um wieder seine Unschuld zu beteuern.

      „Fällt dir was auf?“, fragte einer der Justizwachebeamten neben Gradoneg seinen Kollegen, deutete dabei mit einem Zeigefinger auf die Gesichter hinter den vergitterten Fenstern. „Wie ruhig sie plötzlich heute alle sind. Ist wie bei der Sonnenfinsternis damals … Die spüren, dass hier was nicht stimmt. Sogar die Schwarzen schmeißen ihr Essen nicht aus den Fenstern.“

      „Jetzt sagst du auch schon ‚Schwarze‘“, meinte der andere Kollege beleidigt. „Dabei warst du immer einer von den Vernünftigen hier.“

      „Steht so in der neuen Dienstanweisung, hast du die nicht gelesen? Ist Vorschrift, im ganzen Gebäude. Sogar in der Angestelltenkantine. Bei diesem Thema sind sie extrem sensibel.“

      „Die können mir mit ihren ständigen Dienstanweisungen den Buckel runterrutschen. Ich lass mir doch nicht den Mund verbieten. Für mich bleibt ein Neger ein Neger und damit hat sich’s. So wie bei den Zigeu­nern und den Tschuschen …“

      „Stimmt eh... Ich will halt in der Arbeit meinen Frieden, das ist alles. Und außerdem hab ich dir von der Sonnenfinsternis erzählt … Ich wollte ja nur sagen, dass damals bei der Sonnenfinsternis auch alle so ruhig waren.“

      „Da muss ich auf Urlaub gewesen sein, wann war das?“

      „So um die Jahrtausendwende, im Sommer … Das weiß ich noch, weil ich mit jemandem gewettet hab, ob man dazu ‚komplette Sonnenfinsternis‘ oder ‚totale Sonnenfinsternis‘ sagt. Alle sind an den Fenstern gestanden und haben ihre Pappn gehalten. Eigentlich traurig: Ich bin seit dreißig Jahren da und hab nur zwei ruhige Tage in der Arbeit erlebt. Eine Sonnenfinsternis und einen Kannibalen.“

      Währenddessen lief ihr dritter Kollege mit dem Funkgerät weiter eifrig den Hof ab. Stöhnte und seufzte zwischendurch, weil ihm wohl das surrende Gerät nichts Neues verriet. Schließlich blieb er mit einem zufriedenen Grinser stehen:

      „Er kommt auf die Krankenstation.“

      „Der ist doch pumperlgsund“, rief sein Kollege empört zurück. „Die schinden nur Zeit und schicken uns im Kreis.“

      Der Justizwachebeamte mit dem Funkgerät war dennoch zufrieden.

      „Ist für ein ‚Zuckerl‘ wie bei den Schneescheißern. Eigentlich eh logisch, dass man bei einem Menschenfresser auch nachschaut.“

      „Gut, ein ‚Zuckerl‘ ist was anderes“, schienen sich seine beiden Kollegen ebenfalls zu freuen. „Na, dann ab mit uns“, packten sie Gradoneg an den Schultern und führten ihn vom Hof fort.

      „Die ‚Schneescheißer‘ sind übrigens auch in der neuen Dienstanweisung verboten“, meinte ein Justizbeamter, „zu denen darf man höchstens noch ‚Drogendealer‘ sagen.“

      ***

      Gradoneg traute seinen Augen nicht.

      Kein Fremder hätte in diesem Untersuchungszimmer seinen Augen getraut.

      Der Raum war von oben bis unten gekachelt. Mit unzähligen quadratischen Fliesen übersät, die vielleicht weiß oder grau sein mochten, im gelben Neonlicht aber wie mit Eiter beschmiert wirkten.

      „Nein! Ich mach das nicht!“, wehrte sich Gradoneg. „Ausgeschlossen! Nein! Das kommt nicht infrage! Ich will mit meinem Anwalt sprechen, sofort!“

      Natürlich hatte er ja keinen Anwalt, diesen Spruch kannte er nur aus Filmen.

      Wie auf einen Geist deutete er auf den Toilettenstuhl in der Mitte des Raumes. Ein altes Ding aus der Urzeit der Medizin mit einer zerkratzten Toilettenbrille und einer Blechschüssel darunter. An den Seitenlehnen hingen breite Bänder, mit denen man jemanden fixieren konnte.

      „Das könnt ihr mit mir nicht machen! Schluss jetzt mit diesem Wahnsinn! Ich dreh durch, wenn nicht sofort mein Anwalt kommt!“, schrie Gradoneg den Krankenpfleger an, der ihn in dieses Untersuchungszimmer gebracht hatte.

      „Stellen Sie sich bitte nicht so an … Ihnen passiert nichts, versprochen“, versuchte ihn der Krankenpfleger zu beruhigen. „Ist völlig harmlos … ein harmloses Abführmittel, und schneller vorbei, als man denkt. Einmal schlucken, ein Glas Wasser … mehr nicht“, breitete der Krankenpfleger seine Handfläche aus und zeigte Gradoneg eine centgroße Tablette. Schwarz und oval, ein bisschen erinnerte diese an einen vertrockneten Käfer.

      „Weder Nebenwirkungen noch sonst was. Klar, ich verstehe Sie sehr gut … Für Sie ist das hier ein Schock, aber für uns ist es der Alltag. Ich mach das jetzt seit fünf Jahren, und glauben Sie mir: Noch nie ist bei einer Stuhlprobe etwas passiert. Nicht einmal ein Kollaps.“

      „Ich rühr dieses Scheißzeug nicht an, kapiert!“, brüllte Gradoneg aus Leibeskräften.

      „Geh bitte … ich mach ja nur meinen Job.“

      „Was wollt ihr denn noch von mir?! Reicht euch nicht die Freiheitsberaubung, wollt ihr mich jetzt auch noch umbringen?! Bin ich vielleicht so ein aus­tralisches Krokodil, das ihr aufschlitzt, weil’s angeblich einen Fischer gefressen hat! Und … und“, bemerkte Gradoneg die Kamera an der Wand, schnappte empört nach Luft, „… und ihr schaut mir dabei auch noch zu?! Ihr Schweine!“

      Seltsamerweise ließ sich der Pfleger von Gradoneg nicht aus der Ruhe bringen.

      „Aber, wir schauen Ihnen doch nicht zu, wirklich. Gibt bessere Programme im Fernsehen als eine Kloschüssel. Ist eine reine Sicherheitsvorkehrung, mehr nicht. Diese Kamera ist nur zu Ihrem eigenen Schutz.“

      Der Pfleger ging zur Wand, verschob den Winkel der Kamera, sodass die Linse nach oben zeigte. „Sehen Sie, mehr als Ihr Kopf wird da nicht drauf sein. Außerdem haben wir gerade Mittagspause … beim Essen schaut sowieso niemand hin.“

      „Nein! Ich will hier raus, sofort!“, schüttelte Gradoneg den Kopf. „Irgendein Recht werde ich ja noch haben, oder haben uns über Nacht die Russen überfallen?!“

      „Wie Sie meinen …“, steckte der Pfleger die Tablette wieder ein, streifte seine Plastikhandschuhe ab. „Selbstverständlich respektieren wir Ihre Rechte, wo wären wir denn sonst … Und wenn Sie mich fragen, ich glaub Ihnen. Ja, ich glaub Ihnen. So viel Menschenkenntnis hab ich. Nur ein Jahr


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