Die Tote von der Maiwoche. Alida Leimbach

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Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach


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Else Leinweber beobachtete oft durchs Küchenfenster, wie ihre Nachbarin mit einem Paket unterm Arm das Haus verließ. Kein Wunder, dass die schönen alten Geschäfte in Osnabrück langsam ausstarben!

      Die alte Dame steuerte auf die Küche zu. Links davon war das Schlafzimmer, daneben das Bad und das Gäste-WC, und rechts vom Eingang das Wohnzimmer.

      In der Küche lief das Radio, ziemlich laut sogar, amerikanische Popmusik, doch es war niemand zu sehen. Auf dem Tisch standen Essensreste, ein Pappteller mit den Resten einer Currywurst, auf dem die bräunliche Soße bereits unappetitlich verdickt war, und labbrige, vollgesogene Pommes frites. Daneben lag eine eingedrückte Büchse Cola.

      Die stechenden Ausdünstungen kamen aus dem Wohnzimmer. Bereits an der Türschwelle blieb Else Leinweber stehen und schlug sich entsetzt die Hand vor den Mund.

      Da war sie! Jessica Wagner lag auf dem Bauch in einer Blutlache. Sie musste sich eingenässt und eingekotet haben.

      Die alte Dame griff sich an die Brust. Ein plötzlich einsetzendes heftiges Schwindelgefühl erfasste sie und wollte sie zu Boden reißen. Gerade rechtzeitig konnte sie sich an einer Kommode abstützen. Der Schweiß trat ihr aus allen Poren und ihr Herz begann zu stechen und zu rasen. Um Hilfe schreiend schwankte sie aus der Wohnung ins Treppenhaus. Später hätte sie nicht sagen können, wie sie ihre arthritischen Gelenke plötzlich so schnell und schmerzlos hatte bewegen können. Sie spürte ihre Beine nicht mehr, als sie die Holztreppe hinaufpolterte, ihre Wohnungstür aufschloss und dann hastig hinter sich zuzog, um sie doppelt zu verriegeln. Erschöpft riss sie das Telefon an sich und wählte die 110.

      *

      »Osna 4,23, Meier«, knödelte das Funkgerät im Rettungswagen der Johanniter. »Ihr Standort?«

      »Knappheide hier, Lotter Straße, Höhe Emma.«

      »Osna 4,23, Meier, RTW zum Lieneschweg, leblose Person, Notarzt rückt nach.«

      Der Fahrer des Rettungswagens vergewisserte sich, die Hausnummer richtig verstanden zu haben und brummelte dann: »Verstanden.« Sofort schaltete er das Martinshorn ein und gab Gas. Glücklicherweise verhielten sich die Autofahrer heute vorbildlich, rechts und links wichen die Fahrzeuge aus, es war ohnehin noch nicht viel los, sodass er in weniger als fünf Minuten das Ziel am Lieneschweg erreichte.

      Er traf fast gleichzeitig mit dem Notarztwagen und zwei Streifenwagen am Unglücksort ein.

      Aus dem Haus kam eine kleine, ältere Frau mit blauen Haaren, gräulicher Gesichtsfarbe und irrem Blick gelaufen. »Kommen Sie!«, schrie sie. »Kommen Sie schnell, die Frau Wagner ist tot. Die Frau Wagner von unten! Eine ganz junge Frau! Tot! Alles voller Blut! Sie wurde ermordet! Erstochen! Auf dem Teppich! Alles voller Blut, ganz viel Blut!«, schrie sie panisch.

      Ein junger Polizeibeamter kümmerte sich um sie und forderte über Funk einen Notfallseelsorger an.

      Der Sanitäter eilte im Laufschritt mit seinem Notfallkoffer an ihnen vorbei, gefolgt von zwei Kollegen und dem Notarzt. »Wo müssen wir hin?«

      »Erdgeschoss, links, die Tür steht offen«, rief jemand. Dort angekommen, reichten wenige Sekunden, um festzustellen, dass es nichts mehr zu tun gab. Die Leiche wies mehrere Stichwunden am Rücken auf. Sie war schon kalt. Als der Sanitäter die Bluse der jungen Frau hochzog, waren erste Totenflecken sichtbar. Er nickte dem Notarzt zu, der trotzdem ordnungsgemäß den Puls nahm und sein Stethoskop herauszog. »Das ist was für K1«, sagte er mit hochrotem Kopf. Über Funk forderte er die Kriminalpolizei an.

      *

      Das rot-weiß gestreifte Flatterband der Polizei störte die Idylle am Lieneschweg unweit der Musikschule, die früher mal eine Frauenklinik gewesen war. Vor einem charmanten Zweifamilienhaus mit Erkern, Giebeln und Mansardendach standen drei Polizeiwagen. Autofahrer fuhren noch langsamer als die vorgeschriebenen 30 Kilometer pro Stunde und Fußgänger blieben stehen, um zu sehen, was da los war.

      Ein uniformierter Polizeibeamter passte am Gartentor auf, dass kein Unbefugter ins Haus gelangte.

      Birthe Schöndorf von der Osnabrücker Mordkommission erreichte den Tatort am Samstagvormittag, etwa eine halbe Stunde nach den Kollegen der Schutzpolizei.

      »Ich übernehme jetzt die Ermittlungsleitung«, rief die junge, blonde Frau den Beamten im Eingangsbereich zu. »Gibt es Zeugen? Haben Sie bereits Bürger aus der Nachbarschaft befragt?«

      »Von den Anwohnern der Nachbarhäuser hat offenbar niemand etwas mitbekommen. Kollegen sind unterwegs, um in den Häusern gegenüber nachzufragen. Am meisten kann uns wohl die ältere Dame sagen, die in der oberen Etage wohnt, aber die steht unter Schock, befindet sich gerade im RTW und ist zur Stunde nicht vernehmungsfähig.«

      Die hochgewachsene Mittdreißigerin begrüßte ihre Kollegen von der Tatortgruppe. Einer war damit beschäftigt, mit Pinsel und Ruß an der Haustür Spuren zu nehmen. Ein anderer tütete gerade mithilfe einer Pinzette ein dunkles Haar in einen durchsichtigen Beutel ein.

      »Gibt es Anzeichen für einen Einbruch?«

      »Nein. Das Opfer muss dem Täter die Tür geöffnet haben.«

      Birthe Schöndorf betrat die Wohnung und begrüßte ihren Kollegen Daniel Brunner, der gerade aus einem Zimmer rechts von ihr kam. Die Tür stand offen und gab den Blick frei auf einen sonnigen Raum mit heller Einrichtung, allem Anschein nach das Wohnzimmer. »Hey, du bist schon da!«, begrüßte sie ihn.

      »Ich war noch beim Frühstück und bin direkt hergefahren. Bin aber auch erst vor ein paar Minuten eingetroffen. Eigentlich habe ich heute frei.«

      »Ich weiß, ich auch. Ich hatte den Tag anders geplant. Nun ja, was soll’s. Wer ist die Tote?«

      »Jessica Wagner, 25 Jahre alt. Sie wohnt hier.«

      »Alleine?«

      »Offensichtlich, ja. Ist ziemlich groß, die Wohnung, für eine Einzelperson, nicht wahr? Mindestens 100 Quadratmeter, schätze ich mal, und das am teuren Westerberg.«

      »Dann muss sie einen guten Job haben.«

      »Oder reiche Eltern. Nachbarn aus dem Nebenhaus haben erzählt, dass die Wohnung ihrem Vater gehört, Christian Wagner. Er wohnt nicht weit von hier, ein paar Straßen oberhalb, am Richard-Strauss-Weg.« Daniel ging zu der Toten, sicher, um sich ein genaues Bild zu machen. Seit Jahren arbeiteten sie zusammen im Team der Mordkommission K 1. Sie mochte ihn – als Kollegen. Nie hätte sie sich ihn als Partner vorstellen können, obwohl er ihr das Gefühl vermittelte, dass er auf sie stand. Er war ihr zu eitel und hatte zu viele Frauengeschichten. Keine seiner Beziehungen hatte bisher länger gehalten als ein paar Monate.

      »Was ist passiert?« Birthe trat näher an die Leiche heran. Sie nahm den stechenden, metallischen Geruch von Blut wahr und musste eine aufkommende Übelkeit unterdrücken. Es war nicht die erste Leiche aus nächster Nähe, aber es kam eher selten vor, dass sie zu einem Tatort gerufen wurde, an dem das Opfer eine junge Frau war. Es kostete sie etwas Überwindung, genau hinzusehen. Wagners weiße, ärmellose Bluse war blutgetränkt, auch die langen blonden Haare und die helle Hose hatten Spritzer abbekommen. Zwischen den Schulterblättern waren drei Stichverletzungen zu erkennen, etwa vier Zentimeter breit. Die Kollegen der Tatortgruppe hatten bereits die Umrisse der Toten markiert. Eine dicke weiße Linie, die den menschlichen Körper nachzeichnete. Ein Stuhl war umgefallen, ansonsten machte der Raum einen ordentlichen, fast unbewohnten Eindruck.

      Hansmann vom polizeilichen Erkennungsdienst gesellte sich zu ihnen und nickte Birthe freundlich-distanziert zu. Er trug wie die anderen Kollegen von der Spurensicherung einen Plastikoverall, Handschuhe, Überschuhe und Mundschutz. »Der Täter muss gezielt auf sie eingestochen haben, mit enormer Kraft und mit einem großen Messer.«

      »Ist sie an Ort und Stelle gestorben?«, wollte Birthe wissen.

      »Ja. Du siehst es an den Blutspuren, die sich lediglich unmittelbar um die Leiche herum befinden, und an den Totenflecken.« Er schob die Bluse hoch, sodass die Flecken sichtbar wurden.

      »Wie lange ist sie schon tot?«

      »Etwa zehn bis


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