Die Tote von der Maiwoche. Alida Leimbach

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Die Tote von der Maiwoche - Alida Leimbach


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In der Regel kehrt der Täter nicht zurück. Und außerdem wird er es kaum auf sie abgesehen haben. Wir vermuten, es war jemand aus dem Umfeld der jungen Frau.« Birthe hoffte, dass sie mit ihren aufmunternden Worten Recht behielt. Die Realität sah manchmal anders aus.

      »Vielleicht denkt er, ich hätte ihn gesehen. Dann will er mich umbringen, damit ich nicht als Zeugin aussagen kann. Das hat es schon gegeben, habe ich bei ›Aktenzeichen XY … Ungelöst‹ gesehen. Die Täter wollen die Zeugen mundtot machen, damit sie nicht gefasst werden. Ich habe keine ruhige Minute mehr, glauben Sie mir das. Ich wünschte, Sie hätten ihn schon«, klagte die Frau. »Erst wenn er hinter Schloss und Riegel ist, werde ich aufatmen.«

      »Das können Sie auch so, Frau Leinweber. Wir tun unser Bestes, um den Täter bald zu finden.«

      »Und was soll ich bis dahin machen? Ich kann doch nicht in meine Wohnung zurück. Wie soll ich da noch ruhig schlafen, wenn in dem Haus eine Frau umgebracht wurde? Ich bin ganz allein, wissen Sie.«

      »Hm. Vielleicht haben Sie die Möglichkeit, heute Nacht woanders zu schlafen? Haben Sie Angehörige in Osnabrück? Oder Freunde?«

      »Nein, ich habe niemanden. Hier auch nicht. In dem Haus gibt es nur zwei Wohnungen. Die von Jessica unten und meine oben. Mehr Leute wohnen da nicht.«

      Birthe bekam Mitleid mit der alten Frau. Allein in dem großen Haus zu sein, war jetzt sicher nicht angenehm. Birthe hätte nicht mit ihr tauschen wollen, trotzdem musste sie versuchen, zuversichtlich zu klingen und ihr die Angst zu nehmen. Betont munter setzte sie das Gespräch fort. »Wenn Sie wollen, schau ich mir nachher mal Ihre Wohnung an und überprüfe, ob alles einbruchsicher ist. Wenn nicht, kümmere ich mich darum und schicke Kollegen los, die darauf spezialisiert sind und Sie beraten.«

      »Das wäre schon mal was«, sagte die Frau erleichtert. »Ich werde heute Abend eine Schlaftablette nehmen, dann wird es schon gehen. Für alle Fälle lege ich das Telefon neben mein Bett.«

      »Das ist eine gute Idee. Wenn etwas ist, rufen Sie mich ruhig an«, sagte Birthe. »Ich gebe Ihnen meine Karte und schreibe meine Handynummer dazu.« Sie zückte einen Kuli. »Das mache ich sonst nicht, nur für Sie, Frau Leinweber«, sagte Birthe augenzwinkernd, kritzelte ihre Nummer auf die Karte und reichte sie der Frau. Nach einer kurzen Pause sprach sie weiter: »Jessica Wagner ist gestern Abend ausgegangen. Wissen Sie, wohin?«

      Else Leinweber betrachtete Birthes Visitenkarte und strich liebevoll mit dem Finger darüber. Ihr Nagellack war zartrosa, schon leicht abgesplittert. »Nein. Sie geht oft aus, besonders am Wochenende, da achte ich nicht immer drauf.« Sie sprach ganz ruhig. Die Beruhigungsmittel, die ihr verabreicht worden waren, schienen zu wirken. »Ich glaube, sie wollte auf die Maiwoche.«

      »Was wissen Sie über Jessica Wagner? Was hat sie beruflich gemacht?«

      Die alte Dame zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Gesungen hat sie. Ob sie davon leben konnte? Das Haus gehört ihren Eltern. Ich bin nur Mieter der oberen Wohnung. Ich nehme an, ihre Eltern haben auch sonst alles bezahlt. Jessica war ziemlich faul. Ich musste sie ständig ermahnen, sich an den Putzplan im Treppenhaus zu halten.«

      »Wenn die Eltern so reich sind, hätten sie doch eine Reinigungskraft bezahlen können, aber das haben sie nicht?«

      Else Leinweber schüttelte den Kopf. »Das wollten wir nicht. Ich nicht, aus Kostengründen, ich wollte mich nicht beteiligen, und Jessica auch nicht. Sie wollte sich wohl nicht in die Karten schauen lassen.«

      »Hatte sie denn etwas zu verbergen?«

      Leinweber zuckte mit den Schultern. »Manchmal hatte ich den Eindruck. Sie wirkte oft verhuscht, besonders wenn sie Besuch hatte und nicht wollte, dass ich etwas mitbekomme.«

      »Was war das für ein Besuch?«

      »Verschiedene Personen. Sie kamen oft abends, sodass ich nicht genau sehen konnte, wie sie aussahen.«

      »Waren es Männer? Oder Frauen?«

      »Ich glaube, sowohl als auch.«

      »Hatte Frau Wagner bestimmte Gewohnheiten?«

      »Abends ging sie wie gesagt oft weg und morgens schlief sie lange.«

      »Haben Sie am Abend ungewöhnliche Geräusche gehört? Gab es einen Streit?«

      »Ich habe nur mitbekommen, wie jemand unten geläutet hat.«

      Birthe straffte sich. »Wann war das? Um welche Uhrzeit etwa?«

      »Gegen halb zwölf«, sagte Else Leinweber. »Ich war schon im Bett und wollte noch einmal zur Toilette gehen. Da habe ich das Türklingeln unten gehört.«

      »Haben Sie Stimmen im Hausflur gehört? Wissen Sie, ob es ein Mann oder eine Frau war?«

      Stirnrunzelnd versuchte Else sich zu erinnern. »Nein, das kann ich nicht sagen. Ich habe nicht darauf geachtet. Ich habe mich nur geärgert, dass nachts noch jemand Fremdes ins Haus kam. Jessica war oft schlampig mit dem Abschließen hinterher.«

      »Versuchen Sie sich an jede Einzelheit zu erinnern. Jedes Detail zählt. Gab es unten in der Wohnung Streit?«

      Else Leinweber dachte einen Moment nach. »Ich habe Jessica reden gehört. Die hat ja so eine hohe, durchdringende Stimme. Sie hat aufgeregt gesprochen.«

      »Und die andere Person?«

      »Nein, nur die von Jessica. Sie hat viel geredet. Laut und schnell, manchmal schrill.«

      »Sind Sie sicher? Sie haben eine einzelne Frauenstimme gehört?«

      Die alte Dame nickte.

      »Waren es vielleicht zwei Frauenstimmen, die ähnlich klangen?«

      »Nein, ich habe nur Jessica gehört.«

      »Können Sie ausschließen, dass ein Mann in der Wohnung war?«

      »Nein. Vielleicht hat er nichts gesagt oder er hat leise geredet.«

      Birthe verabschiedete sich mit einem warmen Händedruck und ging zum Haus zurück. Ein Notfallseelsorger mit einer neongelben Jacke kam ihr entgegen. »Gut, dass Sie da sind«, rief Birthe ihm zu. »Die Zeugin im RTW könnte Ihre Hilfe gebrauchen.«

      *

      Im Flur ertönte Stimmengewirr. Ein schwarz gekleideter Mann mit Hut redete auf zwei uniformierte Streifenpolizisten ein. »Darf ich fragen, wer Sie sind und was Sie hier wollen?«, erkundigte sich Birthe höflich.

      »Carsten Tobecke, der Manager von Jessica Wagner. Ich möchte wissen, was hier los ist. Was ist mit Jessi? Warum darf ich nicht zu ihr?«

      »Manager? Wie darf ich das verstehen?«

      »Jessi ist Sängerin. Sie singt in meiner Band. Wir waren für 10 Uhr heute Morgen verabredet, wollten zusammen proben. Sie ist nicht aufgetaucht und geht nicht ans Handy. Deswegen dachte ich mir, fahre ich mal direkt hin und schaue nach, was los ist.« Carsten Tobecke hatte einen rundlichen Kopf und einen fast kindlichen Gesichtsausdruck. Birthe schätzte ihn um die 50.

      »Sie kann nicht ans Handy gehen.«

      »Warum?« Entgeistert sah er sie an.

      Erst jetzt fielen Birthe seine fahle Haut und die Schatten unter seinen Augen auf. Seine Nacht war vermutlich kurz gewesen. Er wollte sich an ihr vorbeidrängen, doch sie versperrte ihm den Weg.

      »Moment, nicht so schnell. Hatten Sie gestern Abend einen Auftritt?«

      Tobecke hob das Kinn. »Was wollen Sie von mir? Was ist hier eigentlich los?«

      »Auf der Maiwoche? Mit Jessica Wagner?«

      »Ja, warum?«

      Birthe versuchte in seiner Mimik zu lesen. War er wirklich so ahnungslos, wie er tat? Entweder war er ein guter Schauspieler oder er wusste wirklich nichts. »Jessica Wagner ist tot. Es tut mir leid.«

      Carsten Tobecke starrte sie ungläubig an. Seinen Hut nahm er jetzt ab. Verlegen fuhr er sich durch sein schütteres graues Haar, das


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