Der Tod setzt Segel. Robin Stevens

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Der Tod setzt Segel - Robin Stevens


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aufeinandergestapelte Balkone mit plumpen kleinen Geländern und dahinter zierliche, elegante Minarette. Der Himmel über uns war blau, die Wedel der Palmen waren staubbedeckt, die Luft war erfüllt von Gebeten und Stimmen, die ich nicht verstand, und auf meiner Zunge wogen Gerüche, die ich nicht kannte. Es war wie Hongkong und gleichzeitig vollkommen anders.

      Und allzeit und überall schwebte am Horizont das Wunder der Pyramiden.

      »Stell dir nur vor!«, sagte Daisy zu mir. »Ich hätte nie gedacht, dass sie einfach so da sind. Als würde man auf eine Wiese laufen und neben einer Kuhherde einen Wal entdecken.«

      Das war nicht ganz der Vergleich, den ich verwendet hätte, aber ich stimmte ihr zu. Die Pyramiden waren immer nur Geschichten in meinem Kopf gewesen – wie die Hängenden Gärten von Babylon – und plötzlich befanden sich diese Geschichten im Blickfeld am Ende einer Straße. Es gab mir das Gefühl, als könnte Ägypten unmöglich echt sein.

      Doch dann sah ich, wie Amina – ungeachtet der verzweifelten Rufe von Miss Beauvais – aus unserem fahrenden Wagen kletterte, um für uns bei einem Straßenhändler Zuckerrohr zu kaufen, und begriff, dass mir ein Denkfehler unterlaufen war. Für sie war dies Alltag. Sie brachte uns in den Turf Club (dafür musste Miss Beauvais widerstrebend so tun, als wäre sie die Herrin und Amina ihre Dienerin, da Ägypter in diesem Club nicht geduldet waren), wo wir neben den Tennisplätzen ein Teekränzchen abhielten. Unser weiß gedeckter Tisch wurde von Bäumen beschattet und ächzte unter Obstbaiser, Schokotorten, Gewürzkuchen und Sahnegebäck. Wenn keiner der anderen Gäste hinsah, naschte Amina heimlich vom Kuchen und schüttelte sich vor unterdrücktem Kichern. Miss Beauvais lehnte derweil in ihrem Stuhl und ignorierte uns matt.

      »Ich zwinge sie ziemlich oft dazu«, flüsterte Amina uns zu. »Miss Beauvais verbietet mir nie etwas. Sie hat schon auf meine großen Schwestern aufpassen müssen, daher ist ihr Kampfgeist inzwischen völlig gebrochen. Sie macht nie Ärger!«

      »Aber warum kommst du hier her, wenn man Ägypter hier nicht mag?«, fragte ich und schaute mich um.

      Amina schnaubte verächtlich. »Genau deswegen, Hazel – weil man es mir verbieten will! Immerhin ist das hier mein Zuhause. Warum sollte es denn nur den Europäern gut gehen?«

      Wir besuchten das Ägyptische Museum (die Steinmauern waren herrlich kühl nach der staubigen Hitze von Kairos Straßen) und drückten staunend die Nase gegen die Glasvitrinen, in denen all die Pracht und das Gold Tutanchamuns lagen. An der Maske des jungen Königs konnte ich mich nicht sattsehen, sosehr bemühte ich mich, den wahren Menschen zu erkennen, der er unter all dem Prunk gewesen war. Bei seinem Tod war er nur wenige Jahre älter gewesen als wir. War er gern König gewesen oder war es ihm schwergefallen?

      Daisy war natürlich viel mehr daran interessiert, die Schaukästen mit den ausgepackten Mumien zu besichtigen. Mit vor Neugier weit aufgerissenen Augen stand sie davor. Ich versuchte, mich neben sie zu stellen und zu sehen, was sie sah, doch meine Augen fingen vor Mitleid an zu brennen. Die Mumien wirkten unbekleidet, traurig und klein. Ich fand, man sollte sie nicht einfach so ausstellen, wo jeder sie begaffen konnte.

      »Die Armen!«, sagte ich zu Daisy und Amina.

      »Ach, sei still, Hazel! Das ist Wissenschaft!«, sagte Daisy, doch Amina nickte mir zu.

      »Finde ich auch«, sagte sie. »So wollten sie sicher nicht in Erinnerung bleiben, stimmt’s? Es waren echte Menschen, keine Dekorationen. So zur Schau gestellt zu werden … und jeder glaubt, die Pharaonen würden ihm gehören – es gibt sogar ein paar schrecklich dumme Ausländer, die durch Kairo ziehen und behaupten, sie wären ihre Reinkarnationen.«

      »Schon, aber man erinnert sich an sie!«, erklärte Daisy. »Und darauf kommt es an.«

      »Ach, findest du?«, fragte Amina. »Ich weiß nicht, ob es mir was ausmacht, ob man sich nach meinem Tod an mich erinnert oder nicht.«

      »Du hast keine Ambitionen!«, meinte Daisy. »Selbstverständlich sterbe ich sowieso nie, aber wenn, dann wird man sich an mich erinnern. Keine Frage.«

      Sobald an diesem Abend die Sonne untergegangen war, stibitzte Amina einen Teller mit Kuchen aus dem Esszimmer und schleppte uns hinaus auf das prächtig gekachelte und mit Gold bemalte Dach ihres riesigen Hauses mit Blick auf den Nil. Kichernd ermahnte sie uns, leise zu sein. Aus ihren Taschen holte sie eine Handvoll bunter Raketen, die sie unter meinen fassungslosen Blicken in einer Reihe aufstellte und anzündete. Helle Streifen schossen in den Himmel. Amina und Daisy standen am Rand des Dachs, tanzten und warfen mit vollen Händen runde Kracher in die Höhe, die knisterten und laut knallten. Ich stand da, beobachtete die Lichter vor meinen Augen und das Funkeln des Flusses unter mir.

      Ägypten, fand ich, war wundervoll.

      5

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      Am Abend danach erreichte der Zug meines Vaters und meiner Schwestern Kairo. Wir wollten uns mit ihnen in dem Hotel treffen, in dem sie untergebracht sein würden. Bevor sie ankamen, war ich ehrlich gesagt hin- und hergerissen, gleichzeitig aufgeregt und nervös, sodass mir richtig flau im Magen war. Sie bedeuteten für mich Heimat, doch das letzte Mal, als ich zu Hause gewesen war, das letzte Mal, dass ich sie gesehen hatte, war in Hongkong gewesen, unter Umständen, vor denen es mir noch immer graut. Und da war noch etwas: Seit Hongkong hatten Daisy und ich drei Morde aufgeklärt. Würde mein Vater sich darüber ärgern, dass ich mich erneut darin verwickeln lassen hatte? Dafür, dass ich sein Vertrauen missbraucht hatte, um den Fall in Hongkong zu lösen, hatte er mir vergeben, trotzdem war mir wohl bewusst, dass es ihm nicht gefiel, wenn ich mich mit Verbrechen beschäftigte.

      Über all das zerbrach ich mir den Kopf, während wir in der glitzernden goldenen Lobby standen, umringt vom Kommen und Gehen, vom Ab- und Anschwellen der Gäste und umspült von zahlreichen Gesprächswellen. Als ich mich umsah, bemerkte ich unsere Abbilder in einer Reihe zahlreicher Spiegel, ziemlich klein und schäbig (ich zumindest) inmitten all dem Samt, Marmor und Prunk.

      Dann wurde ich abrupt aus den Gedanken gerissen, weil Daisy mich hart mit dem Ellbogen in die Rippen stieß.

      »Au!«, rief ich. »Daisy!«

      »Mach nicht so einen Aufstand, Hazel! Ich habe dich kaum berührt. Schau, da drüben!«

      Mit klopfendem Herzen, sollte sie meinen Vater gesichtet haben, drehte ich mich in die Richtung, in die sie zeigte. Doch die Leute, auf die sie deutete, waren eine Gruppe europäischer Männer und Frauen, deren Abendgarderobe und Gesichtsausdrücke mir verrieten, dass es sich höchstwahrscheinlich um Urlauber aus England handelte.

      Neugierig musterte ich sie und fragte mich, warum um alles in der Welt Daisy auf sie aufmerksam geworden war. Eine der Frauen, eine große, knochige alte Dame mit einer spitzen Nase, brüllte barsch einen Hotelportier an. Der hob entschuldigend die Hände.

      »Hazel«, sagte Daisy. »Weißt du denn nicht, was das für Leute sind?«

      »Engländer«, antwortete ich. »Aber abgesehen davon –«

      »Hazel, wenn du doch ein Mal die Zeitung lesen würdest! Das ist wirklich ein grässlicher Makel an dir – das habe ich dir schon unzählige Male gesagt. Das dort ist –«

      »Es ist die Hauch-des-Lebens-Gesellschaft«, mischte Amina sich unerwartet ein. Als ich zu ihr sah, runzelte sie wütend die Stirn. »Wieder da! Das sind die Leute, von denen ich euch vorhin erzählt habe!«

      »Wie meinst du das, wieder da?«, fragte ich. »Wer sind sie? Woher kennst du sie?«

      »Sie halten sich für Altägypter«, erklärte Amina im selben Moment, als Daisy sagte: »Sie sind ein absolut fantastischer Kult.«

      Amina und Daisy sahen sich abschätzend an, dann sagte Daisy: »Na schön, dann erklär du es ihr.«

      »Fast will ich nicht«, meinte Amina. »Sie sind schrecklich. Mama und Baba hassen sie. Sie kommen jedes Jahr nach Kairo


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