Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann
Читать онлайн книгу.die Geschichte der Menschen objektiv eine Geschichte des Klassenkampfes sei, auch dann noch, wenn das subjektive Bewußtsein dessen nicht besteht bzw. historisch nicht bestehen kann? Es scheint, als hinge die Antwort hierauf mit dem Zeitpunkt zusammen, an dem der jeweilige Verfasser seinen Bestrebungen nachkommt: Für den im 20. Jahrhundert, nach der Oktoberrevolution, schreibenden Historiker hat die Französische Revolution eine affirmative Funktion; die Revolutionsgeschichte gewinnt an Bedeutung durch eine im nachhinein konstruierte, polsternde Legitimierung des begangenen Weges – die Historiographie wird zum ideologischen Akt.71 Marx und Engels hingegen war die Französische Revolution vor allem das Sprungbrett zur theoretischen Erkenntnis und die empirische Erweiterung einer praktisch orientierten Lehre, welche (wenn man will) den theoretischen Überbau einer zukünftigen proletarischen Revolution abgeben sollte; sie schrieben aus utopischer Position.72 Um jegliches Mißverständnis aus dem Weg zu räumen, sei hier nochmals darauf hingewiesen, daß wir (im Gegensatz zu Cobban73) die Tendenz, historische Entwicklungen anhand ihrer nachmaligen Ergebnisse zu beurteilen, nicht nur als durchaus akzeptabel, sondern, wie wir bereits oben darlegten, als unumgänglich erachten.
Besonders scharfen Widerspruch der marxistischen Revolutionshistoriker riefen die Thesen Daniel Guérins hervor74. Mehr als andere verficht er die Auffassung eines embryonal schon zur Zeit der Jakobinerherrschaft bestehenden proletarischen Klassenbewußtseins der Sansculotten und sammelt Zeugnisse ihrer Aktivität in den Sektionen, welche »bereits einen Beweis der Fähigkeit zur Selbstverwaltung« liefere.75 Gegenüber der zwielichtigen Egalitarismusideologie des revolutionären Bürgertums entdecken – so Guérin – jene »bras nus« spontan das »politische System der direkten Demokratie, [das] völlig verschieden war von der liberalen Demokratie, wie die Bourgeoisie sie verstand.«76 Guérin beraubt somit sowohl die »ängstlich um die Wahrung ihres Monopols in öffentlichen Angelegenheiten besorgten Bourgeois« als auch die Theoretiker der Revolution und bis zu einem gewissen Grad auch die die Sansculotten anführende jakobinische Elite ihrer Schirmherrschaftsfunktion. Dies kann nicht allzu sehr überraschen; war doch die Problematik der Führung des revolutionären Proletariats unter den Marxisten selbst von jeher umstritten. So hat Joachim Israel darauf hingewiesen, daß unterschiedliche Theoretiker, wie der junge Lukács, Rosa Luxemburg, Max Horkheimer und Herbert Marcuse, die Auffassung vertraten, daß wenn »das Proletariat auf Grund seiner faktischen Situation – des Ausgebeutet- und Unterdrücktwerdens – eine historische Mission hat, dann wird es sich seiner historischen Situation bewußt werden und die politischen und organisatorischen Mittel entwickeln, die es zur Erfüllung dieser Mission braucht«77; die alternative Auffassung habe in Lenin und den Theoretikern der stalinistischen Epoche ihre Vertreter gehabt: »Sie behauptet, daß das Proletariat nicht fähig sei, ein revolutionäres Klassenbewußtsein zu erlangen. Dieses Klassenbewußtsein muß durch eine Elite, die in einer revolutionären Partei organisiert ist, in das Proletariat eingebracht werden.«78
Dieses bedeutungsvolle Thema, das angesichts der Entwicklungen im 20. Jahrhundert an aktueller Brisanz gewann, wird also auf das Ende des 18. Jahrhunderts verlagert. Damals – so läßt sich Guérins Interpretation verstehen – war die Konfrontation des Problems von besonderer Relevanz, denn »Danton und Robespierre, die Retter der Bourgeoisie, haben ›das Volk geschickt verraten‹«.79 Das Volk seinerseits benötigt aber eine solche Führung gar nicht, es ist imstande, seine Schwächen aus eigener Kraft zu meistern: »Keine Anarchie, kein Schwanken bei dieser neuen, improvisierten Verwaltung durch das Volk. […] Man sieht hier, wie die Masse, als wäre sie sich ihres natürlichen Hanges zur Undiszipliniertheit bewußt, ständig besorgt ist, sich selbst zu disziplinieren.«80
Eine solche provokant radikale Auffassung mußte die heftige Kritik marxistischer Historiker hervorrufen.81 Georges Lefebvre stellt entschieden fest, die Französische Revolution habe die vom hohen Adel auf die Gesellschaft ausgeübte Herrschaft gestürzt, dies (und nichts mehr) sei ihr Sinn und Zweck gewesen. Das Volk habe zwar die Revolution gerettet, »aber es konnte das nur im Rahmen und unter der Führung der Bourgeoisie tun.« Überdies seien die Sansculotten keinesfalls als Proletariat zu begreifen; habe doch die Mehrzahl unter ihnen dem Kleinbürgertum angehört: »Sie waren an die bürgerliche Ordnung gebunden, weil sie bereits Eigentümer waren oder danach strebten, es zu werden«. Die große Masse dessen, was Guérin als »bras nus« bezeichnet, sei nicht durch den proletarischen Wunsch motiviert gewesen, die Gesellschaftsstruktur zu verändern, sondern habe Brot gewollt, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was die Bourgeoisie selbst anbelangt, unterscheidet Lefebvre zwischen zwei Kategorien in ihr: Die eine habe die Versteinerung der sozialen Hierarchie und die Absperrung der Mobilität der unteren Schichten gewollt. Es habe aber auch eine zweite Kategorie gegeben, welche es als die Pflicht der politischen Demokratie erachtete, den sozialen Aufstieg zumindest zu begünstigen. Die in der Erklärung der Rechte von 1793 auf Antrag Robespierres eingefügte Bestimmung, daß die »staatliche Unterstützung« eine »heilige Schuld« sei, habe man als den »ersten Keim einer Sozialversicherung« zu sehen, und so folgert Lefebvre: »Die Montagnards haben sich in das Buch der Geschichte eingeschrieben als die Ahnen dessen, was man seither soziale Demokratie genannt hat […]«.82
Die heftige Kontroverse zwischen Guérin und Lefebvre ist von großer Bedeutung, weil sie einen Höhepunkt der ideologischen Debatte im Lager der marxistischen Historiker bildet. Ernest Labrousse hat auf die historiographische Linie hingewiesen, welche sich von Aulards politisch dominierten Ereignisgeschichte, über die Verbindung von Sozial- und politischer Geschichte bei Mathiez bis hin zur »Klasse als materiellem und geistigem Phänomen, eingebettet in den Zusammenhang der historischen Ereignisse und Besonderheiten« im Werk Lefebvres durchzieht.83 Mit Guérins Buch besteigt nun zum ersten Mal jene anonyme Masse der Gesellschaft, jene Erniedrigten und Beleidigten, die historiographierte Bühne der Geschichte, jedoch nicht mehr als utopische Vision oder als ideologische Funktion anderer Sozialschichten, sondern als gesellschaftliche Kategorie, welche ihrem Bestehen durch Aktionen, die ihre politische Mündigkeit und ihr angehendes Klassenbewußtsein bezeugen, Ausdruck verleiht. Um die Individuation dieses kollektiven Wesens zu gestalten, sieht sich Guérin gezwungen, es mit einem diskreditierten jakobinischen Establishment zu konfrontieren. In dieser Weise wird Danton, aber auch Robespierre, zum »Verräter«. Ohne auf die historische Wahrhaftigkeit einer solchen Auffassung einzugehen, läßt sich behaupten, daß sie die meisten marxistischen Historiker a priori nicht akzeptieren konnten – die sowjetischen wegen der aus ihr herauslesbaren Herausforderung gegenüber der Parteidoktrin, die französischen als Repräsentanten der Zeit nach dem Tode Lefebvres, in der »ein nahezu unbestrittener Konsens über die Positionen der ›jakobinischen‹ Historiker« herrschte.84
Eine solche weitverbreitete historiographische Übereinstimmung war in Frankreich keineswegs selbstverständlich gewesen. Die Debatte um die Bedeutung der jakobinischen Bewegung (und ihres Kampfes gegen die Gironde) für den Verlauf der Revolution hatte noch im 19. Jahrhundert begonnen und ist in gewisser Hinsicht noch immer nicht beendet.85 Auch über die Phase, die dem Sturz der Gironde folgte, d.h. über die Jakobinerherrschaft selbst, gehen die Meinungen auseinander, wie sich der Rezeption der Schlüsselgestalten Danton und Robespierre deutlich entnehmen läßt.
Es war Aulard, der die »Ehrenrettung« Dantons zuerst in Angriff nahm, indem er »dessen Größe und Vitalität, dessen elementare Menschlichkeit im Kontrast zu Robespierre« herausstrich.86 So beschreibt er Robespierre als hypokritischen Demagogen, der die Konsequenz seiner Positionen hervorhebe, sich in Wahrheit jedoch vom Monarchisten vor dem 10. August zum Republikaner nach dem 22. September wandle, der also im Grunde nicht so sehr der Führer der Massen, sondern der von ihnen Geführte sei. Zwar vermöge er, auf das Gute hinzuweisen, nicht aber auf das Mögliche; er könne wohl darauf deuten, was zu geschehen habe, niemals aber wie. »Er liebt das Vaterland, die Menschheit; er ist bereit für das Volk zu sterben. Aber er betet sein Ich an, stellt es zur Schau. Sein Haß ist ewig […]«.87
Gegenüber diesem heuchlerischen Redner, der eine Politik der Macht und Gewalt betreibt, wird Danton als »Mann der Tat und des Kampfes« dargestellt, der »seine Zuhörer keinen Augenblick in Unwissenheit darüber [läßt], was geschehen soll und mit welchen Mitteln.« Er gebe »bestimmte, rasche Ratschläge, die er nicht durch Gesetze motiviert, die aber dem Geiste der Revolution