Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann
Читать онлайн книгу.Individuum von der Autorität seines Vaters lösen zu können.
Wie wir oben bemerkten, erachten wir nicht die sich aus der Parallelisierung beider Ebenen ergebende Ähnlichkeit als bedeutsam, sondern die Tatsache, daß die in der Matrix der Französischen Revolution enthaltenen Kodes emotionale Kodes anregen, welche aus einer persönlichen psychischen Erfahrung »bekannt« sind, einer Erfahrung, von der wir annehmen, daß sie universell sei. Das ist der Grund dafür, daß der Hinrichtung des Königs durch die französischen Revolutionäre eine archetypische Bedeutung beigemessen wird – dies umso mehr, als es sich (in unserem Fall) um die Rezeption des Ereignisses durch den autoritären Charakter handelt. Dies will wohl verstanden sein: Wir behaupten nicht, daß die Hinrichtung des Königs den ödipalen Konflikt als solchen erweckt, sondern, daß das, was Fromm »emotionale Matrix« nennt, als ein im ödipalen Konflikt verwurzeltes Pattern der Rezeption zugrunde liegt und sich im Fall des autoritären Charakters in eigentümlichen Rezeptionsstrukturen artikuliert. Der König symbolisiert den Vater, weil beide, König wie Vater, zur Kategorie »Autorität«64 gehören, und eben diese Kategorie ist, wie wir erläutert haben, von entscheidender Bedeutung für die Reaktion des autoritären Charakters auf Geschehnisse, welche die Autorität involvieren: Die äußere Reaktionsdimension findet sich in der politischen Ideologie vor, aber deren latente, im allgemeinen unbewußte Quelle ist im psychologischen (aus der Kode-Matrix herauslesbaren) Pattern verankert.
Kehren wir also zur Darlegung unserer Hauptthese zurück. Wir vertreten die Auffassung, daß eine Verbindung der Kode-Matrix der Französischen Revolution mit der emotionalen Matrix des autoritären Charakters der spezifischen Rezeption der historischen Umwälzung durch das deutsche Bürgertum zugrunde lagen, und daß sich diese Rezeption in einer politischen Ideologie niederschlug, deren praktische Bedeutung in der Unterlassung, ja Verweigerung einer tatsächlich vollzogenen Auflehnung gegen die (herrschende) Autorität zu sehen ist. Dies besagt nicht, daß es keine Erscheinungen der Auflehnung gab, sie wurden aber sublimierend in die Welt des Geistes verlagert65: Der aggressive Bestandteil der Beziehung zur Autorität verwirklichte sich nicht als politisch-emanzipatorischer Akt, sondern verharrte im Rahmen einer ideellen Konzeption, die die Veränderung zwar ideologisch denkt, sie aber nicht in die Praxis umsetzt.66 Unserer Auffassung nach läßt sich diese Neigung als typisches Charakteristikum deutscher politischer Kultur im 19. sowie im 20. Jahrhundert, als der Autoritarismus im nationalsozialistischen Regime kulminierte, verfolgen. In diesem Sinne muß wohl auch Adornos (gegen den Begriff des »Volkscharakters« gerichtetes) Diktum verstanden werden: »Die Wendung nach innen, das Hölderlinsche Tatenarm doch gedankenvoll, wie es in den authentischen Gebilden um die Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts vorwaltet, hat die Kräfte gestaut und bis zur Explosion überhitzt, die dann zu spät sich realisieren wollten. Das Absolute schlug um ins absolute Entsetzen. Waren tatsächlich über lange Zeiträume der früheren bürgerlichen Geschichte hinweg die Maschen des zivilisatorischen Netzes – der Verbürgerlichung – in Deutschland nicht so eng gesponnen wie in den westlichen Ländern, so erhielt sich ein Vorrat unerfaßt naturhafter Kräfte. Er erzeugte ebenso den unbeirrbaren Radikalismus des Geistes wie die permanente Möglichkeit des Rückfalls.«67
Es dürfte also klar sein, daß unsere These ihrem Wesen nach historisch ist. Es handelt sich weder um den »Nationalcharakter« im Sinne »angeborener Eigenschaften des nationalen Kollektivs« noch um die wie auch immer geartete Dämonisierung des »deutschen Charakters«68, sondern um das spezifische Ergebnis der Entfaltung universeller Prädispositionen auf der Basis einer historisch bedingten sozio-politischen Struktur.69 Mehr noch: Es könnte der Eindruck entstehen, als deuteten wir eine »politische Krankheit« der Deutschen an; davon muß eindeutig Abstand genommen werden, wie auch Adornos in einem solchen Zusammenhang gemachten Bemerkung zu entnehmen ist: »Es gibt keine ›politische Neurose‹, wohl aber beeinflussen psychische Deformationen das politische Verhalten, ohne doch dessen Deformation ganz zu erklären.« In Beziehung auf den deutschen Faschismus im 20. Jahrhundert fügt er noch hinzu: »Die totalitäre Psychologie spiegelt den Primat einer gesellschaftlichen Realität, welche Menschen erzeugt, die bereits ebenso irr sind wie jene selber. Der Irrsinn aber besteht gerade darin, daß die eingefangenen Menschen nur als Agenten jener übermächtigen Realität fungieren, daß ihre Psychologie nur noch eine Durchgangsstation von deren Tendenz bildet.«70 Dennoch muß betont werden, daß die Realität nicht aus dem Nichts entsteht – sie wird von den Menschen geschaffen, auch oder gerade als Funktion der in eben dieser Realität wirkenden Kräfte.71 Daher muß die Wechselwirkung als eine dialektische Verbindung begriffen werden, nach der die Realität zwar die »Agenten« zur Verwirklichung der ihr innewohnenden Tendenzen erzeugt, aber ebenso auch die potentiellen »Agenten« zur Durchbrechung dieser Tendenzen; im nachhinein kann man immer behaupten, die Wende selbst sei eine Tendenz gewesen, dann aber freilich muß auf das, was wiroben als psychologische »Entscheidung« umschrieben haben, hingewiesen werden.
Die äußeren Ausdrucksformen der für das von uns anvisierte Zeitalter typischen sozialpsychologischen Tendenzen lassen sich in unzähligen historiographischen Werken72, publizistischen Aufsätzen und Schriften literarischer Prosa deutscher Verfasser im Vormärz deutlich erkennen. Wir haben darauf hingewiesen, daß dieser Zeitraum von besonderer Bedeutung sei, weil er dem ersten deutschen Revolutionsversuch vorangeht, den wir als entscheidenden Wendepunkt der modernen Geschichte dieses Landes erachten.73 Es darf wohl angenommen werden, daß eine erfolgreiche Beendigung der Revolution eine andere als die tatsächlich stattgefundene soziale und politische Entwicklung Deutschlands zur Folge gehabt hätte.74 Nachdem jedoch die Auflehnung gescheitert war, wurde der weitere Weg von Mächten der Reaktion vorgezeichnet, wobei der politische Liberalismus kapitulierte, sich den alt-neuen Zuständen anpaßte75, und die ohnehin spärlich vorhandenen demokratischen Kräfte machtlos auf die Fortsetzung eines jeglichen Kampfes von wirklicher Bedeutung verzichteten.76 Wir sind, wie gesagt, der Auffassung, daß das Scheitern der Revolution in erheblichem Maße dem Zurückschrecken der Revolutionäre vor dem Sturz der politischen Autoritäten zuzuschreiben sei, und diese Tatsache widerum sehen wir vor allem (und unabhängig von konkreten politischen Erwägungen, die sie bewogen haben mochten) als ein Resultat des für den entscheidenden Teil der an der Revolution aktiv Partizipierenden charakteristischen autoritären Patterns an.77
Unterschiedliche Erwägungen leiteten uns bei dem Entschluß, uns gerade auf die Historiker und deren Schriften zu beziehen.78 Erstens: Einige von ihnen gehörten selber den Revolutionären von 1848 an oder hatten doch zumindest eine »radikale« Vergangenheit aus der Zeit des Vormärz. Man kann sie also als einen politischen Faktor betrachten, welcher sowohl auf die die Revolution theoretisch legitimierende Ideologie als auch auf die Art und Weise, wie diese Revolution im entscheidenden Augenblick dann ausgetragen wurde, signifikanten Einfluß hatte. Zweitens: Die Geschichtswissenschaft erfährt gerade im Deutschland jener Epoche eine beschleunigte Entwicklung sowohl in methodisch-inhaltlicher als auch in institutioneller Hinsicht.79 Dieser Gesichtspunkt ist in unserem Zusammenhang von einiger Bedeutung, weil er mit der Einbindung verschiedener Aspekte der Konzeption deutscher Geschichtsschreibung in eine antirevolutionäre Ideologie aufs engste verknüpft ist, was (wie noch zu zeigen sein wird) in keinem Widerspruch zu unserer ersten Erwägung steht.80 Drittens: Obgleich wir prinzipiell nicht die Auffassung vertreten, daß die akademische Geschichtsschreibung den Anspruch erheben könne, einen allzu großen Einfluß auf die Bildung des historischen Bewußtseins der »breiten Masse« auszuüben, so kann doch kein Zweifel hinsichtlich ihres Anteils an der Kodifizierung des kollektiven Gedächtnisses bestehen.81 Es ist – so besehen – durchaus relevant zu untersuchen, welche Motive die deutschen Historiker ihrem Publikum vermitteln, und welche ideologischen Aussagen sich hinter diesen Motiven verbergen.82 Andererseits ist der Historiker selber nur ein Agent der »Tendenzen« der ihn umgebenden Realität; man kann ihn also als ein Paradigma der allgemeinen Rezeption historischer Geschehnisse begreifen, und je geladener das Ereignis in emotionaler Hinsicht ist (so wie wir es von der Französischen Revolution behaupten), desto anschaulicher erfüllt er seine objektive Funktion als symptomatischer Träger von »Tendenzen« der Realität, ideologischen Tendenzen zumal.83