Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann
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»Jede Zeit sieht sich zwangsläufig vor die Aufgabe gestellt, die Geschichte neu zu schreiben. Sie kann nicht einfach das Bild, das sich frühere Geschlechter von der Vergangenheit gemacht haben, übernehmen und ihrem geistigen Besitz einverleiben, als wäre die überlieferte Leistung ihr eigenes Werk. […] An den berühmtesten Werken der Geschichtsschreibung vollzieht sich denn auch in der Einschätzung der Leser ein charakteristisches Schicksal. Die Zeitgenossen fassen sie auf als den Inbegriff der sachlich gültigen Einsicht in geschichtliche Zusammenhänge. Sie gelten ihnen als die höchste Verdichtung des Wissens, das von einem bestimmten Gegenstande möglich ist. Den Nachfahren dagegen erscheinen diese Werke bewundernswert, sofern sie der Ausdruck einer Zeit und der Persönlichkeit des Geschichtsschreibers sind. Den Nachfahren verwandeln sie sich aus reinen Ergebnissen wissenschaftlicher Forschung in Zeugnisse einer menschlichen Haltung. Sie werden befragt nach dem, was sie über den Geschichtsschreiber selbst und die Zeit aussagen, in der dieser gelebt und gewirkt hat. Sie geben Anlaß zur Untersuchung und Darstellung der geschichtsphilosophischen und religiösen, der politischen und ethischen Anschauungen, durch die der Geschichtsschreiber bestimmt worden ist.«1
Es scheint, als gäbe es wenige historische Themen, die das Relative, weil Dynamische an der Rezeption eines historischen Ereignisses so beeindruckend dokumentieren, wie die Rezeption der Französischen Revolution. Man kann ohne weiteres behaupten, daß sich in der Geschichtsschreibung dieser Revolution eines der vielschichtigsten »Raschomons«, das das historische Forschungsterrain jemals hervorgebracht hat, darstellt.2 Hierfür gibt es vielerlei Gründe, wobei nicht alle mit jener zwangsläufigen Perspektivenänderung aus Gründen zeitlicher Verschiebung erklärt sind. Eine diskursive Theorie der Revolution z.B. findet sich schon zur Revolutionszeit sowohl unter ihren Verursachern als auch unter ihren Gegnern.3 Aber auch, wenn man sich vom Ereignis zeitlich entfernt und die aus »Objektivität« versprechender, historischer Perspektive verfaßte Geschichtsschreibung durchsieht, fällt doch ein ungewöhnliches Maß an Emotionalität ins Auge, das die sachliche Forschung und sogar die theoretischen Ableitungen durchdringt.4 Nicht von ungefähr trat daher François Furet mit der Erklärung, daß die »Französische Revolution beendet« sei, sowie mit der ironischen Forderung nach Gleichheit im Status des Historikers der Französischen Revolution und dessen, »der Studien über die Merowinger oder den Hundertjährigen Krieg treibt«, ohne sich »jeden Augenblick als Forscher […] legitimieren« zu müssen, hervor.5 Natürlich ist es nicht die professionelle Qualifikation, welche die Situation des Historikers der Revolution von der seiner Kollegen unterscheidet, sondern ein unentwegt reges öffentliches Klima, in dem »über die Revolution sprechen, [immer heißt]: über die Gegenwart sprechen«, wie, beispielsweise, der gefühlsgeladenen Kontroverse um Andrej Wajdas Film »Danton« im Jahre 1983 zu entnehmen ist.6 Der Historiker der Revolution wirkt in einem Rezeptionsfeld voller Gegensätze und Idiosynkrasien; er nährt zwar sein Publikum mit Daten und Befunden, mit Fakten und Analysen, aber die Rezeption seiner Schlußfolgerungen hängt nur in geringem Maß von der seiner Forschung inhärenten Logik ab, sie findet vielmehr vor allem durch die von vornherein mehr oder weniger gefestigten Rezeptionspattern seiner Leser statt. Hedva Ben-Israel hat zweifelsohne recht mit ihrer Feststellung, daß »die weitreichendsten Auswirkungen der Revolution bis hin zu unserer Zeit mit Sicherheit vom historischen Bewußtsein und von der Interpretation geprägt wurden«7; wie noch zu zeigen sein wird, war jedoch der Anteil der Historiker bei diesem Vorgang eher affirmativen als determinierenden Charakters. Die Historiker selbst waren mehr indizierendes Symptom des Rezeptionsprozesses als seine Gestalter. Es fragt sich daher: Worin wurzelt diese nicht abzubrechen scheinende, heftige Kontroverse?
Zunächst einmal und vor allem in der Revolution als historisch-sozialem Phänomen selbst. Von besonderer Bedeutung ist es nämlich, »ob ein Autor von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das von vornherein jede gewaltsame Umwälzung als illegitim und bedrohlich ansieht, oder ob er von einem Gesellschaftsbild ausgeht, das Revolution als eine den Geschichtsprozeß vorantreibende Form des gesellschaftlichen Wandels begreift.«8 Diese paradigmatische Entscheidung ist mitunter auch für den spezifischen Fall der Französischen Revolution relevant, im Grunde liegt sie aber jedem Bild, das wir uns über Wesen und Entwicklung der Gesellschaft machen, zugrunde. Es leuchtet nur zu sehr ein, daß sich die klassischen Theorien der Soziologie im 19. Jahrhundert mit dem Konflikt als einem Schlüsselbegriff für die Erklärung sozialer Prozesse auseinandersetzten: Marx und seine Nachfolger sahen ihn als den sozialen Beziehungen immanent und für den Fortschritt notwendig an, wohingegen Durkheim und die struktur-funktionalistische Schule das Hauptgewicht auf die Frage der gesellschaftlichen Solidarität legten, wobei sie davon ausgingen, daß das Equilibrium erhalten und jede »Anomie«, gleichsam wie eine Krankheit, eliminiert werden müsse. Später versuchte man beide Auffassungen in der Synthese des sogenannten »funktionalen Konflikts« miteinander zu verknüpfen.9 Das Bedürfnis nach strukturanalytischer Durchdringung historischer Entwicklungsprozesse der Moderne bewirkte im 20. Jahrhundert verschiedene Definitions- und Theoretisierungsversuchen des Phänomens »Revolution«10, jedoch ohne bleibenden Erfolg11, denn die Möglichkeit einer theoretischen Konsolidierung ist durch einen von vornherein gegebenen Wertkonsens hinsichtlich des Phänomens selbst bedingt, und einen solchen, wie gesagt, hat es bislang noch nicht gegeben.
Dennoch scheint eine recht weit verbreitete Übereinstimmung bezüglich einer Auffassung der Französischen Revolution als Modell zu herrschen, wie Walter Bußmann behauptet: »Mögen die Definitionen von Revolutionsabläufen auch noch so verschieden sein, so besteht doch unter der Mehrzahl von Historikern und Sozialwissenschaftlern Einigkeit darüber, daß im Verlaufe der französischen Revolutionsphasen seit 1789 alle jene Merkmale nachweisbar sind, die dem Phänomen Revolution als einer ›Totalumwälzung‹ eigentümlich sind.«12 Karl Griewank schreibt dies der »den Franzosen besonders eigene Begabung für klare und klassische Formen« zu, welche »in den verschiedenen Stadien dieser Revolution Losungen und Vorbilder des politischen Denkens und Handelns [hat] entstehen lassen, die als allgemeingültig erscheinen konnten und zur Nachahmung herausforderten.«13 Mit Beziehung auf Jaurès und Mathiez sieht Georges Lefebvre in den verschiedenen Revolutionsphasen ein Bündel von Revolutionen, in welchem eine sich progressiv entwickelnde politische Linie erkennbar wird: Nach der Revolution des Adels und der des Dritten Standes ereignet sich am 10. August 1792 die demokratische und republikanische Revolution und am 2. Juli 1793 eine vierte, welche die soziale Demokratie vorzeichnet; er fügt noch hinzu, daß wenn Babeuf erfolgreich gewesen wäre, hätte es gar eine fünfte Revolution gegeben.14 Auch Walter Markov meint, das »dem Geist und der Sprache der Franzosen einwohnende Regelmaß« sei in dem »cartesianisch übersichtlichen Rhytmen-Ablauf« der Revolution zur Geltung gekommen: »Constitutionelles, Feuillants, Girondins lösten sich am jeweiligen Etappenziel der Umwälzung als adäquate Führungskerne ab, um ihrerseits am 2. Juni 1793 der Montagne zu weichen […]«.15
Die in diese Formulierung eingeschleuste Dramaturgie spiegelt wesentliche Elemente der marxistischen Revolutionstheorie wider: Hinter der Fassade politischer Auseinandersetzungen ereignen sich in Wahrheit soziale Kämpfe, welche als die eigentlich determinanten Faktoren der revolutionären Radikalisierung zu begreifen sind; die Radikalisierung muß ihrerseits als Ausdruck einer Notwendigkeit in zweierlei Hinsicht verstanden werden: einer subjektiven Notwendigkeit der Emanzipation von den durch die materielle Basis bestimmten sozialen Verhältnissen und einer objektiven Notwendigkeit der Veränderung der gesellschaftlichen Struktur infolge eines wesentlichen Wandels dieser materiellen Basis selbst. Der latente Determinismus einer solchen Auffassung gründet praktisch auf der normativen Annahme eines Strebens des Menschen nach Emanzipation a priori und auf der induktiv konstruierten Voraussetzung eines immerwährenden Fortschritts in der Entwicklung der Produktionsmittel. Nicht immer befindet sich aber das subjektive Bewußtsein in Übereinstimmung mit der objektiven gesellschaftlichen Situation. Revolutionäres Bewußtsein manifestiert sich demzufolge in jenem Bewußtsein, das sich eine Einsicht in die Notwendigkeit des Kampfes um die Veränderung sozialer Verhältnisse im Sinne der eigenen (Klassen-) Interessen zueigen gemacht hat. Die praktischen Auswirkungen dieses Ausgangspunktes entspringen dem eine Vielfalt konkurrierender Interessengruppen erzeugenden gesellschaftlichen Antagonismus. Die Entfernung einer Klasse von ihren Herrschaftspositonen garantiert allerdings noch keineswegs die Erfüllung