Das Trauma des "Königsmordes". Moshe Zuckermann
Читать онлайн книгу.kollektiven Rahmens, dem er angehört38, so kann man sich auf den Begriff des »Gesellschafts-Charakters« (social character) berufen, den Fromm als »den Teil der Charakterstruktur, welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam ist«, definiert, und zu dem er bemerkt:
»Der Gesellschafts-Charakter […] umfaßt nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen [des Individual-Charakters], und zwar den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat. Wenngleich es immer ›Abweichler‹ mit einer völlig anderen Charakterstruktur geben wird, stellen doch die Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe Variationen dieses Kerns dar, wie sie durch die zufälligen Faktoren von Geburt und Lebenserfahrung zustande kamen, die ja von Mensch zu Mensch verschieden sind.«39
Fromm sieht in der Konzeption des »Gesellschafts-Charakters« einen der Schlüsselbegriffe für die Erfassung sozialer Prozesse. Seiner Auffassung nach sind einerseits die Anpassungsformen menschlicher Bedürfnisse an die Seinsbedingungen einer bestimmten Gesellschaft im Charakter verkörpert, andererseits werden aber Denken, Fühlen und Handeln des Individuums von eben diesem Charakter geformt. Dies ist ein für unser Anliegen besonders wichtiger Punkt, da Fromm auch die intellektuelle Welt des Menschen nicht von dieser Auffassung ausgrenzt; mit Beziehung auf »Begriffe«, »Ideen« und »Doktrinen« als Elemente dieser intellektuellen Welt, behauptet er:
»Ein jeder derartiger Begriff und eine jede Doktrin besitzt eine emotionale Matrix, und diese Matrix ist in der Charakterstruktur des einzelnen verwurzelt. […] Die Tatsache, daß Ideen eine emotionale Matrix besitzen, ist von größter Bedeutung, denn sie ist der Schlüssel zum Verständnis des Geistes einer Kultur. Verschiedene Gesellschaften oder Klassen innerhalb einer Gesellschaft besitzen einen spezifischen Gesellschafts-Charakter, und auf dieser Basis entwickeln sich unterschiedliche Ideen, die zu mächtigen Triebkräften werden.«40
Er geht gar einen Schritt weiter und postuliert, die Triebkräfte der Ideen könnten sich erst dann voll entfalten, wenn sie eine Antwort auf die besonderen menschlichen Bedürfnisse eines spezifischen Gesellschafts-Charakters ermöglichten. Freilich ist auch in diesem Zusammenhang der Prozeß wechselseitig. Der Gesellschafts-Charakter entsteht natürlich nicht im leeren Raum; trotz des gestaltenden Einflusses, den er auf soziale Prozesse ausübt, ist er in nicht geringem Maße selber eine Funktion der aus dem gesellschaftlichen System resultierenden Zwänge und introjiziert äußere Bedürfnisse, um die menschliche Energie in die Aufgaben des wirtschaftlichen und sozialen Systems, in dessen Rahmen er sich verwirklicht, sozusagen einzubinden. Daher insistiert auch Fromm darauf, daß man die Gesellschaftsstruktur (oder die Persönlichkeitsstruktur der in ihr lebenden Individuen) nicht als Ergebnis des Erziehungsprozesses erklären könne, sondern, umgekehrt, »das Erziehungssystem mit den Erfordernissen erklären [müsse], die sich aus der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der jeweiligen Gesellschaft ergeben.« Andererseits liegt die Wichtigkeit der Erziehungsmethoden darin, daß sie Mechanismen darstellen, mittels derer das Individuum »in die gewünschte Form gebracht wird«. Wenn wir also oben behauptet haben, der familiäre Rahmen spiele eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der individuellen Charakterstruktur, so kann man mit Fromm »die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft ansehen.«41
Auf diesen theoretischen Erwägungen stützt sich Fromm bei der Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen des Gesellschafts-Charakters, als deren für unser Anliegen wichtigste die des sogenannten »autoritären Charakters« erachtet werden muß. Er verwendet diese Benennung stellvertretend für die des »sado-masochistischen Charakters« und begründet dies damit, daß sich der sado-masochistische Mensch deutlich durch eine besondere Beziehung zur Autorität auszeichne42: »Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben.«43 Es sei hervorgehoben, daß die Autorität nicht als Eigenschaft des Einzelnen, sondern als »zwischenmenschliche Beziehung« begriffen wird, »bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet.« Fromm unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen zwei Idealtypen solcher Beziehungen, von denen er den ersten als »rationale Autoritätsbeziehung« (z.B. die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler) und den zweiten als »hemmende Autoritätsbeziehung« (z.B. die zwischen dem Sklavenhalter und dem Sklaven) bezeichnet. Die elementaren Unterschiede zwischen beiden Beziehungsformen sieht er in der Interessengemeinschaft, welche die erste Beziehung im Gegensatz zur zweiten kennzeichnet, und in der grundlegend verschiedenen psychologischen Situation: In der ersten Beziehung herrschen vorwiegend positive Gefühle, wohingegen in der zweiten Ressentiment und Feindseligkeit vorherrschend sind. Natürlich vermischen sich in der Realität beide Arten der Autoritätsbeziehung, und jede Analyse einer konkreten Beziehung erfordert daher die spezifische Gewichtung der jeweils in ihr auftretenden Art.44 Obgleich wir hier also vorzüglich mit dem Begriff der zweiten Beziehungsart operieren werden, betonen wir ausdrücklich, daß die Unterschiede in der Realität, auch in der von uns anvisierten historischen Situation, keineswegs polarisiert sind, schon gar nicht dem Augenschein nach. Wir werden also bemüht sein zu zeigen, mit welchen Schwierigkeit die Auflehnung gegen die Autorität verbunden ist, und zwar gerade wegen der aus der psychologischen Verschmelzung beider Beziehungsarten resultierenden Ambivalenz.
Fromm spricht von einem weiteren Aspekt der Autorität: »Die Autorität muß nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: ›Du mußt das tun‹ oder ›Das darfst du nicht tun‹. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität: als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten.«45 Im Grunde – so Fromm – läßt sich das ganze moderne Denken vom Protestantismus bis hin zu Kant als die Ersetzung der äußeren Autorität durch die internalisierte denken46:
»Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der ›Selbstbeherrschung‹, das heißt in der Beherrschung des einen Teils des Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens – seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der Freiheit. Die Analyse zeigt, daß das Gewissen ein ebenso strenger Zwingherr ist wie äußere Autoritäten. Außerdem zeigt sie, daß die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?«47
Fromms rhetorische Frage verdeutlicht die besondere Bedeutung, die dem Begriff »Auflehnung« (und dessen komplementäre Ergänzung »Gehorsam«) im anstehenden Zusammenhang zukommt; nicht von ungefähr bezeichnet er »die Einstellung zur Macht« als das wichtigste Merkmal des autoritären Charakters.48 Wie wir oben darlegten, bewundert der autoritäre Charakter die Macht, welche seine Liebe und seine Bereitschaft zur Unterwerfung entfacht, während Schwäche und Ohnmacht (seien es die eines Menschen oder einer Institution) in ihm Verachtung und die Angriffslust gegen sie erwecken. Es muß jedoch auch hier darauf hingewiesen werden, daß (ähnlich wie die oben beschriebenen Autoritätsbeziehungen) auch der autoritäre Charakter in seiner puren Form selten in der realen Welt vorzufinden ist. Mehr noch: Seine »realen« Erscheinungsformen können trügen; Fromm hebt dies ausdrücklich hervor, indem er auf die Neigung des autoritären Charakters, sich der Autorität zu widersetzen und gegen Einflüsse »von oben« zu wehren, eingeht. Er bemerkt, daß diese Widersetzung zuweilen dermaßen dominant sei, daß sie den äußeren Ausdruck der Unterwerfung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Dieser Typ des autoritären Charakters widersetzt sich immer gegen irgendeine Autorität, ohne dabei wahrzunehmen, wann er sogar seinen eigenen Interessen zuwider handelt. Andere haben ein gespaltenes Verhältnis zur Autorität; sie können sich gegen eine bestimmte Autorität auflehnen (besonders gegen eine, die sich wider Erwarten als schwach entpuppt hat), um sich einer anderen Autorität zu unterwerfen, welche ihre »masochistischen