Bildung und Glück. Micha Brumlik
Читать онлайн книгу.die später in der Marxschen Sozialphilosophie als Spannung von „bourgeois“ und „citoyen“ wieder auftauchen sollte, aufzulösen: „Wenn“, so heißt es im Emile, „anstatt einen Menschen für sich selbst zu erziehen, man ihn für die anderen erziehen will? Dann ist jeder Einklang unmöglich. Gezwungen, gegen die Natur oder die gesellschaftlichen Institutionen zu kämpfen, muß man sich für den Menschen oder den Staatsbürger entscheiden, denn beide in einer Person kann man nicht schaffen.“58
Rousseaus Alternative ist logisch gesehen nicht zwingend und behauptet gleichwohl ein reales Dilemma: Das Dilemma einer Bildung, die die einzelnen in die Lage versetzen will, ihr Glück zu finden, und sie zudem dazu befähigen möchte, für universale Gerechtigkeit und Solidarität einzutreten, stellt ein echtes, nicht nur begriffliches Problem dar, dem nur durch begriffliche Grundlagenarbeit und empirische Forschung beizukommen ist. Vor allem aber ist zu klären, inwieweit die so beanspruchte Theorie der Tugenden mehr sein kann als lediglich eine mit philosophischen Begriffen verbrämte Motivationspsychologie. Kann eine – sogar eine erneuerte – Ethik der Tugenden überhaupt systematische Ansprüche entfalten?
Theorien der Moral gelten im allgemeinen als Theorien der Kriterien richtigen, meist gerechten Handelns. Eine Theorie der Handlung jedoch, die sich nur auf die Begründung der Handlung und ihre absehbaren Wirkungen bezieht und nicht mindestens am Rande auch eine Theorie der Akteure und ihrer wesentlichen Eigenschaften enthält, bleibt systematisch halbiert. Eine richtige Handlung, die aus inakzeptablen Motiven vollzogen wurde, mag zwar immer noch insgesamt als besser gelten als ihre Unterlassung: Gleichwohl würde etwa eine Lebensrettung, die seitens des Retters ausschließlich und nur aus Gründen des Profits und der Ruhmsucht vollzogen wurde und die beim Fehlen dieser Bedingungen unterblieben wäre, kaum unsere Anerkennung als moralische Handlung finden. An dieser Problematik bricht das in der systematischen Moralphilosophie der Neuzeit verdrängte Thema der „Tugenden“ wieder auf und bestimmt seit neuestem den Fortgang der moralphilosophischen Debatte.
Dies zu bemerken, bedurfte es nicht erst der deutschen Übersetzung von Aufsätzen einer analytischen Philosophin, der in Oxford lehrenden Philippa Foot.59 Spätestens seit den Debatten um den Kommunitarismus60 und dem Erscheinen von Alasdair MacIntyres After Virtue im Jahre 1981 sowie den Arbeiten von Charles Taylor61 über starke Wertungen und die Quellen des modernen Selbst deutete sich an, daß die Frage nach den normativ ausgezeichneten Charaktereigenschaften von Personen nicht im engeren Bereich politischer Philosophie verbleiben würde. Es waren vor allem Entwicklungen des akademischen Feminismus im Rahmen der entwicklungspsychologischen Auseinandersetzung um die Denkbarkeit einer weiblichen Moral, die das hierzulande des Konservativismus verdächtige Thema auf die Tagesordnung setzte.62 Mit den Arbeiten etwa von Annette Baier oder Amelie Oksenberg-Rorty bzw. den deutschsprachigen Beiträgen so unterschiedlicher, oft einander entgegengesetzter Autorinnen wie Herlinde Pauer-Studer, Gertrud Nunner-Winkler und Onora O’Neill63, haben auch in Deutschland nicht nur ein neues Thema und ein neuer Tonfall, sondern auch ein erneuertes Paradigma in der Moralphilosophie Einzug gehalten. Betrachtet man außerdem die steigende Zahl von Veröffentlichungen zu Theorien des guten und geglückten Lebens sowie einer Ästhetik der Existenz,64 so zeigt sich, daß die von seriösen Moraltheoretikern aller Schulen bespöttelten Anstöße des späten Foucault zu einer Ethik der Selbstsorge65 nun ihre systematische Begründung erhalten. Die von Roger Crisp bzw. von E. F. Paul unter dem Titel How Should One Live oder Self-Interest herausgegebenen Anthologien sowie das schon 1992 erschienene Hauptwerk der neuen Richtung, Michael Slotes From Morality to Virtue, beweisen zudem, daß eine erneuerte Theorie der Tugenden in Argumentation und Begrifflichkeit ebenso „hart“ und technisch operieren kann, wie dies Utilitarismus und Kantianismus tun.
Im Zentrum der erneuerten, weil sich reflexiv auf die moderne Moralphilosophie beziehende Theorie der Tugenden steht ein Problem, das die reine, die kantianische Theorie der Moral ins Fach der empirischen Psychologie abschieben zu können glaubte: die Frage nach der Motivation zu einem von der Einsicht ins Richtige geleiteten Handeln. Aufgabe einer Theorie der Moral sei es, so die gängige Lesart, die mehr oder minder unbedingte Begründung von Kriterien richtigen Handelns, den „moral point of view“66, zu beweisen oder zu entfalten.
Die Beantwortung der Frage, ob und warum Menschen sich an diesen Kriterien orientieren, sei dagegen Aufgabe der Wissenschaft. Kant selbst war der Auffassung, daß die Triebfedern eines an moralischen Prinzipien, d. h. vor allem an moralischen Geboten ausgerichteten Handelns den Akteuren niemals zu Bewußtsein kommen können. Da Kant jedoch den Umstand durchaus anerkennt, daß die moralischen Akteure, um die es ihm geht, empirische, sinnliche Menschen sind, sieht er sich im Gegenzug gezwungen, eine vermittelnde Instanz, nämlich den Begriff eines reinen guten, freien und autonomen Willens zu konstruieren, der als hypothetische Größe postuliert werden muß, aber empirisch nicht nachweisbar ist. Anlaß dieser Operation ist die Konstruktion moralischen Handelns als pflichtgemäßen Handelns, als des Entsprechens einer weil formalen, deshalb unbedingt geltenden Norm:67 „Es ist von der größten Wichtigkeit in allen moralischen Beurteilungen, auf das subjektive Prinzip aller Maximen mit der äußersten Genauigkeit Acht zu haben, damit alle Moralität der Handlungen in der Notwendigkeit derselben aus Pflicht und aus Achtung fürs Gesetz, nicht aus Liebe und Zuneigung zu dem, was die Handlungen hervorbringen sollen, gesetzt werde. […] Es ist sehr schön, aus Liebe zu Menschen und teilnehmendem Wohlwollen ihnen Gutes zu tun, oder aus Liebe zur Ordnung gerecht zu werden, aber das ist doch nicht die echte moralische Maxime unsers Verhaltens, die unserm Standpunkte, unter vernünftigen Wesen, als Menschen, angemessen ist.“68
Kants Unbehagen an dieser Lösung ist nicht zu übersehen und wird von ihm redlicherweise wieder und wieder artikuliert: „Wie kann Vernunft eine Triebfeder abgeben, da sie sonst jederzeit nur eine Richtschnur ist und die Neigung treibt, der Verstand nur die Mittel vorschreibt? Zusammenstimmung mit sich selbst. Selbstbilligung und Zutrauen. Die Triebfeder, die mit der Pflicht verbunden werden kann, aber niemals an deren Stelle gesetzt werden muß, ist Neigung oder Zwang.“69
Die ursprüngliche Lösung des Problems sollte darin bestehen, die Menschen dazu anzuhalten, sich in sinnvoller Weise als freie Wesen zu denken, um so zumindest einen Anreiz zu schaffen, sich so moralisch wie möglich, genauer müßte man sagen: sich wenigstens moralanalog zu verhalten. Kants klassische Lösung dieses Problems, nämlich eine zugleich empirische wie nicht leidenschaftliche Motivation für die Beachtung moralischer Gebote zu finden, bestand im Postulieren des Gefühls der „Achtung“ – ein Gefühl, das einerseits Wirkung des richtigen Verständnisses des moralischen Gesetzes sei und andererseits Ursache zu dessen Befolgung: „Achtung fürs moralische Gesetz ist also die einzige und zugleich unbezweifelte moralische Triebfeder, so wie dieses Gefühl auch kein Objekt anders, als lediglich aus diesem Grunde gerichtet ist. Zuerst bestimmt das moralische Gesetz objektiv und unmittelbar den Willen im Urteile der Vernunft; Freiheit, deren Kausalität bloß durchs Gesetz bestimmbar ist, besteht aber eben darin, daß sie alle Neigungen, mithin die Schätzung der Person selbst auf die Bedingung der Befolgung ihres reinen Gesetzes einschränkt.“70
Diese Lösung gestattet es einerseits, eine in sich konsistente Theorie moralischer Regeln aufzustellen, verbietet es jedoch andererseits, die Frage nach ihrer Lehrbarkeit, Lernbarkeit und vor allem Anwendbarkeit zu stellen. Entsprechend klingen Kants Auskünfte zur Möglichkeit einer sittlichen Erziehung durchaus realistisch: „Ob aber der Mensch nun von Natur moralisch gut oder böse ist? Keines von beiden, denn er ist von Natur gar kein moralisches Wesen; er wird dies nur, wenn seine Vernunft sich bis zu den Begriffen der Pflicht und des Gesetzes erhebt. Man kann indessen sagen, daß er ursprünglich Anreize zu allen Lastern in sich habe, denn er hat Neigungen und Instinkte, die ihn anregen, ob ihn gleich die Vernunft zum Gegenteile treibt. Er kann daher nur moralisch gut werden durch Tugend, also aus Selbstzwang, ob er gleich ohne Anreize unschuldig sein kann.“71
Unter diesen Bedingungen setzt auch Kant auf eine Bildung der Gefühle, wenn er fordert, Kindern richtige Gründe aufzustellen und sie begreifbar und annehmbar zu machen. Die Bildung der angemessenen Triebfedern zu moralischem Verhalten besteht in einer gezielten, argumentativen Verfeinerung basaler Affekte: Kinder „müssen lernen, die Verabscheuung des Ekels und der Ungereimtheit an die Stelle der des Hasses