Bildung und Glück. Micha Brumlik

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Bildung und Glück - Micha Brumlik


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wenn wir, ehe wir fragen, auf welche Art und Weise die Menschen zur Tugend gelangen, zuvor an und für sich versuchen, was die Tugend ist.“47

      Bildung, die sich in diesem Sinne auf eine realistische Konzeption der Existenz von Erwachsenen und Jugendlichen – bei all ihrer radikalen geschlechts-, einkommens-, bildungs- und lebenslagenbezogenen Ungleichheit – einläßt, wird eine sozialwissenschaftlich reformulierte Theorie der Tugend schon allein deshalb entfalten müssen, weil sie anders ihre Adressaten und deren vitalsten Interessen, einschließlich ihres Glücksstrebens, verkennen würde. Erwachsene und Jugendliche lassen sich nämlich – im Unterschied zu Kindern – bilden, weil sie ihr Leben verbessern und bereichern möchten, weil sie unter dem Druck selbst nicht gesetzter Qualifikationsanforderungen ihrem von ihnen zu verantwortenden Leben eine Wendung geben wollen, das vor dem Ganzen ihrer Existenz bestehen können soll. Daß es der Erwachsenenbildung vor allem darum geht, die Zumutungen des gesellschaftlichen Umfeldes für den erwachsenen Menschen zu analysieren, ist der oft übersehene existentialistische Kern der neueren Theorie der Erwachsenenbildung. Sie zielt auf eine Theorie des Lebenslaufs, die jene Haltungen analysiert, die es Menschen ermöglichen, den Kontingenzen des Lebens in der Moderne zu entsprechen, also auf jene Kompetenzen und Performanzen, die zu einer angemessenen „Realitäts-“ und „Identitätsarbeit“ führen können. Sie sind der formale, keineswegs nur kognitive Rahmen, innerhalb dessen ein gelungenes Leben angestrebt werden kann: „Denn bei keiner der menschlichen Leistungen gibt es eine solche Beständigkeit wie bei den tugendgemäßen Tätigkeiten. Diese scheinen sogar beharrender zu sein als die Wissenschaften, und unter ihnen wiederum sind am beharrends- ten die an Rang höchsten, weil die Glückseligen am meisten und am dauerndsten in ihnen leben. Dies wird auch wohl die Ursache dafür sein, daß sie nicht in Vergessenheit geraten.“48

      Doch Aristoteles hatte unrecht. Die tugendgemäßen Tätigkeiten waren schon bei Monteverdi dabei, ihrem Begriff nach in Vergessenheit zu geraten, die Sache selbst schlummerte unaufgeklärt in der Sprache der Qualifikations-, Kompetenz- und Performanztheorie vor sich hin. Die in einer Theorie der Tugend angelegte Frage nach der Glückseligkeit49 scheint zudem eine Frage zu sein, die von einer modernen, sozialwissenschaftlich ausgerichteten, explanativen Theorie kaum, von normativen Theorien bestenfalls vorsichtig und mit eher schlechtem Gewissen angegangen werden. Nicht nur ließ sich nach den Verwüstungen und Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr guten Gewissens von Glückseligkeit sprechen – wie sollte ein unverstelltes Glück im Wissen des Grauens möglich sein? „Aber selbst der endliche Anbruch der Freiheit“, so schließt Herbert Marcuses Triebstruktur und Gesellschaft, „kann diejenigen nicht mehr erlösen, die unter Schmerzen gestorben sind. Die Erinnerung an sie und die aufgehäufte Schuld der Menschheit gegenüber ihren Opfern verdunkeln die Aussichten einer Kultur ohne Unterdrückung.“50

      Übrig blieb – mit guten Gründen – eine Ethik, die sich bestenfalls daran erinnern wollte, was die Frage nach dem guten Leben einmal bedeutete, und die statt dessen über die Beschädigungen menschlichen Lebens reflektierte.51 Ob sich die Frage nach dem Glück bzw. nach dem guten Leben überhaupt noch guten Gewissens stellen läßt, ob nicht jeder Versuch, angesichts dieser Geschichte subjektives Glück auch nur empfinden zu wollen, zwar verständlich, aber entweder sinnlos oder ungerecht ist, soll hier dahingestellt bleiben. Daß die meisten Menschen dem offenbar unauslöschbaren Streben nach Glück folgen, dürfte nicht zu bestreiten sein, ob „Glück“ als universelles menschliches Handlungsmotiv zu unterstellen ist, hingegen sehr wohl.52 Aristoteles – darin wird ihm Rousseau folgen – legt einen engen Zusammenhang zwischen Glückseligkeit und Tugend nahe, und zwar so, daß bestimmte Arten der Tugend, nämlich die beharrenden, von glückseligen Menschen auffällig oft gelebt würden. Damit ist der Begriff der „Tugend“ seit Beginn des abendländischen Denkens an die Reflexion über gelingende und mißlingende Lebensläufe geknüpft. Das Wechselspiel von Glück – d. h. von Zufall oder Geschick, von Tugend und Liebe, kurz: die wechselnden Konstellationen von bemühter Lebensführung und leidenschaftlichen Affekten, denen stets Kontingenz innewohnt – ist dabei jene Matrix, jener Hintergrund, vor dem ihrer selbst bewußte Individuen ihr Leben führen und führen müssen. Im Begriff der Tugend wird der Anspruch erhoben, das Verhältnis von angestrebten Tätigkeiten, seelischen Zuständen und widerfahrenen Kontingenzen alles in allem doch so steuern zu können, daß das gewollte und widerfahrene Leben schließlich im ganzen bejaht werden kann. Tugenden werden als jene Dispositionen, Fähigkeiten und Fertigkeiten angesehen, die es einem Individuum ermöglichen, sein Leben den eigenen Wünschen gemäß zu meistern und darüber hinaus – und hier beginnen die Schwierigkeiten – ein Leben zu führen, das auch nach objektiven Maßstäben als „gut“ gilt.

       Damit ist das zentrale Problem einer Tugendethik benannt und das für eine moderne Moral bisher Zulässige überschritten. In der Moderne schienen allein Fragen der Gerechtigkeit objektivierbar,53 alle Versuche, Züge des guten Lebens als „objektiv“ auszuzeichnen, ziehen mit guten Gründen den Verdacht auf sich, einer staatlich oder gesellschaftlich gelenkten Despotie über die Bedürfnisse, einer Vergewaltigung sogar zulässiger Wünsche das Wort zu reden. Können die Tugenden unter den Bedingungen der Moderne, d. h. unter Bedingungen einer – wenn auch intersubjektiv konstituierten, so doch – autonom gewordenen Subjektivität, überhaupt noch einen Beitrag zur Philosophie der Moral oder wenigstens zu einer allgemeinen Ethik leisten?54

      Für die Pädagogik resultierte aus dieser Schwierigkeit ein neues Programm der Bildung von Subjektivität.55 Dieses mehr als zweihundert Jahre alte Programm erfordert heute eine Klärung des Begriffs der Subjektivität im Lichte sozialwissenschaftlicher Theorien. Ob „Subjektivität“ sich als ein Ensemble von Rollen präsentiert oder als ein in sich geschlossenes psychisches System; ob sie sich selbst transparent und zudem hochindividualisiert ist; ob sie ein Geschlecht hat oder als Dreiheit von sex, gender und Begehren auftritt; ob sie das Gefängnis des Leibes darstellt und sich am Ende als Produkt historisch gewordener machtgeprägter Diskurse versteht56 – stets geht es um den begründeten Verdacht, daß die vermeintlichen Freiheitsgewinne der modernen Subjektivität in Wahrheit auf undurchschauten gesellschaftlichen Zwangsmechanismen beruhen. Diese Kritik beerbt letztlich die stoische Distanz zum irdischen Leben.

      In der modernen Pädagogik jedoch, in der Linie von Jean-Jacques Rousseau zu Ellen Key interessieren die Subjekte vor allem als Menschen, die in voraussetzungsvollen Sozialisations- und Erziehungsprozessen ihre moralischen Gefühle bilden und mithin Objekt und Subjekt einer „éducation sentimentale“ sind. „Ich fühlte, ehe ich dachte“, heißt es in den Bekenntnissen, „das ist das gemeinsame Los der Menschheit.“57 Rousseau stand dafür, jene Gefühle bis hin zu dem Punkt bildend zu kultivieren, an dem sie den einzelnen Menschen in die Lage versetzen, in seiner politischen Gemeinschaft zu einem tugendhaften Bürger zu werden.

      Tugenden sind, so wurde der Begriff eingeführt – unabhängig davon, ob man das klassische Gespann von Gerechtigkeit, Mut, Klugheit, Besonnenheit sowie Glaube, Liebe und Hoffnung oder einen anderen Kanon in Betracht zieht –, das Ensemble jener individuellen Verhaltensdispositionen, deren Zusammenspiel ein befriedigendes menschliches Leben verheißt. Wohlgemerkt: ein Ensemble! Eine Tugend tritt niemals allein auf; Tugenden haben es an sich, in welcher Kombination auch immer nur in Verbindung mit anderen aufzutreten. Dort, wo eine Tugend verabsolutiert wird, wie etwa das Streben nach Gerechtigkeit im Falle Michael Kohlhaas’, schlägt sie in Sünde um. Heilige und Helden sind keine tugendhaften Menschen. Tugenden sind aber auch nicht – wie vielfach mißverstanden – einfach der individuelle Niederschlag vorausgesetzter Werte. Tugenden sind vielmehr jene Eigenschaften von Personen, die es ihnen überhauptgestatten, sich zu vorfindlichen Werten ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse entsprechend verhalten zu können. Damit scheiden sie – nebenbei gesagt – als Kandidaten für pädagogisierende Moralfeldzüge von vornherein aus.

      Entsteht jedoch mit dem Rekurs auf Tugenden nicht ein Problem für das Programm einer auf Demokratie und Partizipation zielenden, emanzipatorischen Pädagogik? Wird damit nicht das beste Vermächtnis einer ob ihres Intellektualismus ohnehin oft genug kritisierten Theorie preisgegeben? Wenn Moral die Lehre von den universal gültigen Kriterien richtigen Handelns ist, die Theorie der Tugenden jedoch eine Lehre von wesentlichen, in sich wertvollen Charaktereigenschaften,


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