Bildung und Glück. Micha Brumlik

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Bildung und Glück - Micha Brumlik


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Charakteren Kalle und Ziffel: „Ich seh immer nur Handbücher“, hielt Ziffel seinem Freund Kalle vor, „mit denen man sich über Philosophie und die Moral informieren kann, die man in den besseren Kreisen hat, warum keine Handbücher übers Fressen und die anderen Annehmlichkeiten, die man unten nicht kennt, als ob man unten nur den Kant nicht kennte!“88

       II.Skizze einer Theorie des Lasters

      In systematischer Hinsicht bedarf eine Theorie der Tugenden, soll sie denn vollständig sein und auch in moraltheoretischer Hinsicht mit Kantianismus und Utilitarismus konkurrieren können, einer Begrifflichkeit, die eine wertende Auseinandersetzung mit unerwünschten Verhaltensweisen bzw. Charakterzügen ermöglicht.1 Dafür gibt die Tradition zwei Begriffe vor, nämlich den Begriff der „Sünde“ und den Begriff des „Lasters“. Der Begriff der Sünde ist in der jüdisch-christlichen Tradition wesentlich auf den moralischen Willen Gottes bzw. die Differenz zwischen dem allmächtigen, allgütigen und allwissenden Gott hier und dem sich entweder de facto oder notwendigerweise in seinen Handlungen, seinem Menschen- und Gottesbezug verfehlenden Menschen dort bezogen. Im mittelalterlichen Kanon der „Sieben Todsünden“2, des Stolzes (superbia), der Trägheit (acedia), der Begehrlichkeit (luxuria), des Zorns (ira), der Genußsucht (gula), des Neides (invidia) und des Geizes (avaritia), haben die Neigungen, gegen Gottes Willen zu verstoßen, konkrete Gestalt angenommen und stellen das direkte Negativ der Tugenden dar. Die zwischen Judentum, Katholizismus und Protestantismus wesentlichen Differenzen im Verständnis der „Sünde“, die auch dort, wo sie – etwa im Begriff der „Todsünde“ – an Konkretion gewinnen, ohne theologischen Bezug leer bleiben, spielen in einem anderen, einer Theorie der Tugenden angemesseneren Begriff keine Rolle mehr. Die auch noch in der christlichen Philosophie des Mittelalters weiterwirkende Tradition der klassischen Philosophie Platons und Aristoteles’ kennt allerdings noch keinen Begriff der Sünde, sondern „nur“ einen Begriff der kontingenten Verfehlung und menschlicher Mangelhaftigkeit. In dem Ausmaß, in dem das Gegenüber eines transzendenten Gottes nicht mehr als Kriterium für das Gelingen oder Verfehlen menschlichen Handelns fungierte, gewann ein Begriff an neuer Bedeutung, der bereits in den antiken Ethiken eine wesentliche Rolle spielte, der Begriff des „Lasters“.3

      Die formale Deontologie Immanuel Kants, der zwischen ethischen und rechtlichen Pflichten ebenso unterscheidet wie zwischen vollkommenen und unvollkommenen Pflichten, versteht unter „Lastern“ grundsätzliche, zum Vorsatz gewordene Übertretungen von ethischen, unvollkommenen Pflichten. Als Beispiele für derartige Laster dienen ihm Lüge, Geiz und falsche Demut. Die Lüge gilt ihm als „Wegwerfung und gleichzeitig Vernichtung eigener Menschenwürde“.4 Im Lügen, so Kant, instrumentalisiert der Mensch sich selbst zu einer „Sprechmaschine“.5 Der Geiz als Laster wiederum besteht nicht nur im Entzug von Mitteln, die anderen zugute kommen könnten – sei es als Verletzung der Wohltätigkeit oder als Lieblosigkeit –, sondern vor allem darin, Pflichten gegen sich selbst zu verletzen. Die Eigentümlichkeit des Geizes liegt im Sammeln und Besitzen von Mitteln mit dem Vorbehalt, „keines derselben für sich brauchen zu wollen und sich so des angenehmen Lebensgenusses zu berauben: welches der Pflicht gegen sich selbst in Ansehung des Zwecks gerade entgegengesetzt ist.“6

      Die „Kriecherei“ schließlich erscheint ihm als Steigerung der ohnehin überflüssigen, weil keiner Pflicht gemäßen Demut, die insgeheim von einem Impuls des Hochmuts getragen ist. Diese Haltung gezielt einzusetzen, anderer Gunst zu erringen, erweist sich zugleich als Verletzung einer Pflicht gegen sich selbst, nämlich der Selbstachtung als eines moralischen Wesens: „Aus unsrer aufrichtigen und genauen Vergleichung mit dem moralischen Gesetz […] muß unvermeidlich wahre Demut folgen: aber daraus, daß wir einer solchen inneren Gesetzgebung fähig sind, daß der (physische) Mensch den (moralischen) Menschen in seiner eigenen Person zu verehren sich gedrungen fühlt, zugleich Erhebung und die höchste Selbstschätzung, als Gefühl seines inneren Werts, nach welchem er für keinen Preis feil ist, und eine unverlierbare Würde besitzt, die ihm Achtung gegen sich selbst einflößt.“7

      Kants Konzept des Lasters teilt mit den religiösen Begriffen der Sünde noch die Intuition eines Vergehens gegen ein absolutes Gesetz, wenngleich dieses selbst in seiner Vorstellung zwar noch transzendent, aber nicht mehr theistisch gefaßt ist. Die Verankerung des „Lasters“ in verletzter Selbstachtung läßt sich womöglich von der Absolutheit des Sittengesetzes ablösen, wenn man feststellt, daß die Prinzipien der Moral und die ihnen entsprechenden Konzepte der Selbstachtung historisch und kulturell variieren, so daß von Laster immer dann zu sprechen wäre, wenn Menschen Charaktereigenschaften entwickeln, die systematisch und auf Dauer gegen die in ihren Gesellschaften geltenden Regeln der Selbstachtung verstoßen.

      Die klassischen Tugendlehren stellten einen internen Zusammenhang zwischen Tugenden und Glück her – läßt sich eine entsprechende Symmetrie auch negativ bestätigen, so daß Laster und Unglück intern aufeinander bezogen sind? Wer tugendhaft lebt, kann ein mindestens gelungenes, wenn nicht gutes Leben führen, nicht aber führt jemand, der aufgrund unverschuldeter Umstände seinen Lebenszielen nicht nachkommen kann und daher Unglück erfährt, damit schon ein schlechtes, ein falsches Leben. Personen jedoch, die, ohne dies stets zu wollen, Maximen nachgehen, die ihnen immer wieder die Verletzung ihrer Selbstachtung auferlegen, verfehlen ihr Leben in zweierlei Hinsicht: Weder haben sie achtenswerte Ziele ausgebildet, noch setzen sie diese schon ohnehin wenig achtenswerten Ziele mit achtbaren Mitteln um. An dieser Stelle kann keine Phänomenologie des Lasters entworfen werden, das in einer sozialwissenschaftlich reflektierten Semantik eventuell mit Begriffen wie „Sucht“8 oder „Neurose“9 als Erfahrungen der Unfreiheit zu erläutern wäre. Mit dem Begriff „verächtlicher Lebensziele“ und „-strategien“ ist jedoch eine Semantik gewonnen, die einerseits am Minimum einer normativen Theorie des richtigen Lebens festhält und gleichwohl flexibel genug ist, der Unterschiedlichkeit von Gesellschaften gerecht zu werden. Denn „Achtung“ ist allemal – ganz unabhängig von ihren einzelnen Kriterien – stets an die Anerkennungsbereitschaft einer intersubjektiven Gemeinschaft gebunden. Das beinhaltet weniger als alles, was mit dem Begriff der „Sünde“ verbunden ist, und doch mehr als eine nur relativistische, skeptische Position auf akzeptierte Werthaltungen bezüglich der Lebensführung.

      Ein auf den ersten Blick schwächerer Begriff von „Laster“ würde nicht einen Verstoß gegen die Selbstachtung, sondern gegen die „Selbstsorge“ hervorheben. Eine an letzterer orientierte Tugendethik hebt die „Wichtigkeit hervor, alle Praktiken und alle Übungen zu entwickeln, durch die man Kontrolle über sich bewahren und am Ende zu einem reinen Genuß seiner selbst gelangen kann“.10 Die damit angestrebte Kunst der Existenz, die im Erringen einer „Souveränität über sich selbst“ gipfelt, kann im Laster nur noch Souveränitätsverlust erkennen, ganz gleichgültig, ob Ziele und Mittel einem Konzept der Achtung entsprechen. In grundsätzlich denkbaren Gesellschaften, die derartige Prinzipien nicht kennen, scheint es auch keine Laster zu geben. Allerdings kennen alle Gesellschaften das Gefühl der Scham.11 Sich auf Dauer Neigungen zu überlassen, die von Dritten miß- oder verachtet werden, scheint der Erklärung dessen, was als „lasterhaft“ gilt, näher zu kommen. Autonome Persönlichkeiten mögen gleichwohl Neigungen anhängen, die von anderen verachtet werden, ohne sich selbst zu verachten. Von anderen als „lasterhaft“ bezeichnet zu werden, ist jedoch nicht das gleiche wie einzusehen, daß man einer selbst nicht akzeptierten Neigung anhängt, die die Grenzen des für akzeptabel gehaltenen Verhaltens verletzt und deshalb mit spontanen, immer wieder auftretenden Schamgefühlen verbunden ist. Ein Laster ist also jene charakterlich verankerte Neigung, der Personen regelmäßig aus mindestens ihrer Meinung nach freien Stücken anhängen, für die sie von Dritten verachtet werden und derentwegen sie sich selbst schämen. Anders als im Fall der Sünde entfällt jedoch das Element der Schuld, da das lasterhafte Verhalten oder Fühlen bei aller Freiheit als unausweichlich, notwendig und gleichwohl beschämend erfahren wird. Einem Laster anzuhängen wird daher als ebenso paradox wie beschämend erfahren. An diesem Element der nicht verfügbaren, spontanen Scham brechen sich übrigens auch Versuche, eine Theorie des gelungenen Lebens nicht auf dem Begriff der Autonomie, sondern auf dem Begriff der „Souveränität“ zu konstruieren. Dabei geht es nicht nur um Terminologie.


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