Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski
Читать онлайн книгу.oder Wiederbelebung bereits existierender Allianzen (QUAD) im Indo-Pazifik im Sommer 2020 als Gegengewichte zu China unter „Ausbootung“ Frankreichs und der EU als pazifische Mächte war unmissverständlich.
Wir sind, was die Coronapandemie betrifft, immer noch mittendrin; Deutschland befand sich bei Endredaktion dieses Textes in der 4. Corona-Welle. Ich habe in vielen Fällen davon Abstand genommen, das Jahr 2020 betreffende statistische Daten zu verwenden, weil diese bei Endredaktion dieses Textes zumeist noch vorläufiger Natur und zudem durch systematische Verzerrungen charakterisiert waren und eine sinnvolle Einordnung damit kaum möglich ist. Alle Internetquellen, auf die in diesem Buch verwiesen wird, wurden letztmalig im Dezember 2021 überprüft.
Fast zwei Jahre lang konnten die Menschen kaum zwischen Europa, China und den USA hin- und herreisen, waren und sind persönliche Kontakte stark eingeschränkt. Dies wird notwendigerweise geopolitische wie wirtschaftliche Konsequenzen haben; für Europa hoffentlich in dem Sinne, mehr auf eine europäische Wirtschafts- und Sicherheitspolitik hinzuarbeiten, die nicht nur aber vor allem mit den USA, Russland und China abgestimmt ist. Es ist wenig überzeugend, im Pazifik „Flagge zu zeigen“, wenn man die eigenen Grenzen nicht schützen kann.
Dies bedeutet nicht, einem auf sich selbst gestellten Europa das Wort zu reden, wohl aber, die Integration der Weltwirtschaft – auch und gerade aus ökologischen Gründen – teilweise rückgängig zu machen. Pandemiebedingte Hafensperrungen im chinesischen Containerhafen Ningbo mit anschließenden weltweiten Lieferkettenproblemen sind diesbezüglich sicher förderlich. Wenn ChinaChina im Jahr 2020 für etwa ein Drittel der weltweiten CO2-Emissionen verantwortlich zeichnete, dann unter anderem auch deshalb, weil dort nicht nur ein Großteil unserer Kleidung und Computer hergestellt wurde, sondern ebenso Seltene Erden und Magnesium abgebaut und in den Westen exportiert werden. China macht also, natürlich nicht altruistisch, die „Drecksarbeit“ für uns mit! Was passiert, wenn in China Fabriken temporär abgeschaltet werden, um die chinesische Klimabilanz zu verbessern, haben wir im Herbst 2021 gesehen. Zahlreiche Güter waren nicht mehr oder nur eingeschränkt verfügbar und die Preise stiegen auf breiter Front. Die zeitgleich formulierte Behauptung fast aller westlichen Regierungen und Zentralbanken, dass die schlagartig wiedergekehrte Inflation nur ein temporäres Problem sei, kann bereits in naher Zukunft bewertet werden. Notwendige Voraussetzung dafür wäre das Ausbleiben substanzieller Lohnerhöhungen als Einstieg in eine Lohn-Preis-Spirale. Ob diese Erwartung bei gleichzeitiger Erhöhung der Renten um mehr als 5% in Deutschland im Jahr 2022 realistisch sein kann, wird sich ebenfalls rasch erweisen.
Direkt betroffen ist die Wertschöpfung in Deutschland als letztem großen verbliebenen Industrieland in Europa. Von 2020 auf 2021 fielen die Produktionszahlen der deutschen Automobilindustrie in ihren deutschen Fabriken um ca. ein Drittel; zehntausende Arbeiter befinden sich in Kurzarbeit; in vielen weiteren Bereichen wird nicht mehr mit voller Kraft gearbeitet. Wir befinden uns in der bizarren Situation, dass bei niedriger formaler Arbeitslosigkeit und hohen Unternehmensgewinnen in zahlreichen Branchen qualifizierte Arbeitskräfte gesucht und nicht gefunden werden. Wie die heutigen Kinder und Jugendlichen die Corona-Krise verarbeitet haben werden, ist in vielerlei Hinsicht nicht abschätzbar. Ob der Industriestandort Deutschland mittel- bis langfristig davon in Mitleidenschaft gezogen wird, ist eine noch zu beantwortende Frage mit engem Bezug zur BildungBildung und zur Investitionstätigkeit der deutschen Unternehmen. Deutschland exportiert derzeit pro Jahr ca. 250 Mrd. Euro (das sind etwa 3.000 Euro pro Einwohner) ins Ausland; Geld, das für Investitionen in Deutschland in Bildung, Klimaschutz, Verkehrs- und Digitalwende, die innere und äußere Sicherheit und das Gesundheitswesen damit nicht mehr zur Verfügung steht. Sehr offensichtlich wird die Rechtssicherheit, die notwendige Voraussetzung für Unternehmensinvestitionen ist, in vielen Betrieben in einer sich immer schneller drehenden deutschen Gesellschaft als nur unzureichend bewertet.
Ein bereits in der 1. Auflage dieses Buches antizipiertes Ergebnis der Bundestagswahl 2021 war, dass es nun auch in Deutschland keine „echten“ Volksparteien mehr gibt. Die vormals großen Parteien CDU/CSU und SPD sind nicht mehr wirklich groß und die FDP und die Grünen auch nicht wirklich klein. Konkrete Aussagen zum Umgang mit dem demografischen Wandel, der in Deutschland in der kommenden Dekade voll durchschlagen wird, wie zum wiedererscheinenden „Gespenst“ der Inflation, kamen im Wahlkampf praktisch nicht vor. Die in diesem Buch hervorgehobenen Herausforderungen Deutschlands in der BildungBildung, dem Gesundheitswesen, der Rente und der inneren und äußeren Sicherheit wurden nur in homöopathischen Dosen diskutiert und von einer abstrakten Klimaschutzdiskussion dominiert; ebenso war wenig Erhellendes zu Migration sowie zum zukünftigen Verhältnis zu den USA, China und Russland zu erfahren. Der Wahlkampf war weitgehend auf Personen zugeschnitten und inhaltsleer.
Die an und für sich triviale Erkenntnis, dass unsere EnergieversorgungEnergieversorgung nicht gleichzeitig auf Gas, Atomstrom und Kohle verzichten kann, wenn die Gewinnung von Wind- und Solarenergie wetterbedingt unbeständig ist, hat in weiten Teilen Europas zu der Erkenntnis geführt bzw. diese bestärkt, dass wir in mittlerer Zukunft auf die friedliche Nutzung von Atomenergie zurückgreifen werden müssen, will die EU bis 2050 CO2-neutral werden. Dass dieselben deutschen Politiker, die gegen die Justizreform in Polen Sturm laufen und dies mit dem Primat der europäischen gegenüber nationaler Rechtsprechung begründen, abenteuerliche Gedanken entwickelten, als Ende 2021 geleakt wurde, dass die EU-Kommission plane, Investitionen in Atomkraft und Gas als nachhaltig einzustufen, verfestigt den Eindruck, dass Recht nur dann Recht ist, wenn es den eigenen Interessen dient.
Eine Kernthese dieses Buches lautet, dass wir uns mit Philosophie und Geschichte beschäftigen müssen, um die Gegenwart besser zu verstehen und mögliche zukünftige Pfade antizipieren zu können. Lotte Ulbricht, Ehefrau des 1973 verstorbenen DDR-Staats- und Kommunistische Parteichefs Walter Ulbricht, überlebte ihren Mann um 26 Jahre. Auf die Frage, warum der Sozialismus in Deutschland gescheitert sei, vermutete sie kurz vor ihrem Tode, dass die in der DDR herrschenden Eliten zu ungebildet gewesen seien. Darüber sollten wir, in den Spiegel schauend, uns nicht lustig machen. Wir müssen uns immer wieder aufs Neue verdeutlichen, dass ein hoher Bildungsstand der Eliten – und damit ist nachdrücklich nicht nur auf deren technisches Wissen abgestellt – eine notwendige Voraussetzung funktionierender komplexer Gesellschaften ist. Eine direkte Konsequenz, die jede Gesellschaft beantworten muss, liegt in der Auswahl des Personals für die Besetzung von Spitzenpositionen im staatlichen wie im privatwirtschaftlichen Bereich.
Unverändert bleibt meine Überzeugung, dass Europa in einer Zeit weltweiter Investitionserfordernisse, nur eingeschränkt funktionierender Finanzmärkte und kritischer Vermögensverteilungen über die besten Voraussetzungen verfügt, der Zukunft optimistisch entgegenzusehen. Notwendige Voraussetzung dafür ist, nicht nur theoretisch zu verstehen, dass Fleiß und Anstrengung die Grundlage von Wohlstand sind. Diese simple Erkenntnis sollten bei jedem von uns den Mut zum Denken und Handeln befördern.
Rostock, im Januar 2022
Vorwort und Danksagung
Inhalt dieses Buches sind Wissen und Fragen, die ich ursprünglich meinen beiden Kindern vermitteln wollte.
Zu Papier gebracht habe ich einen Teil dieser Gedanken erstmalig im Jahre 2015 in Form von drei Studienheften, die ich für die Euro-FH in Hamburg verfasst habe und die Basis für die Vorlesungsreihe „Economic and Political Challenges for Europe“ an der Riga Graduate School of Law in Lettland waren.
Das Buch besteht aus den drei miteinander verbundenen Teilen „Demografie, Bildung und Arbeit“ (Teil I), „Staat und technologischer Wandel“ (Teil II) und „Deutschland in der Welt“ (Teil III), wobei im abschließenden Teil der Versuch unternommen wird, Deutschland in Europa mit den USA, China, Russland, Brasilien und Indien und den Ländern der sogenannten Untersten Milliarde zu einem Gesamtbild zu vereinen, in dem alle Menschen, Unternehmen und Staaten auf vielfältige Art und Weise miteinander verbunden sind. Dass die Ausführungen zu China deutlich umfangreicher als zum Beispiel die zu Russland oder den USA ausfallen, liegt primär daran, dass China in den vergangenen Jahren oder Jahrzehnten zu dem systemischen Rivalen des westlichen Gesellschafts- und damit Wirtschaftsmodells erwachsen ist. Etwa 70% der Weltbevölkerung leben bereits im Einzugsgebiet der chinesischen Belt and Road Initiative, die in Kapitel 13 und dem nachfolgenden