Die Träume von Macht. Eckhard Lange
Читать онлайн книгу.erträumt hatte. Die Schulzeit war irgendwie fast unerwartet für seine Mutter zu Ende gegangen, und wieder wußte sie nicht, was sie nun raten, vorschlagen oder gar verlangen sollte, wenn es um Thessis Zukunft, seine weitere Ausbildung oder einen möglichen Beruf ging. Also wartete sie erst einmal ab, ob er von sich aus etwas unternahm. Aber auch Thessi wartete. Er hatte Träume, er hatte einen festen Willen, er war voller Machtfantasien, aber er hatte kein Ziel. Doch er hatte das unbegründbar sichere Gefühl, in Kürze würde die Entscheidung ganz von alleine fallen.
Und das geschah nur wenige Tage nach der offiziellen Abschiedsfeier für die Abiturienten. Thessi lag, bereits angekleidet, aber antriebslos auf seinem Bett, als seine Mutter zaghaft anklopfte - sie trat nie einfach in sein Zimmer, seitdem er in das Gymnasium gewechselt war. Auch das eine schweigende Übereinkunft, die er zwar erwartet, aber nie erbeten hatte. Thessi schwang die Beine auf den Boden, blieb aber auf dem Bett sitzen, als er die Mutter hereinbat. Sie hatte einen Brief in der Hand, der nach einem geschäftlichen Schreiben aussah, aber an den Sohn - mit der Bemerkung "persönlich" - adressiert war. Der Absender, eine Hamburger Reederei, sagte weder ihr noch ihrem Sohn etwas. Dennoch ließ sie ihn mit dem Schreiben allein. Sie wußte, daß er mütterliche Neugier haßte.
Thessi hielt den Umschlag eine Weile in der Hand, ehe er ihn vorsichtig aufschnitt. Es war der Briefkopf dieser Reederei, aber darunter folgte ein handschriftliches Schreiben. Und mit wachsendem Erstaunen las Thessi die wenigen Zeilen:
"Mein lieber Sohn,
mit Freude habe ich erfahren, daß Du Dein Abitur erreicht hast, und offenbar sogar mit recht ansehnlichen Noten. Dazu gratuliere ich. Du wirst fragen, wer ich bin, woher ich das weiß, und warum ich mich jetzt - erst jetzt - bei Dir melde. Das alles will ich Dir erklären. Nicht hier in einem Brief, sondern in einem persönlichen Gespräch. Darum lade ich Dich ein zu einer Begegnung. Da ich nicht weiß, was Du von einem Vater hältst, der Dir nie Vater war, schlage ich vor, wir treffen uns auf einem unverfänglichen, neutralen Boden, wo Du jederzeit Gespräch und Beziehung abbrechen kannst, wenn Du es wünscht. Auch dafür hätte ich Verständnis. Wie Du Dich auch immer entscheiden wirst, Du solltest es nicht tun, ehe Du mir Auge in Auge gegenüber gestanden hast. Und ich meine, Dich so gut zu kennen, daß Du einem solchen Treffen nicht aus dem Wege gehen wirst.
Ich mache Dir also ein Terminangebot: Am Dienstag, 17. April, um 15.00 Uhr auf der Bank am Alsterufer unmittelbar vor dem Alsterpavillon. Ich werde dort auf Dich warten. Und sollte es allzu regnerisch sein, was in Hamburg ja nie auszuschließen ist, dann komm bitte in das Café. Ich werde mich bemerkbar machen.
Ich freue mich auf Deinen Besuch. Dein Vater."
Thessi lies das Papier sinken. Sein Blick ging ins Leere, aber sein Verstand stellte viele Fragen, vor allem aber die eine, die ihn am meisten beunruhigte: Woher weiß dieser Mann, der sich mein Vater nennt, offensichtlich vieles von mir? Nicht nur das Abitur, das stand ja in der Zeitung. Aber meine Zensuren. Und auch die Art, wie ich die Dinge angehe. Und weiß er vielleicht noch viel mehr, als er hier preisgibt? Ist mir entgangen, daß ich möglicherweise schon seit Jahren observiert worden bin? Ich könnte es nicht ertragen. Aber ich muß mir Gewißheit darüber verschaffen. Plötzlich ist da einer, der mächtiger scheint als ich, auch wenn es mein Vater sein sollte. Was auch immer er von mir will, jetzt will ich etwas von ihm - Klarheit. Er hat recht mit seiner Vermutung: Ich werde dieser Begegnung nicht ausweichen. Ich will ihn sehen, mit ihm reden, mich vergewissern - Auge in Auge, wie er schreibt. Dann werde ich entscheiden, ob ich ihn lieben kann oder ihn hassen werde. Oder beides?
Er stand auf, ging zur Tür. Seine Mutter saß in der Küche, die Hände reglos auf dem Tisch. Sie wartete, daß er etwas sagen würde. Sie sieht richtig alt aus, schoß es ihm durch den Kopf. Dabei muß sie doch einmal liebenswert gewesen sein, wenigstens für eine Nacht. Und jemand, der einen solchen Brief schickt, hätte sich kaum mit irgendjemand eingelassen. Er unterdrückte den Wunsch, jetzt zum ersten Mal nach dem Vater zu fragen. So sagte er nur: "Ich werde am Dienstag nach Hamburg fahren." Und als sie ihn fragend ansah, fügte er hinzu: "Es ist ein berufliches Angebot. Mal sehen, vielleicht wird ja etwas daraus." Und er war froh, daß sie sich damit zufrieden gab. Es fiel ihm leicht, andere zu täuschen, notfalls auch zu belügen, wenn seine Interessen auf dem Spiel standen. Aber die Mutter mochte er nicht gerne anlügen, immer noch nicht. Es reichte, wenn sie sich selbst belog.
Die Begegnung
Thessi hatte es so eingerichtet, daß er fast eine Stunde vor dem angegebenen Termin in Hamburg eintraf. Er schlenderte die wenigen Schritte vom Hauptbahnhof zur Binnenalster, die im Licht der Frühlingssonne an immer unterschiedlichen Stellen aufblitzte. Dann ging er den Ballindamm hinunter und blieb immer wieder stehen, um die Promenade vor dem Alsterpavillon zu beobachten. Dessen Außenterrasse war gut besucht, die Sonne wärmte bereits. Er machte auch die Bank am Ufer aus. Sie war leer. Dort also würde er sich mit seinem Vater treffen, dort würde er jenen Mann kennenlernen, nach dem er sich als Kind so manches Mal gesehnt hatte und der ihm doch so unendlich fern und fremd erschien - fast wie jemand, der längst schon verstorben war.
Er hatte kein Bild von ihm vor Augen; er hatte seiner Fantasie verboten, sich ein solches Bild zu machen. Sonst war es ihm wichtig für seine Träume, aber jetzt wollte er nichts tun, was wahrscheinlich in einer Enttäuschung enden würde. Er blickte auf die Uhr: Es waren noch zwanzig Minuten bis zur vereinbarten Zeit. Thessi wechselte auf den Jungfernstieg, ging an den Schaufenstern entlang, ohne doch auf die Auslagen zu achten, ließ den Alsterpavillon rechts liegen, ging bis zur Straßenkreuzung, um dann hinüber ans Ufer zu gelangen. Dort lehnte er der steinernen Brüstung und blickte hinunter auf das Wasser, das in kleinen, schmutzigen Wellen ans befestigte Ufer schlug. Ein Fahrgastschiff verließ den Anlegeplatz und nahm Kurs auf die Lombardsbrücke. Thessi drehte sich um, stützte sich rückwärts mit beiden Ellenbogen auf den kühlen Stein und musterte die Gäste, die die vorderste Reihe der Tische auf der Terrasse besetzt hatten. Vielleicht saß er ja dort und wartete, den Blick auf die leere Bank geheftet.
Es könnte doch sein, daß sich jetzt jemand anderes dort niederläßt, dachte er plötzlich - jemand, der die Möwen füttert, der auf den nächsten Dampfer warten oder einfach die Sonne genießen will. Und was dann? Mit raschem Entschluß stieß er sich ab, ging zur Bank und setzte sich, möglichst in die Mitte, um damit anzudeuten: Hier ist kein Platz mehr. Dann zog er das Buch, das er während der Bahnfahrt gelesen hatte, aus dem Rucksack, den er über die Schulter gehängt mit sich trug, und schlug es auf, irgendwo, denn lesen würde er sowieso nicht. Aber es gab ihm den Anschein von Kultur.
Und dann setzte sich jemand neben ihn, rechts an das Ende der Bank. Ein Mann mittleren Alters, das Haar an den Schläfen schon etwas grau, zur Mitte des Schädeldachs hin nur noch dünn. Mit den tiefeingekerbten Falten im gebräunten Gesicht sah er allerdings älter aus, als Thessi erwartet hatte. Zur grauen Tuchhose trug er einen marineblauen Pullover, an der Schultern mit Leder abgesetzt. Wie der Mann, der den Alsterdampfer abgetäut hatte, dachte Thessi.
"Hallo, Thessi, schön daß du gekommen bist," sagte der Fremde. "Hallo," antwortete der Angesprochene kurz. Er wartete ab, was geschehen würde, ohne irgendwelche Gefühle zu verraten. "Wie geht es deiner Mutter?" "Danke, einigermaßen," war die kurzsilbige Antwort. Dann eine Weile Schweigen. "Ich denke, du wunderst dich über dieses Treffen. Und du bist mißtrauisch gegenüber einem Vater, der nach so vielen Jahren plötzlich auftaucht." Thessi blieb stumm.
"Es ist auch nicht leicht zu erklären," fuhr der andere fort. "Als ich deine Mutter traf, war ich auf der Durchreise, hatte kurz Station gemacht bei einem - sagen wir Geschäftsfreund. Ich will ganz offen sein: Es war nur eine flüchtige Begegnung, ohne besondere Absicht, und vor allem ohne einkalkulierte Folgen." Er schwieg einen Augenblick. Da sagte Thessi, ohne dabei irgendwelche Gefühle zu offenbaren: "Ich weiß, ich war nicht gewollt."
"Es mag bitter für dich sein, aber es stimmt. Doch die Antibabypille war noch nicht auf dem Markt. Daß deine Mutter schwanger geworden war, habe ich erst viel später erfahren. Ich fuhr damals zur See, da gab es wenig Kontakt zum Land hin, und mein Geschäftsfreund hat mir nichts berichtet, anfangs jedenfalls."
"Aber Sie haben es erfahren!" Thessi mußte es einfach loswerden, und es klang ziemlich bitter. "Sag doch bitte du, trotz allem bin