Aufstand in Berlin. Heinz-Joachim Simon
Читать онлайн книгу.ausgeredet habe. Die Kinder entwickeln sich nicht immer so wie man hofft. Ich werde aber noch einmal mit ihm reden. Die Singerwerke dürfen nicht verschwinden, und darauf läuft es hinaus, wenn wir von den Amerikanern übernommen werden.“
„Habe ich richtig gehandelt, als ich abschlug, Entlassungen vorzunehmen? Fünfzigtausend, das ist eine Kleinstadt, die ich freisetzen soll.“
„Natürlich hast du nicht richtig gehandelt …, aber in meinem Sinne. Als ich die Geschäfte von meinem Bruder übernahm, der, wie du weißt, mit den Nazis gekungelt hat, nahm ich mir vor, einiges gut zu machen. Unsere Politik war nach dem Krieg davon geprägt, unseren Mitarbeitern einen guten und sicheren Arbeitsplatz zu geben und wir haben ihre Schufterei an den Hochöfen gut bezahlt. Nein, du hast in meinem Sinn gehandelt. Aber ich weiß nicht, ob wir gewinnen werden. Thomas ist ein unsicherer Kandidat.“
„Ich werde nicht nachgeben.“
„Das ist gut. Sorge dich nicht. Mein Testament weist dich als meinen Haupterben aus.“
„Ich sorge mich nicht deswegen. Ich sorge mich, ob ich es schaffe, unsere Mitarbeiter vor den Hyänen zu schützen.“
„Du musst kämpfen“, hörte er den alten Mann sagen. Aber wie er es sagte, schien er von seinen kämpferischen Eigenschaften nicht viel zu halten.
„Ich werde mir Mühe geben“, versicherte Singer.
„Du wirst dir sehr viel Mühe geben müssen. Du hast es hier mit Menschen zu tun, die verdorben sind und denen nicht einmal bewusst ist, was sie tun.“
„Ich werde kämpfen!“, versicherte er noch einmal.
Als der Alte aufgelegt hatte, starrte Singer lange das Telefon an. Was für ein Tag, dachte er. Alles verändert sich.
3
Am gleichen Tag sah Singer Jonas zum zweiten Mal. Er kam gerade aus dem Adlon und verabschiedete sich von Kretschmann. Zufrieden schüttelten sie sich vor dem Hotel die Hände. Beide glaubten ein gutes Geschäft gemacht zu haben und dies ließ sie noch einen Augenblick vor dem Adlon entspannt zusammen stehen und zufrieden auf den Pariser Platz blicken, wo man dabei war, den hässlichen Fußball der Fußballweltmeisterschaft abzubauen. Kretschmann bedankte sich überschwänglich für das gute Essen und Singer fand, dass er allen Grund dazu hatte. Sie hatten ‚Dorade in Salzkruste‘ gegessen und Henkel hatte ihnen dazu einen trockenen kühlen Pouilly Fumé serviert. Genau der richtige Wein zu einem Fischgericht.
Aber der Dank galt nicht allein dem vorzüglichen Essen, mehr noch den Zuwendungen zur Pflege der Geschäftsbeziehungen, die sich auf einige hunderttausend Euro belief zuzüglich dem Urlaub auf der Seemöwe, der selbst die verwöhntesten Gäste zufriedenstellen konnte.
„Sie werden mit Ihrer Gattin traumhafte Tage in der Karibik verbringen,“ sagte Singer und sah dabei über den Pariser Platz zu dem Brandenburger Tor hin, dessen klare Linien ihn immer wieder aufs Neue begeisterte und das er genauso liebte wie den Gendarmenmarkt.
„Wie viele Gäste werden auf dem Schiff sein?“
„Meistens so um die zwanzig. Alles Leute aus der Wirtschaft. Sie werden sich wohlfühlen.“
„Meine Frau wird leider nicht teilnehmen können. Sie hasst die See.“
„Ach ja? Nun, an weiblicher Gesellschaft wird es nicht fehlen. Sie brauchen nur ein Wort zu dem Skipper sagen. Die Seemöwe schippert schließlich durch die Karibik. Sie wissen doch, Rum, Reggae und kaffeebraune Mädchen …“
„Nicht, dass ich ….“
„Nein. Was kann jemand gegen einen kleinen Spaß haben? Sie haben es das ganze Jahr schwer genug.“
Kretschmann war nun sehr erleichtert und verabschiedete sich schnell.
„Sie erhalten die Vertragspapiere noch in dieser Woche.“
„Fein. Und lassen Sie mich wissen, wenn Sie irgendwelche Wünsche haben.“
Sie winkten sich gegenseitig zu und Kretschmann verschwand in dem Gedränge auf dem Boulevard.
Es war später Nachmittag und Singer hätte noch einmal ins Büro gehen können, und normalerweise hätte er es auch getan. Aber dies hätte ihn wieder mit Manitus Forderung konfrontiert, und nach der Einigung mit Kretschmann, die nicht einfach gewesen war und ein gutes Stück Geld gekostet hatte und ihm erst gelang, als er die Seemöwe mit ihren weißen Segeln unter karibischer Sonne in die Schlacht geworfen hatte, war er nun erschöpft und müde. Er ging den Boulevard hinunter und wechselte an der Ecke Friedrichstraße die Straßenseite und lief am Schweizer Haus vorbei zu Dussmann. Ihm fiel ein, dass er sich mit Helen am Abend auf einer Vernissage verabredet hatte.
„Aber nicht, dass du mich wieder versetzt, wie schon so oft!“, hatte sie gesagt.
Er seufzte bei dem Gedanken an die Menschen, die er dort vorfinden würde und die ihm so gleichgültig waren, wie Helen sie für geistreich, interessant und aufregend hielt. Sie hatte andere Ansprüche. Es war erst vier Uhr. Er hatte noch Zeit.
Eugen Singer liebte Bücher und infolgedessen auch Buchhandlungen, wenn er auch jedes Mal bedauerte, dass es fast nur noch Buchhandlungsketten gab, die mit amerikanischen Thrillern vollgestopft waren und wohlfeilen
Seelenmassagen. Als er jung und voller Illusionen gewesen war, hatte er davon geträumt, Schriftsteller zu werden. Er hatte sogar einige Kurzgeschichten geschrieben und sie an die Zeitungen geschickt, aber niemand hatte sie angenommen. Von diesen jugendlichen Träumen war die Leidenschaft für gute Bücher geblieben. Diese Buchhandlungssupermärkte hatten den Vorteil, dass man ungestört stöbern konnte. Er fand eine neue Fitzgerald–Ausgabe vom Diogenes Verlag und kaufte sie erfreut. Neben Faulkner war Fitzgerald sein Lieblingsautor. Niemand konnte die Atmosphäre eines Abends oder die Stimmung einer Gesellschaft so romantisch schildern wie der Autor des Jazz Age. Den Schluss vom „Großen Gatsby“ hielt er für den Höhepunkt der amerikanischen Literatur. Er wünschte sich, dass man auch Faulkner wieder einmal neu auflegen würde, denn seine Bücher aus den achtziger Jahren waren bereits reichlich zerfleddert.
Als er mit seinem Päckchen Bücher aus dem Laden trat, sah er den Alten neben einem Akkordeonspieler stehen und er erinnerte sich sofort, dass er ihm schon einmal begegnet war. Es war vierzehn Tage her. An einem Samstag. Er war mit Helen am Kurfürstendamm einkaufen gewesen. Der Samstagvormittag gehörte ihr. An jedem Samstagvormittag fuhren sie früh in die Stadt, um im KaDeWe einzukaufen. Er konnte sich erinnern, wieviel Spaß ihm das früher gemacht hatte. Doch in den letzten Jahren war daraus mehr und mehr eine Gewohnheit geworden, eine Verpflichtung. So war er jedesmal froh, wenn sie im Regent, im Restaurant „Fischer’s Fritz“ den Vormittag ausklingen lassen konnten. Meistens aßen sie dort einen leichten Fisch, Hechtröllchen in Weißweinsoße oder Loup de mer und tranken dazu ein Glas Taittinger. Er war gern im Regent, mochte die Atmosphäre, die Holztäfelung des Restaurants und den Ausblick auf den Gendarmenmarkt. Das Essen war stets hervorragend, genau so wie der Champagner. Vor dem Hotel hatte er sich gerade von Wilfried verabschiedet, dem hochgewachsenen Portier, der ihn wegen seiner gestelzten würdevollen Haltung an eine Figur aus einem Dickensroman erinnerte. Sie kannten sich seit Jahren, da er oft auch an Arbeitstagen im Regent aß und dort auch gern seine Geschäftspartner unterbrachte. Es war nicht so groß wie das Adlon und ganz in der Nähe seines Büros, und seine Gäste hatten sich immer wohlwollend über den Service geäußert.
Singer wartete auf Helen, die ihren Porsche aus der Garage in der Friedrichstraße holen wollte, als ein Mann auf ihn zukam, der in einem Historienfilm gut einen Propheten abgegeben hätte.
„Man kann nicht gerade sagen, dass du glücklich aussiehst, obwohl du doch eigentlich glücklich sein müsstest, wenn du in solch einem Haus schläfst.“
Mit diesen Worten hatte der Alte ihn angesprochen. Singer erinnerte sich noch, wie betroffen er darüber gewesen war. Es stimmte, was der Alte gesagt hatte. Der eigenartige Mensch war nicht so alt wie er schien. Bei genauer Betrachtung mochte er nicht viel älter als Singer sein. Nur der weiße Bart und das silbern schimmernde Haar, das ihm in Locken auf die Schulter fiel, vermittelten