Aufstand in Berlin. Heinz-Joachim Simon

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Aufstand in Berlin - Heinz-Joachim Simon


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wo man uns in Ruhe lässt, und schon fünfhundert Meter weiter rückt uns die Polizei auf den Hals. Aber die Orte sind nicht so wichtig. Wichtiger ist, was wir in uns tragen. Wir haben Paris in unseren Köpfen.“

      Singer bestellte eine weitere Flasche und war nun genau so zufrieden und glücklich wie Jonas und seine Freunde. Als sie die zweite Flasche geleert hatten, verstand er, was Jonas gemeint hatte, als er von den Kathedralen sprach. Auch ihm schien Szandors Bierstube nicht mehr trostlos und das Neonlicht nicht mehr kalt. Selbst den miesen Kalender mit dem Pin–up–Girl neben ihnen an der Wand hielt er nun für schön und passend, wie ein kostbares Bild in einem Museum. Sie saßen nicht in einer kargen Kneipe mit billigen Fotos von Budapest, sondern in einer marmornen Halle, deren Wände sich hoch oben unter den Sternen vereinigten. Um ihn herum saßen würdige Männer, in kostbares Tuch gehüllt, die darüber sprachen, wie sie den Menschen zum Glück verhelfen könnten. Mit ihren zerfurchten Gesichtern, so fand Singer, hätten sie auch gut in Raffaels Bild von der Philosophenschule zu Athen gepasst.

      Es war warm in der Kneipe und Singer zog sein Jackett aus. Luise strich respektvoll über das Tuch.

      „Von einem wie du würde ich glatt einen Hunderter verlangen. Glatt. Du verdienst mit deinem Stahl sicher viel Geld.“

      „Es geht mir nicht schlecht“, antwortete Singer lapidar.

      „Und was macht man damit, mit dem Stahl?“

      „Man macht Turbinen daraus, Autos, Füße für Bürodrehstühle, und manchmal auch Kanonen.“

      „Das ist nicht gut“, sagte Jonas mit sorgenvoller Stirn.

      „Ich habe keinen Einfluss darauf.“

      „Es müsste ein Gesetz geben, das es verbietet, aus deinem Stahl Kanonen zu machen“, sagte Hermann und schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass die Gläser ins Wanken kamen.

      „Ich habe gehört, dass es sogar ein Gesetz gibt, nach dem alle Stühle in einem Büro fünf Füße haben müssen“, warf Friedel ein.

      „Tatsächlich?“, staunte Jonas. „Gibt es wirklich ein Gesetz, wie ein Stuhl beschaffen sein muss?“

      „Es gibt Normen dafür“, erklärte Singer. „DIN–Normen. Alles ist geregelt. Bis auf die Kleinigkeit, was mit meinem Stahl geschieht.“

      „Was müssen die Menschen für Angst haben!“, sagte der Weißbärtige. „Man muss sich das vorstellen, da sitzen sie in ihren Bürohochhäusern und denken darüber nach, wie viele Beine ein Stuhl haben soll. Demnächst schaffen sie noch eine Norm dafür, wie ein Gesicht auszusehen hat.“

      Alle lachten. Doch nun klang es nicht mehr so fröhlich, und die ausgelassene Stimmung begann sich zu verflüchtigen.

      „Du solltest an niemanden verkaufen, der Kanonen aus deinem Stahl macht.“

      „Du hast recht. Aber wenn ich dann vielleicht nicht genug Gewinne mache, bin ich schnell meinen Posten los.“

      „Du bist ein armes Schwein. Ich finde, du bist ein richtig armes Schwein“, stellte Luischen fest.

      „Das mit den Stühlen interessiert mich. Ich habe doch genug Stühle beim Sozialamt gesehen, die nur vier Beine haben, „ meldete sich Friedel hartnäckig.

      „Die sollten eigentlich längst umgerüstet oder ausgetauscht sein.“

      „Und was geschieht mit den …. ausgetauschten Stühlen?“

      „Man wirft sie weg.“

      „Alles werfen sie weg!“, klagte der Weißbärtige. „Kleider, Autos, Möbel, Brot und auch Menschen. Wer über Fünfzig ist und seinen Arbeitsplatz verliert, gehört zu denen, die weggeworfen werden.“

      „Nicht einmal den Jungen gibt man eine Chance!“, ergänzte Luischen. „Eine Kollegin von mir hat einen achtzehnjährigen Sohn. Sie war so stolz, dass er sogar das Abitur geschafft hat. Er hat hunderte von Bewerbungen geschrieben und dennoch keinen Ausbildungsplatz bekommen.“

      „Die Jungen sind besonders übel dran. So viele bekommen nicht einmal die Chance auf eine Zukunft“, sagte Jonas, bekümmert den Kopf schüttelnd.

      „Es gibt sogar viele mit Studienabschluss, die keine Festanstellung bekommen und sich nur mit Praktika durchs Leben schlagen“, berichtete Singer von den Bewerbungen, die in seiner Personalabteilung eintrafen.

      „Aber du hilfst ihnen doch?“, sagte Luischen und lächelte hoffnungsfroh.

      „So gut es geht. Auch ich habe einen Aufsichtsrat im Nacken, der kontrolliert, ob ich genug Geld für die Aktionäre erwirtschafte.“

      „Wir haben alle jemanden im Nacken!“ stellte Friedel fest. „Die einen die Polente, die anderen ihren Chef. Aber wir sind die Schaumkrone auf dem großen Haufen der Weggeworfenen.“

      „Dabei machen sich die guten Bürger etwas vor!“ sagte Jonas energisch. „Sie haben sich verkauft. Für Autos, Häuser, Kleider und Ansehen. Dafür schuften sie. Jeden Tag haben sie Frondienst und sind sogar stolz darauf, unfrei zu sein. Glücklich sind sie dabei auch nicht.“

      „Unsere Gesellschaft zerfällt in viele Klassen“, brummte Hermann. Da oben sind die Reichen, darunter die mit einem Arbeitsplatz, dann kommt die Masse der Hartz–IV–Empfänger, das Heer der Arbeitslosen und …“

      „Und am Schluss der Pyramide stehen wir, der Abschaum, die Ausgestoßenen, die Penner und Obdachlosen“, ergänzte Jonas.

      „Nach dem Scheitern des Kommunismus gibt es keine Alternative mehr für eine andere Welt. Der Kommunismus hat zu den fürchterlichsten Verbrechen der Menschheit geführt. Seitdem sind die Philosophen ratlos und verweisen darauf, dass unser System das beste von allen schlechten ist“, entgegnete Singer. Er musste doch das Leben verteidigen, das er führte.

      „Es gibt eine Alternative, Eugen!“ sagte Jonas energisch und donnerte mit erhobenem Zeigefinger: „Es müsste eine Demokratie sein, die ihren Bürgern ein Mindesteinkommen sichert. Die die Gewinne der Konzerne beschneidet und dafür sorgt, dass keiner auf der Straße landet und betteln muss.“

      „Dann würden die Konzerne dahin gehen, wo sie nicht so hohe Steuern zahlen müssen. Auch darüber wurde schon viel nachgedacht, aber es scheint eine Sackgasse zu sein“, entgegnete Singer. „Die Konsequenz wäre, dass noch mehr Menschen ohne Arbeit sind.“

      Er dachte an den Aufsichtsratsvorsitzenden. Was würde der lachen, wenn er ihn in einer solchen Diskussion wüsste.

      „Natürlich müssten alle Länder mitmachen. Wofür gibt es denn eine UNO?“, fuhr Jonas unbekümmert fort. „Es wären die Vereinigten Staaten der Erde, und sie müssten sich um den Inder am Ganges genauso so kümmern wie um uns Berber hier an der Spree. Überall wäre Arkadien.“

      „Ach, wäre das schön. Ich bräuchte nicht mehr auf den Strich zu gehen. Hermann hätte seine Kneipe noch. Fränzchen wäre so eine Art Reiseführer. Nur Friedel, der wäre ein Problem. Er ist eigentlich Schlosser, und in einer glücklichen Welt braucht man nun einmal keine Schlösser.“

      „Und, Jonas, was würdest du in Arkadien tun?“, fragte Singer gespannt.

      „Ich wäre Geschichtenerzähler. Ich würde auf dem Alexanderplatz stehen und den Leuten die Nachrichten erzählen, und sicher würde ich dies besser machen als die im Fernsehen. Nicht nur Schlechtes würde ich berichten, sondern auch die guten Seiten einer schlimmen Nachricht. Wenn in einem Bergwerk ein Unglück war, würde ich nicht nur über Tote und Verstümmelte erzählen, sondern auch von dem Wunder, dass der Kumpel Anton mit dem Leben davongekommen ist. Ich würde schildern, wie er dort unten im Dunkeln gelegen hat und wie er betete und hoffte und sich diese Gebete erfüllten. Ich würde nicht nur von den großen Ereignissen berichten, sondern auch von den alltäglichen Begegnungen, die oft viel aufregender sind. Was alles passiert, wenn man den ganzen Tag hinter einer Ladenkasse sitzt. Was man erlebt, wenn man

      frühmorgens allein durch die Stadt hastet, um die Zeitungen zu verteilen, oder was jemandem widerfährt, der gestern


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