Mahamudra Tantra. Geshe Kelsang Gyatso

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Mahamudra Tantra - Geshe Kelsang Gyatso


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Wiedergeburt ist wie ein tiefer und endlos großer Ozean und unsere Probleme und Leiden sind wie die Wellen, die beständig aus ihm entstehen. Wir sind seit anfangsloser Zeit in diesem großen Ozean gewesen und haben Leben für Leben verunreinigte Wiedergeburten angenommen. Wenn wir nicht in diesem Leben die beständige Befreiung von verunreinigten Wiedergeburten erlangen, werden wir für zahllose zukünftige Leben im Ozean des Leidens verbleiben müssen; dieses Leiden wird nie von allein aufhören. Solange wir in diesem großen Ozean verbleiben, werden unsere Körper immer wieder durch die Seeungeheuer des Herrn des Todes gefressen werden und wir werden ständig neue Wiedergeburten erfahren müssen. Dann müssen wir in jedem neuen Leben die Leiden und Probleme des jeweiligen Lebens erfahren. Wenn wir als Mensch geboren werden, haben wir keine andere Wahl, als menschliche Leiden und Probleme zu erfahren, und wenn wir als Tier wiedergeboren werden, müssen wir die Leiden und Probleme eines Tieres erfahren. Dieser Kreislauf verunreinigter Wiedergeburt und Leiden, der „Samsara“ genannt wird, dreht sich fortwährend, Leben für Leben, endlos.

      Unsere verunreinigte Wiedergeburt ist unser eigenes Samsara. Obwohl niemand von uns leiden möchte, entsteht Leiden ganz natürlich und ohne Wahl, da wir in Samsara sind. Es braucht große Weisheit, um unser eigenes Samsara zu erkennen und zu verstehen, dass dies unsere wirkliche Situation ist. Das Verständnis und der Glaube, dass unser eigenes Samsara – unsere verunreinigte Wiedergeburt – die Quelle und die Grundlage all unserer Leiden und Probleme ist, ist die grundlegende korrekte Sicht, die uns zur Erlangung der Befreiung und Erleuchtung führt. Das Entwickeln und Aufrechterhalten einer solchen nichttäuschenden Sicht ist die Basis für die effektive Praxis des Mahamudra-Tantras, welches die eigentliche Methode ist, um das Kontinuum verunreinigter Wiedergeburt zu durchtrennen.

      Wenn wir durch das Nachdenken über diese Anleitungen klar verstehen, dass alle unsere täglichen Probleme und Leiden von unserem eigenen Samsara herrühren, werden wir aus tiefem Herzen glauben, dass es äußerst wichtig ist, unsere eigene verunreinigte Wiedergeburt aufzugeben und die beständige Befreiung von Leiden zu erlangen. Wir sollten Bemühen anwenden, diese nützliche Sicht Tag und Nacht zu bewahren, ohne sie zu vergessen.

      Während wir diese Sichtweise bewahren, sollten wir dann andere Lebewesen in Betracht ziehen. Im Vergleich zu anderen sind unsere Probleme und Leiden unbedeutend, weil andere zahllos sind, während wir selbst nur eine einzige Person sind. Das Glück und die Freiheit zahlloser Lebewesen sind wichtiger als das Glück und die Freiheit einer einzigen Person – wir selbst. Es ist daher unangemessen, nur um unsere eigene Befreiung besorgt zu sein. Wir sollten stattdessen die höhere Sicht entwickeln, die alle Lebewesen schätzt und diese Tag und Nacht bewahren, ohne es uns zu gestatten, sie jemals zu vergessen.

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      Grundlegende Absicht

      Wohin wir auch gehen, was wir auch tun – es hängt von unserer Absicht ab. Egal wie kraftvoll unser Körper und unsere Rede sein mögen, wir werden nie fähig sein etwas zu tun, wenn uns die Absicht dazu fehlt. Wenn unsere Absicht unkorrekt ist, werden wir ganz natürlich unkorrekte Handlungen ausführen, die unangenehme Ergebnisse entstehen lassen; ist unsere Absicht aber korrekt, wird das Gegenteil der Fall sein.

      Aufgrund unserer unkorrekten oder selbstsüchtigen Absichten führen wir verunreinigte Handlungen aus, die die Hauptursache für das Annehmen einer verunreinigten Wiedergeburt, unseres eigenen Samsaras sind. Unser eigenes Samsara, die Quelle aller Leiden und Probleme, wird deshalb durch unsere unkorrekte Absichten erschaffen. Unsere selbst-wertschätzende Absicht möchte, dass wir jederzeit glücklich sind, während sie das Glück anderer vernachlässigt. Dies ist die normale Absicht, die wir seit anfangsloser Zeit, Tag und Nacht, selbst im Schlaf und Leben für Leben gehabt haben. Bis jetzt jedoch haben wir diesen Wunsch nie erfüllt. Dies liegt daran, dass es in diesem Kreislauf verunreinigter Wiedergeburt überhaupt kein wirkliches Glück gibt.

      Im Gebet der Stufen des Pfades sagt Je Tsongkhapa:

      Die Vergnügen Samsaras sind täuschend,

      Geben keine Zufriedenheit, nur Qualen.

      Viele Menschen denken: „Wenn ich reich werde, eine gute Stellung habe oder einen attraktiven Liebhaber finde, dann werde ich glücklich sein“, aber wenn sie dann reich werden, eine gute Stellung haben oder einen attraktiven Liebhaber finden, erfahren sie immer noch kein reines Glück. Stattdessen erfahren sie viele neue Probleme, Leiden und Gefahren; überall können wir viele Beispiele dafür sehen!

      Wenn wir mit unseren Freunden essen und trinken oder in die Ferien fahren, fühlen wir uns vielleicht glücklich, aber in Wirklichkeit ist dieses Glück kein wirkliches Glück, sondern nur eine Verminderung unserer vorherigen Probleme. Die Erfahrung von Vergnügen, wenn wir zum Beispiel Nahrung essen, ist bloß die Verminderung von Hunger, kein wirkliches Glück. Wäre es wirkliches Glück, dann wäre das Essen eine wirkliche Ursache von Glück und daraus würde folgen, dass wir umso glücklicher werden, je mehr wir essen. Dies ist jedoch unmöglich! Nahrung zu sich zu nehmen ist in Wirklichkeit eine Ursache von Leiden, weil wir an einen Punkt gelangen, an dem unser Leiden zunimmt, je mehr wir essen. Diese täuschende Natur kann man in allen anderen weltlichen Vergnügen erkennen.

      Im Leitfaden für die Lebensweise eines Bodhisattvas sagt der große Gelehrte Shantideva, dass wir Erleuchtung erlangen müssen, da es in Samsara kein Glück gibt. In diesem Kreislauf verunreinigter Wiedergeburt gibt es keinen echten Sinn. Der einzige Sinn, eine menschliche Wiedergeburt anzunehmen, liegt darin, Erleuchtung zu erlangen, indem wir dem Pfad zur Erleuchtung folgen. Dieser Pfad ist sehr einfach! Alles, was wir tun müssen, ist unsere selbst-wertschätzende Absicht zu stoppen und zu lernen, alle Lebewesen gleichermaßen ohne Unterschied wertzuschätzen. Alle anderen spirituellen Realisationen werden ganz natürlich daraus folgen.

      Ausführliche Erklärungen darüber, wie wir lernen können andere zu schätzen und wie wir unsere Selbst-Wertschätzung erkennen, vermindern und aufgeben können, können in Verwandle dein Leben und in Das neue Meditationshandbuch gefunden werden. Wir sollten uns fortwährend bemühen, über die Bedeutung dieser Anleitungen nachzudenken und zu meditieren, bis wir eine tiefe Realisation davon gewinnen, alle Lebewesen gleichermaßen zu schätzen. Wir werden erkennen, dass wir diese Realisation gewonnen haben, wenn wir außerhalb der Meditation spontan das Gefühl haben, dass jedes einzelne Lebewesen, sogar das kleinste Insekt, höchst kostbar ist und dass ihr Glück und ihre Freiheit am wichtigsten sind.

      Mit der Realisation der wertschätzenden Liebe denken wir dann darüber nach, wie alle Lebewesen Leben für Leben fortwährend den Kreislauf verunreinigter Wiedergeburt erfahren. Immer wieder müssen sie die Leiden von Geburt, Krankheit, Altern und Tod erfahren, sie müssen sich von dem trennen, was sie mögen, müssen dem begegnen, was sie nicht mögen und können ihre Wünsche nicht erfüllen. Auf diese Weise werden wir die höhere Absicht entwickeln, die sich spontan wünscht, jedes einzelne Lebewesen von ihrem Samsara zu befreien, der Quelle all ihrer Leiden. Dieses allumfassende Mitgefühl und die Weisheit des Mahamudra-Tantras sind wie die zwei Flügel eines Vogels: indem wir uns auf sie verlassen, können wir durch den Himmel der endgültigen Wahrheit aller Phänomene fliegen und schnell die höchste Ebene der Erleuchtung erlangen.

      Erleuchtung ist als eine allwissende Weisheit definiert, deren Natur die dauerhafte Beendigung von fehlerhafter Erscheinung ist und deren Funktion darin besteht, allen Lebewesen geistigen Frieden zu gewähren. Wenn wir Erleuchtung erlangen, werden wir ein erleuchtetes Wesen. Im Buddhismus sind Buddha und erleuchtetes Wesen synonym. Buddha bedeutet „der Erwachte“ und bezieht sich auf alle, die aus dem Schlaf der Unwissenheit erwacht sind und vollständig von den traumähnlichen Problemen und Leiden Samsaras frei sind. Dieser „Schlaf der Unwissenheit“ ist der Schlaf des Festhaltens am Selbst, in dem die Lebewesen ständig verbleiben und aus dem sie nie erwacht sind. Durch die Kraft ihrer Unwissenheit erfährt jedes einzelne Lebewesen ohne Ausnahme fehlerhafte Erscheinungen. Deswegen müssen sie endlos Probleme, Leiden, Ängste und Gefahren erleben – in diesem Leben und Leben für Leben. Nur Buddhas sind frei davon. Eine ausführliche Erklärung der am Selbst festhaltenden Unwissenheit und wie wir sie aufgeben können,


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