Dafür und Dagegen. Eckhard Lange

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Dafür und Dagegen - Eckhard Lange


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dass seine Tochter Ellen Magdalena sich mit Herrn Dr. med. M. Kornwald verlobt habe.

      Als Ulrich nach einiger Zeit die Anzeige zum zweiten Male las, fielen ihm zwei Besonderheiten auf, die er in seiner Überraschung zunächst nicht bemerkt hatte: Es gab weder eine Adresse noch einen Hinweis auf eine Besuchszeit, einen Empfang, wie er in diesen Kreisen doch sonst üblich war. Und ebenso erstaunlich war, dass der Vater den Vornamen des zukünftigen Schwiegersohnes schamhaft verschwiegen hatte. Nun ja, den vielen Patienten des Doktors war er geläufig, auch versteckte dieser seine jüdische Abstammung ja keineswegs, doch Gustav Alvson vermied jeden Hinweis darauf. Das gab Ulrich zu denken, und irgendwie fühlte er sich mitschuldig.

      Denn auch wenn er ja den jüdischen Arzt vor Monaten selbst konsultiert hatte und nicht nur seine Heilkunst loben musste, sondern auch seine persönliche Ausstrahlung, sein freundliches und höfliches, den Patienten zugewandtes Wesen zu schätzen gelernt hatte – seine Artikel im „Völkischen Beobachter“ unter dem Namen Sigurd Nansen pflegten mit jüdischen Mitbürgern nicht gerade freundlich umzugehen, auch wenn er sich jener primitiven Hetze der Rassetheoretiker – noch – enthalten hatte. Schließlich zählte diese Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei eher zu den Splittergruppen im Land.

      Aber dass der Faschismus in Zukunft auch im Reich eine politische Größe darstellen könnte, das hatten die Erfolge Mussolinis in Italien ihm deutlich vor Augen geführt. Es konnte also nichts schaden, wenn er auch in dieser Richtung – natürlich unter einem Pseudonym – journalistisch tätig war. Und trotz aller Erfolge des Buches von Ulrich von Pendragon, er konnte von der alten Versuchung nicht lassen, die unterschiedlichsten Presseorgane mit unterschiedlichsten Artikeln zu bedienen.

      Eine Weile überlegte er, ob er nicht doch mit einem Billett zur Verlobung gratulieren sollte, schließlich kannte er ja beide Brautleute, doch dann verwarf er es wieder. Der einmalige Besuch beim Arzt ebenso wie das einmalige Gespräch mit Elena schienen diese persönliche Geste nicht zu rechtfertigen. Und irgendetwas hielt ihn auch sonst davon ab, Elena zu dieser Verbindung, überhaupt zu einer Verbindung, ehrlich Glück zu wünschen.

      DIE WOHNUNG

       Artur hat den Wagen hinter der nächsten Ecke geparkt. Er möchte nicht, dass die Nachbarn das DDR-Schild entdecken. Noch weiß er nicht, was ihn erwartet, wenn er die väterliche Wohnung betritt. Es hat einige Zeit gedauert, bis er sich in diesem Teil Berlins zurechtgefunden hat, doch nun wird er aussteigen müssen, wird die wenigen Schritte zurückgehen und eine Tür aufsperren müssen. Und auf dem Türschild wird er den Namen von Pendragon finden, den vertrauten, verhaßten Namen, den er schon so lange abgelegt hat und den er doch nie ganz verleugnen kann.

       Er greift in die Jackentasche und holt eine Zigarettenpackung hervor, fingert eine dieser weißen Stangen heraus und entzündet sie. Diese Minuten wird er noch im Wagen sitzen bleiben können. Warum habe ich diese Ängste, warum zögere ich alles so hinaus, denkt er. Der Vater ist doch tot, ich werde ihm nicht mehr begegnen. Und ich werde auch keinem anderen Menschen dort begegnen – das Haus ist verschlossen, der Notar hat mir den Schlüssel übergeben.

      „Es ist nichts verändert worden, seitdem die Putzfrau Ihren Vater tot aufgefunden hat,“ so hat er eben gesagt. „Außer dem Notarzt und den Rettungssanitätern hat niemand das Haus betreten. Auch ich nicht. Ihr Vater hat mir zwar Vollmacht über den Tod hinaus erteilt, aber Sie sind der Erbe, und ohne Ihre Zustimmung fühlte ich mich nicht berechtigt, in die Wohnung zu gehen. Das Testament liegt vor, und ich denke, er hat es seitdem nicht geändert oder widerrufen, ohne mich zu informieren. Einzig die Vorbereitung der Trauerfeier habe ich nach seinen Wünschen in Angriff genommen, da ich nicht wusste, wie schnell Sie herüberkommen würden. Sie finden das alles in diesem Schriftsatz aufgelistet, und wenn Sie es wünschen, werde ich auch Änderungen veranlassen. Aber das kann noch ein paar Stunden warten, fahren Sie nur erst einmal nach Tempelhof.“

       Ja, und nun ist er in Tempelhof, sitzt im Wagen und raucht. Und wartet, bis die Zigarette verglüht ist, bis er keinen Grund mehr hat, der ihn hindern könnte auszusteigen, durch den schmalen Vorgarten zu gehen, die drei Stufen hinaufzusteigen und den Schlüssel in das Schloß zu stecken. Und dann wird er ihm doch begegnen – überall wird er sein, jedes Möbelstück, jedes Bild wird von ihm erzählen, und jener Sessel, in dem er gefunden wurde, wird irgendwo dastehen, vorwurfsvoll, anklagend.

       Er war doch dein Vater, wird er sagen, du hättest den ersten Schritt tun müssen, wird er sagen, er hat so lange auf dich gewartet, aber du bist nie gekommen. Ja, auch das wird er sagen. Und ich werde ihm antworten müssen: Ich konnte es nicht, verstehst du? Ich konnte es einfach nicht.

       Artur Penn gibt sich einen Ruck, drückt die Zigarette aus, öffnet die Tür, um sie in den Rinnstein zu werfen, und nun kann er nicht mehr zurück. Die Tür ist offen, die Straße wartet, das Haus wartet – der Vater wartet. Er steigt aus, verschließt sorgfältig den Wagen, sucht den Hausschlüssel aus der Jackentasche heraus und geht um die Ecke, Schritt für Schritt bis zum Haus Nummer 18a.

       Er stößt die Tür auf und tritt in einen düsteren Flur. Ein Mantel hängt an einer Garderobe, ein breitkrempiger Hut liegt oben auf der Ablage, Winterstiefel stehen seitlich an der Wand. Artur mustert die Türen, die zu beiden Seiten abgehen, dann wendet er sich zur Rechten. Dem äußeren Bild des Hauses nach würde er hier das Wohnzimmer finden – jenen Raum, in dem der Vater gestorben ist. Dort hinein wird er als erstes gehen, er muß die Gespenster vertreiben, die ihn sonst verfolgen würden.

       Er öffnet die Tür, der Raum ist groß und hell, viel größer, als er erwartet hat. Auch die Regale sind hell, vollgestopft mit Büchern. Zwei kleine Sessel flankieren ein rundes Tischchen, eine Stehlampe hat sich zwischen sie gedrängt. Auf dem Tisch eine Flasche Rotwein, noch ungeöffnet, daneben ein sauberes Glas. Zur Straßenseite hin ein breites Fenster, ein wenig ausgestellt, wie es in jenen Jahren häufig eingebaut wurde. Auch hier eine Stehlampe, und daneben der breite Polstersessel, mit hoher Rückenlehne, Ohren an den Seiten. Eine Decke liegt daneben auf dem Boden, vermutlich haben die Retter sie zur Seite geworfen, als sie den Toten untersuchten. Die Lampe hat eine Ablage, und dort liegt ein Buch. Artur schrickt zusammen, als er es näher betrachtet: Es ist eines seiner Werke! Darin also hat der Vater gelesen in den letzten Stunden seines Lebens, ausgerechnet darin!

       Der Sohn nimmt es in die Hand, es ist eine Erzählung aus den letzten Jahren des Krieges, handelt von einem Sechsjährigen, der von einem pommerschen Schloß aus auf die Flucht geht, begleitet von einem väterlichen Freund, der von sowjetischen Truppen eingeholt wird, zurückkehrt und wieder fort muß, Zuflucht findet in einem mecklenburgischen Dorf, Außenseiter ist und dann doch Freunde gewinnt, als er dort die jungen Pioniere gründet.

       Es ist seine Geschichte, wenn auch nicht in allen Einzelheiten so erlebt, und der Vater hat sie miterlebt. Mit welchen Gefühlen? Mit einem schlechten Gewissen, oder mit einem gewissen Stolz auf diesen Sohn? Artur blickt auf den Sessel, nimmt plötzlich wahr, wie abgeschabt das Polster ist, wie ärmlich das Ganze. Dort hat er gesessen, gerade erst siebzig – oder sind es einundsiebzig Lebensjahre? – und doch alt, nicht mehr gefragt als Literat, als Vordenker.

       Dort hat er gesessen und in der Vergangenheit gelesen, der Vergangenheit des eigenen Sohnes, der nun selber zur Elite gezählt wird – drüben, in einer anderen, sozialistischen, fortschrittlichen, zukunftsorientierten Welt. Ob seine letzten Gedanken diesem Sohn galten, ehe er das Buch aus der Hand legte – oder ist es ihm gar vom Schoß gefallen und erst die Retter haben es dort auf der Konsole abgelegt, damit es sie nicht hindere?

       Artur Penn tritt ins Zimmer zurück, sein Blick überfliegt die Titel der Bücher, ein buntes Gemisch, er kann keinerlei Ordnung erkennen, aber da sind auch noch zwei weitere Bücher von ihm, irgendwo dazwischen. Eine ganze Wand wird von diesem Regal eingenommen. Artur sucht nach Bildern, aber die hell gestrichenen Wände sind leer. Er geht zurück auf den Hausflur, auf der anderen Seite führt eine Tür in eine Küche, die zweite in ein Bad. Hinter der dritten verbirgt sich die Treppe ins nächste Geschoß. Er steigt hinauf, wieder ein Bad, eine Abstellkammer, zwei Zimmer, offensichtlich


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