Dafür und Dagegen. Eckhard Lange

Читать онлайн книгу.

Dafür und Dagegen - Eckhard Lange


Скачать книгу
Parteien, verschiedene und einander bekämpfende Weltanschauungen. Folglich begann er sich zu verkleiden, bevor er sich auf den Weg zur jeweiligen Redaktion machte, die Pseudonyme verwandelten sich in Pseudo-Existenzen.

      Dabei war er längst nicht mehr nur als Lieferant gelegentlicher Berichte tätig, es erschienen immer häufiger auch längere Artikel, Kommentare, Essays, und irgendwann stieg er auch in die journalistische Elite auf, wurde der Ehre als Leitartikler teilhaftig. Für wen und worüber er auch schrieb, stets wurden sein geschliffener Stil, seine einprägsamen Formulierungen, seine scharfsinnigen Schlussfolgerungen gerühmt, und zunehmend auch sein ätzender Spott, seine Häme gegenüber Andersdenkenden gefürchtet.

      Die Krönung dieses fast schon schizophrenen Handelns war eine wortgewaltige, bissige und hinterhältige direkte Auseinandersetzung zwischen den Leitartiklern des sozialdemokratischen „Vorwärts“ und des neugegründeten Organs eines gewissen Julius Streicher mit Namen „Der Stürmer“, das der damals noch unbedeutenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei nahestand.

      Und niemand konnte auch nur ahnen, dass die beiden Kontrahenten in Wahrheit ein und dieselbe Person waren. Dabei hatte Ulrich das Studium der Rechte mehr und mehr vernachlässigt, auch wenn er –vor allem dem Vater gegenüber – an dieser Fakultät festhielt. Ob er allerdings je hier ein Examen ablegen würde, überließ er einer Zukunft, die ihm selbst immer ungewisser erschien. Aber als höheres Semester bei den Juristen konnte er sich unverstellt als Ulrich von Pendragon geben, den Sproß eines pommerschen Adelsgeschlechtes, bodenständig, pflichtbewusst, bescheiden. Und ganz ohne politische Ambitionen. Nur so blieb ihm auch die Freundschaft mit Merlin erhalten, die er einfach brauchte, um irgendwo noch einen Halt zu finden, ein letztes Stück innere Wahrheit.

      DIE GRENZE

       Artur legt den Passierschein sorgfältig gefaltet in seinen Reisepaß. Sein kleiner brauner Lederkoffer ist leicht: Außer den üblichen Reiseutensilien für das Bad hat er nur einige weiße Oberhemden und natürlich den dunklen Anzug hineingelegt. Einziges Gewicht stellen drei Exemplare seines letzten Romans dar, der bislang nur in einem Ostberliner Verlag erschienen ist. Als Autor hat er das Recht, eigene Druckerzeugnisse als persönliche Geschenke in den Westen mitzunehmen. Er legt den Koffer offen auf den Rücksitz, daneben wirft er seinen Trenchcoat. Es ist immer noch regnerisch und schon herbstlich kühl, er würde ihn brauchen, zumal auf dem Friedhof, wenn er die Lederjacke gegen den Sakko tauschen muss. Aber noch weiß er nicht, was ihn dort drüben, in dieser anderen Welt, erwarten würde.

       Den Vater hat er nicht mehr gesehen, seit der nach den Unruhen im Juni 1953 die DDR verlassen hatte. Obwohl er mehrfach auch in Westberlin gewesen war anlässlich von Lesungen oder auch zu Kongressen, nie hatte er den Weg nach Tempelhof gefunden, wo Ulrich von Pendragon ein schmales Stadthaus besitzt. Um genau zu sein: Er hat dieses letzte, aber entscheidende Stück Weg von der Gartenpforte bis zur Haustür nicht gefunden, als er einmal die Straße langsam hinauf und wieder hinunter gefahren war, um wenigstens von außen zu sehen, wo sein Vater lebt. Der Anblick des Hauses, die undurchsichtigen Gardinen vor den Fenstern, der ungepflegte Vorgarten – das alles hatte ihn merkwürdig berührt, hatte für kurze Zeit auch ein Gefühl von Sehnsucht in ihm wachgerufen, aber er war draußen geblieben, aus mancherlei Gründen.

       Er wusste, dass man seitens der Staatssicherheit auch ihn überwachen würde, wenn er in den Westen fuhr, und er wusste auch, dass dort eine Kontaktnahme mit jenem Pendragon wohl kaum auf Verständnis stoßen würde, selbst wenn dieser Republikflüchtling der eigene Vater war. Doch das hätte ihn kaum abgehalten von einem Besuch. Es war dieser unheilbare Bruch zwischen Vater und Sohn, diese unüberwindbare Fremdheit, die ihn an jenem Tag und auch all die Zeit danach draußen bleiben ließ.

       Selbst der Tod der Mutter hatte sie nicht zusammengeführt. Artur war, obschon er von ihrer Krankheit wusste und auch davon, dass sie nur noch wenige Tage zu leben hätte, mit einer Delegation ans Schwarze Meer gereist. Und er war froh, dass er damit eine Ausrede hatte. Das Grab der Mutter hatte er viel später einmal aufgesucht, ohne jedoch Trauer zu empfinden.

       Der Mann mit dem schon etwas schütteren, aber noch durchgehend dunklen Haar, das seine hohe Stirn bereits freigegeben hat, streift sich die Lederhandschuhe über, die er stets beim Autofahren trägt, weil seine Hände rasch feucht werden – eine unangenehme Eigenschaft, die ihn immer wieder unsicher macht, wenn er auf irgendwelchen Empfängen viele Hände schütteln muß. Und er weiß: Er wird auch jetzt wieder schwitzen, wenn er sich den Grenzkontrollen nähert.

       Er versucht, den Gedanken zu verdrängen, während er den Wagen startet. Langsam steuert er auf die Heinrich-Heine-Straße zu, er hat es nicht eilig. Er hat sich drüben ganz in der Nähe des Flughafens ein Hotelzimmer reservieren lassen; auf keinen Fall wird er im Haus des Vaters übernachten. Aber er wird es betreten müssen, endlich einmal hineingehen müssen, er wird herumgehen und sich umschauen, in den Manuskripten des Vaters blättern, und vielleicht wird er auch auf irgendwelche Menschen treffen, die dort mit dem Vater gelebt haben mögen. Auch das weiß er nicht. Was weiß er überhaupt? Die Frage beschäftigt ihn noch, während er den Wagen langsam vor den Grenzanlagen ausrollen lässt, um auf die Weisung des Volkspolizisten zu warten, der die wenigen Fahrzeuge zu den Kontrollen dirigiert.

       Es hat wieder angefangen zu regnen, die Tropfen laufen in langen Bahnen die Frontscheibe hinunter. Artur betätigt den Wischer, denn der Uniformierte dort draußen verschwimmt langsam vor seinen Augen. Doch der hat zur Zeit andere Sorgen, er geht mit eiligen Schritten auf eine Tür des Abfertigungsgebäudes zu, um kurz darauf mit einem Regenmantel zurückzukommen.

       Artur Penn nimmt das alles wahr, ohne dass es bis in sein Gedächtnis gelangt. So schrickt er zusammen, als jemand an das Seitenfenster klopft und barsch seine Papiere verlangt. Doch plötzlich wird der Ton freundlicher: „Ach, Sie sinds, Genosse Penn! Ihr neues Buch drüben vorstellen?“ „Nein, meinen Vater begraben,“ antwortet Artur, und der Grenzer bemüht sich sichtlich, bekümmert dreinzuschauen: „Mein herzliches Beileid!“ Dann winkt er ihn auf eine freie Spur: „Gute Reise!“ Und zu einem Kollegen gewandt, der misstrauisch zuschaut: „Geht in Ordnung. Es ist der Penn.“

       Artur Penn durchkurvt die Sperranlagen. Es ist doch schön, wenn sie selbst hier deinen Namen kennen, denkt er. Dem Beamten dort drüben wird er sicher nichts sagen. Auch wenn zwei seiner Bücher inzwischen auch im Westen erschienen sind. Aber wer liest dort schon Ostliteratur – und dann noch solche, die von Walter Ulbricht öffentlich gelobt worden ist. Dabei hat der Genosse Staatsratsvorsitzender wohl kaum die leise Ironie in seinen Werken bemerkt, die verschlüsselte Kritik an seiner Form von Sozialismus. Alles ist hier verschlüsselt, denkt Artur. Verschlüsselt und verschlossen. Wie diese Grenze.

       Mehr als einmal haben westliche Kollegen ihn – abends an der Bar und nach einigen Cocktails – schon mit verschwörerischem Blick gefragt: „Und – bleiben Sie diesmal hier?“ Und mehr als einmal wurde dieser Blick verständnislos, wenn er sagte: „Ich bleibe da, wo ich hingehöre. Wer soll denn den Sozialismus entwickeln, wenn nicht wir? Sollen wir das den Parteikadern überlassen?“ Nein, er wird das weder diesen Sturköpfen in der Partei überlassen noch jenen Salonsozialisten drüben im Westen oder Leuten wie seinem Vater, bei denen man nie weiß, was sie wirklich denken.

       Ach, der Vater! Hat er überhaupt an etwas geglaubt, für etwa gekämpft, auf etwas gehofft? Vielleicht hätte ich ihn danach fragen sollen. Doch da war diese Grenze zwischen uns, die reale und die der Herzen. Und nun gibt es noch jene andere, letzte Grenze. Nun ist es zu spät.

      6. Kapitel

      Ulrich von Pendragon war froh, wieder einmal zu Hause zu sein. Die vorlesungsfreien Wochen an der Universität gaben ihm die Möglichkeit, der Hektik Berlins für einige Zeit zu entfliehen. So sehr er sie selbst gesucht hatte und meist auch genoß – es war wunderbar, wieder einmal auszureiten, die ehrerbietigen Grüße der Leute zu erwidern und dann quer über die abgeernteten Felder zu traben, die Felder, die seine Vorväter seit Menschengedenken bestellt


Скачать книгу