Dafür und Dagegen. Eckhard Lange

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Dafür und Dagegen - Eckhard Lange


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reisen konnte. Den Zugwechsel in Stettin nutzte er, dort das Herzogsschloß zu besichtigen. Auch Pommerns regierende Fürsten waren slawischer Abstammung gewesen, bis der letzte Bogislaw aus dem Geschlecht der Greifen starb. Dort ruht er nun in der Krypta neben seinen Vorfahren – auch wenn seine Erben, die Brandenburger und die Schweden, siebzehn Jahre gebraucht hatten, den aufgebahrten Herzog endlich zu bestatten.

      Diese traurige Anekdote erschien Ulrich wie ein Gleichnis: Die europäischen Großmächte jener Zeit zerteilten dieses Land, Deutsche und Schweden tilgten auch die letzte Erinnerung an slawische Herrschaft. Doch was war in Pommern schon slawisch, was deutsch? Wieviele Ehefrauen aus deutschen Fürstenhäusern haben das Wendentum der Greifen fünf Jahrhunderte hindurch verwässert, und wie viele sich so national und deutsch gebärdender Junkerfamilien zählen Wenden zu ihren Vorfahren! Sollte also nicht auch Merlin das Recht haben, beides zu sein, Sorbe und Deutscher?

      Der Freund empfing ihn auf dem Stettiner Bahnhof im Norden Berlins und begleitete ihn zu seiner neuen Bleibe. Sie lag günstig, Ulrich konnte die Friedrich-Wilhelm-Universität mit einem kürzeren Fußmarsch erreichen. Vor allem aber logierte er nicht weit entfernt von der kleinen Wohnung, die Merlin gemietet hatte. Es dauerte eine Weile, bis der junge von Pendragon zu einem echten Studenten mutierte. Es galt ja nicht nur, die Jahre des Krieges zu verdrängen, die ihn von den meisten zwar nur unwesentlich jüngeren, aber weitaus unreiferen Kommilitonen trennten; es war diese ungezwungene, von nur wenig Konventionen geprägte Lebensart, die er erst lernen musste.

      Und der Freund hielt ihn davon ab, sich vorschnell einer jener Korporationen anzuschließen, denen gerade Studenten aus dem Adel wie selbstverständlich beitraten. Aber es reizte ihn auch nicht, mit einem Säbel auf dem Paukboden herumzufuchteln; er hatte diese Waffe in ganz anderen Zeiten geführt und dem Gegenüber nicht nur lächerliche Schmisse zugefügt. Und dennoch schienen ihm die Burschenschaften ein Hort des Hergebrachten, des von zu Hause Gewohnten zu sein. Nun gut, er könne sich ja immer noch entscheiden, sagte er sich. Vielleicht war es doch sinnvoll, zunächst dieses neue und ungewohnte Leben um ihn herum zu beobachten. Und vorerst war er ja auch nicht auf Protektion angewiesen, mit dem monatlichen Wechsel des Vaters blieb er finanziell unabhängig.

      Bei aller Freude über das neugewonnene Wissen blieb Ulrich von Pendragon doch auf seine Weise der pommersche Junker und verabschiedete Offizier. Und so erhielt er am 12. März 1920 Besuch von einem pommerschen Nachbarn, der wie er an der Westfront gekämpft hatte, aber keinen Abschied genommen, sondern sich einem Freikorps angeschlossen hatte und nun südlich von Berlin Dienst tat. Ulrich ließ ihn eintreten und bot ihm ein Glas Wein an, das der andere jedoch ablehnte: „Ich kann zur Zeit keinen Alkohol gebrauchen, lieber Pendragon, die Umstände erfordern äußerste Nüchternheit.“ Und auf einen fragenden Blick hin fuhr er fort, indem er sich vorbeugte und die Stimme senkte: „Es stehen große Veränderungen bevor im Reich. Ich kann Ihnen da keine Einzelheiten verraten, aber wir brauchen alle Patrioten, und vor allem alle Frontoffiziere für unsere Sache.“

      „Und um welche Sache handelt es sich?“ fragte Ulrich vorsichtig. „Sie kennen die Bedingungen der Sieger: Die Reichswehr wird praktisch zerschlagen, die Korps sollen aufgelöst werden. Das können wir Offiziere nicht hinnehmen. Aber diese Herren in der Reichregierung sind ja unfähig, den Alliierten die Stirn zu bieten. Heute Nacht werden wir in Berlin einmarschieren, Lüttwitz hat der Regierung ein Ultimatum gestellt und jetzt das Kommando übernommen. Wir sind sicher, dass die Kameraden von der Reichwehr sich uns anschließen werden. Diese unfähige Regierung wird hinweggefegt, ein neuer Reichskanzler steht schon bereit. Jetzt heißt es, zusammenzustehen, Herr Kamerad. Und ich bin sicher, Sie machen da ebenfalls mit.“ Er blickte sein Gegenüber herausfordernd an.

      Plötzlich war die politische Gegenwart wieder ganz nahe, die Ulrich von Pendragon so lange aus seinem Leben herausgehalten hatte. Das alles klang einleuchtend, aber es war doch letztlich auch Meuterei. Nur dass diesmal nicht irgendwelche gemeinen Soldaten oder Matrosen sich auflehnten, sondern Offiziere an der Spitze standen. Und immerhin war General von Lüttwitz Oberbefehlshaber der Reichswehr hier in Berlin, ein verdienter Militär von altem, schlesischem Adel.

      Doch Ulrich zögerte. Das alles kam zu überraschend, er wusste zu wenig von der politischen Lage, kannte die Forderungen und Ziele der Putschisten nicht – und ein Putsch war es doch allemal, was hier geplant war. Wenn er sich wenigstens erst einmal mit Merlin darüber beraten könnte! Und eines war sicher: Es würde nicht ohne Blutvergießen abgehen, Gustav Noske hatte auf Arbeiter schießen lassen, er würde auch auf rebellierende Truppen schießen – wenn es denn regierungstreue Soldaten geben wird.

      Ulrich richtete sich auf und legte seinem Besucher die Hand auf die Schulter. „Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Zieselitz. Aber ich kann nicht in ein paar Stunden zum Kampf antreten, ohne Waffen, ohne Uniform. Ich bin kein wilder Revoluzzer wie diese Spartakus-Leute. Wir sind doch Offiziere, das muß man sehen können. Und was ich dazu brauche, liegt daheim in Platikow.“ Werner von Zieselitz war sichtlich enttäuscht, aber er konnte dem nichts entgegensetzen. Und außerdem drängte die Zeit, er hatte noch einige Besuche vor sich.

      Er erhob sich: „Schon gut, Pendragon. Da kann ich eben so schnell auch nichts machen. Aber wir rechnen mit Ihnen, wenn die Sache sich hinziehen sollte.“ Er reichte dem anderen die Hand und griff nach seinem Mantel. „Wünschen Sie uns Glück, Herr Kamerad,“ sagte er zum Abschied. Ulrich blickte ihm nach, wie er die Stiege hinuntereilte. „Jetzt werden schon wieder Deutsche auf Deutsche schießen,“ murmelte er. „Und irgendwann werde ich auch dazwischen sein. Und ich weiß noch nicht einmal, auf welcher Seite.“

      Der junge Baron sollte Recht behalten: Es gab Tote in den nächsten Tagen, mehr als genug. Aber dem Putsch war kein Erfolg beschieden. Es waren nicht die Kameraden von der Reichswehr, und es waren auch nicht die streikenden Arbeiter, die ihn zusammenbrechen ließen. Es waren die Beamten, diese unterwürfigen und doch selbstbewussten Männer mit ihren Ärmelschonern, die sich an das oberste Gesetz aller preußischen Beamten hielten: Zu sagen hat allein der Vorgesetzte. Und das war nicht irgend ein Hergelaufener, das war letztlich der Minister. Und der war zwar geflohen, aber er war und blieb der Vorgesetzte, Repräsentant des Staates, dem sie dienten, wie sie bislang dem Kaiser gedient hatten.

      So war Ulrich von Pendragon froh, nicht in die Sache verwickelt worden zu sein. Und er zog daraus seine Lehren: Halte dich möglichst aus allem heraus, warte ab, wie sich die Dinge entwickeln. Was du selber denkst, behalte für dich. Dies sind nicht mehr die Zeiten, in denen alles überschaubar ist, seine Ordnung hat und auch behält. Er war in diesen Tagen zum Skeptiker geworden, und das war der erste Schritt zu einem Zyniker. Doch das alles war ihm nicht bewusst.

      4. Kapitel

      Aus dem Fenster seines Logis hatte Ulrich die Lastkraftwagen fahren sehen, besetzt mit den Soldaten des Freikorps, hatte auf Helme und Gewehre geblickt und Schüsse aus dem Regierungsviertel gehört. Er hatte auch auf Gruppen streikender Arbeiter hinuntergeblickt, die zum Lustgarten zogen. Das alles hatte ihn aufgewühlt, und es hatte ihn zweifeln lassen an der Vernunft des Menschen, an seinem Verstand, seinem Urteilsvermögen. So wurde eine simple Aufgabe, in einem juristischen Seminar den Studenten gestellt, zu einem Wendepunkt in seinem Leben.

      Der Professor – er konnte sich später trotz allen Grübelns nie seines Namens erinnern - hatte eine einfache Szene geschildert: „Stellen Sie sich bitte folgendes vor, meine Herren: Sie befinden sich auf der Straße und beobachten, wie eine Mutter mit einem kleinen Jungen an der Hand auf dem Trottoir, oder, wie man neuerdings sagt, auf dem Bürgersteige entlanggeht. Da nähert sich hinter ihrem Rücken ein Automobil auf der Fahrbahn. Ehe es jedoch die beiden überholt, reißt sich das Kind plötzlich von der Hand der Mutter los und läuft auf die Straße. Der Fahrzeuglenker bemüht sich, das Gefährt noch zum Stehen zu bringen, doch es erfasst das Kind und schleift es mit sich. Der Junge ist also dadurch verwundet, vielleicht sogar getötet worden. Soweit das Faktum.

      Wie aber werden Sie es später schildern? Sie werden es kaum ohne Emotionen tun, denn das Schicksal dieser drei Personen wird sie berühren. Und – das ist der eigentliche Punkt: Sie werden mit großer Wahrscheinlichkeit auch sofort für oder gegen die eine oder andere Person Stellung beziehen, unbewußt bereits ein Urteil fällen. Und dieses Urteil wird in ihren


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