Dafür und Dagegen. Eckhard Lange

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Dafür und Dagegen - Eckhard Lange


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gezogen waren genau wie er. Dabei hatten sie doch alle ihr Vaterland, Freund wie Feind, fest umgrenzt, unbestritten. Und dann hatte er sich gefragt: Wieso bin ich hier eigentlich in diesem fremden Land? Wem diene ich damit – meinem Kaiser, meinem Volk, meiner Heimat?

      Ja, es waren revolutionäre Gedanken, die Ulrich von Pendragon, dieser pommersche Landedelmann, Glied einer uralten Adelsfamilie, auf den Gütern rings um Platikow ansässig seit Jahrhunderten, blaublütig und standesbewußt, plötzlich in den Sinn kamen angesichts des tausendfachen Sterbens um sich herum – Gedanken, die er sich in aller Eile wieder selbst verbot zu denken. Aber die sich nie ganz verdrängen ließen, die ihn umtrieben, belasteten, unsicher machten, und die er so manches Mal nur mit kräftigen Schlucken aus einer gewissen Flasche vertrieben hatte.

      Und jetzt, da sein Vaterland diesen Krieg verloren gegeben hatte und alle Ordnung in Frage gestellt war, jetzt, da all dieses Kämpfen und Sterben vergeblich erschien – jetzt stellten sich diese Fragen drängender als je zuvor. Und eines war ihm plötzlich bewusst geworden: Hier in Platikow, in der pommerschen Provinz, würde er niemals eine Antwort finden. Die Kreise, in denen er verkehrte, verkehren musste, wussten sie nicht, weil sie schon die Fragen nicht verstanden. Plötzlich sah Ulrich es klar und deutlich: Er musste fort, dorthin, wo darüber geredet und gestritten wurde.

      Der dumpfe Gong schallte durch die Flure, der wie stets zum Abendessen in den Speisesaal rief, wo sich unter den strengen Blicken der Vorfahren, die aus ihren geschnitzten, goldgefassten Rahmen auf die Lebenden herabblickten, die Familie und einige Auserwählte um den mächtigen Eichentisch versammelten, der schon Generationen der Pendragons zu ihren Mahlzeiten gedient hatte. Jeder hatte dort seinen angestammten Platz, und jeder erhielt sein Essen nach festgelegter Rangfolge, wie es die Ordnung gebot.

      Geordnet war auch alles andere: Wer zu welcher Zeit das Wort ergreifen durfte, ehe das allgemeine und zwanglose Gespräch freigegeben wurde, wenn der letzte Gang mit einem letzten Trunk beschlossen worden war. Da konnte Ulrich dann endlich aussprechen, was er soeben beschlossen hatte: „Ich werde ein Studium beginnen.“ Erstaunen ringsum, fragende Blicke. „Es scheint mir wichtig, dass jemand in unserer Familie sich zum Juristen ausbilden lässt. Du weißt selbst, Vater, wie schwer es heute geworden ist, einen Betrieb wie den unseren ohne den Rat von Anwälten zu führen. Mein Bruder hat inzwischen beste Kenntnis vom Wirtschaften hier auf den Gütern, er kann das sicherlich weit besser als ich.“

      Und als ob er den Einwand des Vaters erspürte, ergänzte Ulrich: „Ich weiß – die Leitung von Platikow steht dem Erstgeborenen zu. Aber was spricht dagegen, den Besitz gemeinsam zu verwalten – der eine mit den Kenntnissen des Juristen, der andere mit dem Wissen um die Landwirtschaft. Du kennst deine Söhne, Vater. Wir streiten uns zwar gelegentlich, aber wir reden miteinander, und wir hören auch aufeinander, wenn es um die besseren Argumente geht. Doch noch bist du hier Herr auf Platikow, und das hoffentlich noch recht lange.“

      Der Vater sah ihn aufmerksam an, und er musste sich eingestehen, dass er juristischen Rat schon oft genug hätte gebrauchen können. „Und wohin willst du gehen?“ „Ich sehe da eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Königsberg oder Berlin. Und ich wähle die letztere. Wenn man den Gerüchten Glauben schenken kann, wird es im Osten Gebietsveränderungen geben. Die Polen werden Zugang zur Ostsee erhalten, das melden alle Gazetten. Dann liegt Königsberg außerhalb des Reiches. Was nützt mir dann eine ehemals ruhmreiche Fakultät! Nein, ich bevorzuge Berlin. Und außerdem: In der Reichshauptstadt wird auch in Zukunft über Deutschland entschieden, hier kann man Verbindungen knüpfen, die auch uns in der Provinz zugute kommen. Und ich will nicht nur studieren. Wie auch immer das Reich aussehen wird, irgendwer muß es regieren.“

      Der alte Baron lächelte: „Und das wirst du dann sein? Gut, auch Bismarck hat einmal als Landjunker angefangen. Aber das waren andere Zeiten.“ Ulrich lächelte zurück: „Erst einmal würde es mir reichen, ein Studium erfolgreich abzuschließen. Das ist Ziel genug für die nächste Jahre. – Du bist also einverstanden?“ Der Vater nickte. „Fast alle unserer Vorfahren dienten als Offiziere. Aber werden wir nach diesem Krieg noch eine Wehrmacht haben, noch Offiziere brauchen? Beamte aber brauchen wir immer, und bislang stellte der Adel auch die höchsten Staatsbeamten. Und das sind nun einmal vor allem Juristen. Nein, deine Pläne sind einsehbar. Ich werde dir nicht im Weg stehen.“ Und damit war alles entschieden.

      3. Kapitel

      Was Ulrich bislang keinem Menschen verraten hatte: Die ganzen vier Jahre, die er an der Westfront verbrachte, hatte er ein Tagebuch geführt. Allerdings trifft dieser Begriff nicht ganz: Es gab keine durchgehenden, täglichen Eintragungen, das verbot schon die jeweilige militärische Situation – aber in den Zeiten relativer Ruhe an der Front hatte er immer wieder zu dem abgeschabten Heft gegriffen, um nicht nur Geschehnisse, skurrile oder tragische Erlebnisse zu notieren, sondern auch allerlei Reflexionen, Gedanken über Krieg und Frieden, eine gerechtere Ordnung der Gesellschaft, über den Menschen, seine Leidenschaften, Fehler und Irrtümer, seine Wünsche und Fantasien. Das alles fand sich, wild vermischt, nur dem jeweiligen Augenblick geschuldet und seiner Stimmungslage, in diesen Schulheften, die er in versiegelten Päckchen nach und nach heimgeschickt hatte und die nun ungeöffnet in jenem barocken Schrank lagen. Er hatte sie auch nach der Heimkehr nicht angerührt, wusste er doch nicht, wozu sie ihm eigentlich dienen könnten.

      Sagten wir, niemand wisse von dieser Marotte des jungen Offiziers? Nein, auch das wäre falsch: Es gab einen, der davon wusste, ja, der ihn mehrfach zum Schreiben ermuntert hatte, auch wenn ihm der Inhalt meist unbekannt blieb: Es war sein direkter Vorgesetzter, Hauptmann Merlin, nur wenig älter als er und einer der wenigen bürgerlichen Kompaniechefs im Heer des Reiches. Mit ihm verband den jungen Ulrich von Pendragon bald eine besondere Freundschaft, und sie beruhte auf dem gemeinsamen Interesse an der Ausdruckskraft der Sprache – nicht gerade verbreitet unter den übrigen Offizieren der Division.

      Merlin hatte bereits einige Semester Slawistik studiert, ehe die Mobilmachung ihn vor ganz andere Herausforderungen stellte. Und er war froh, wenigstens einen Gleichgesinnten im Offizierskorps zu finden, in dem er auch sonst als Außenseiter galt: Sein Studienziel, seine bürgerliche Herkunft, und vor allem seine Abstammung trennten ihn von den Kameraden aus den deutschen Adelsfamilien mit ihrem meist generationenlangen Stammbaum.

      Er war Sorbe, aufgewachsen als Sohn eines kleinen Industriellen in Bautzen, aber mit einer Mutter, die die alten slawischen Traditionen einschließlich ihrer Muttersprache bewahrte und an den Sohn weitergab, während der Vater alle Hinweise auf die Herkunft lieber verbarg und sich ganz als nationalliberaler deutscher Patriot gab, bis hin zur Änderung des Namens in die unverfängliche, eher deutsch klingende Fassung „Merlin“. Er hatte auch durch seine Beziehungen dafür gesorgt, dass der Sohn das Offizierspatent erhielt, was zwar laut kaiserlichem Erlaß jedem gutbürgerlichen jungen Mann möglich war, doch immer noch selten genug gewünscht und noch seltener zugebilligt wurde.

      Bei einem nächtlichen Gespräch nach einem fehlgeschlagenen Sturm auf die feindlichen Linien, der die Kompanie stark dezimiert hatte, entdeckten die beiden eine Art Seelenverwandschaft, denn Ulrich hatte zu Hause in Platikow bislang zwar hier und da ein paar Verse geschrieben oder auch ein kleines Essay verfasst, aber alles wohlverwahrt und gut verschlossen in den Tiefen jenes Schrankes versteckt.

      Die Enttäuschung über den gescheiterten Angriff, die Sorge um die Verwundeten, die bittere Notwendigkeit, die Angehörigen der Gefallenen zu benachrichtigen – das alles hatte Merlin seinem jungen Stellvertreter anvertraut und mit Freude bemerkt, dass dieser nicht nur ähnlich dachte, sondern auch manches von seinen Gedanken schriftlich niedergelegt hatte. Fortan war Literatur ein Gesprächsstoff, über den sie sich austauschten, und gelegentlich las der eine dem anderen auch einige eigene Zeilen vor und bat um dessen Urteil.

      Merlin hatte nach dem Abschied das lange unterbrochene Studium wieder aufgenommen, und zwar in Berlin, und das war letztlich auch der Grund, warum Ulrich sich für die dortige Universität entschieden hatte. Brieflich waren die beiden stets in Kontakt geblieben, nun könnten sie ihre Gespräche fortsetzen. Und Ulrich von Pendragon wollte sich zwar, wie mit dem Vater vereinbart, an der juristischen Fakultät einschreiben, aber er würde wohl so manche Vorlesung bei den Germanisten besuchen, das war sein fester Vorsatz.

      Verwandtschaftliche


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