Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman). H. G. Wells

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Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman) - H. G. Wells


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      Dann sehe ich mich vor dem Hause stehen, einen Fuß auf dem Pflaster, das andere Bein über mein Rad geschwungen, bereit aufzusteigen. Ich fragte mich: »Und wohin zum Teufel soll ich nun fahren?«

      6

      Zusammenstoß im Dunkeln

      Ich saß Tee trinkend in dem dunklen, aber von Sauberkeit glänzenden Speisesaal des »Spread Eagle« in Thame, der trotz seiner Kleinheit zu den vorzüglichsten Gasthöfen Englands gerechnet wird. Der Wirt, der immer einen flaschengrünen Anzug mit Messingknöpfen trug, ehrte mich durch sein Gespräch.

      »Haben Sie sich jemals verloren?« fragte ich ihn.

      »Und einen anderen wiedergefunden?«

      »Ich suche einen gewissen Arnold Blettsworthy, der vor etwa sechzehn Stunden verschwunden ist.«

      »Wir spielen alle mit uns selbst Verstecken. War Arnold Blettsworthy ein junger Mann voll der Hoffnungen und des Ehrgeizes?«

      Ich nickte.

      »Solche verschwinden ganz plötzlich.«

      »Und kehren sie jemals wieder?«

      »Manchmal wohl. Nach längerer Zeit.«

      Er seufzte, blickte aus dem langen, tief liegenden Fenster und sah plötzlich etwas, was seiner Fürsorge bedurfte. Er verließ mich mit einer undeutlich gemurmelten Entschuldigung. Er kam nicht wieder, und nach einer Weile zahlte ich der Kellnerin und fuhr auf meinem Rad in Richtung Amersham davon. Schüchternheit hinderte mich daran, allzu lange auf ihn zu warten. Ich war traurig, daß er unser Gespräch nicht wieder aufgenommen hatte, denn seine Stimme und sein ganzes Wesen hatten mich angezogen, und er schien meine Sorge zu begreifen. Wäre er aber zu mir zurückgekommen, so hätte ich wahrscheinlich von anderen Dingen gesprochen.

      Ich fuhr in die Einsamkeit hinaus.

      Ich fuhr ziellos durch den warmen Abend eines Spätsommertages und wandte mich ostwärts, um meine Augen vor dem Sonnenuntergang zu schützen. Ich brütete über einem dunklen Problem, das meine eigene Identität betraf. War Arnold Blettsworthy nichts mehr als der Name und die Hülle mehrerer Wesenheiten, die miteinander in Widerstreit lagen? Ich kannte die Blettsworthyschen Grundsätze von Ehre und gutem Willen, die mir in meinen Schwierigkeiten als Richtschnur hätten dienen sollen. Ich kannte sie genau. Was mich verwirrte, war der Sturm von Begierde in mir, von tierischer Lust, die mit Zorn vermengt sich als das Recht auf Selbstbehauptung aufzuspielen versuchte und alle jene Grundsätze und Vorschriften beiseite schob, als ob sie nichts bedeuteten. Wer war der zornige und lüsterne Egoist, der meinen Willen zu vergewaltigen suchte und ganz erfüllt schien von dem Bilde der entblößten, erschreckten und widerstandslosen Olive? Nicht ich. Ganz gewiß nicht ich. In früherer Zeit nannte man ihn den Teufel – oder einen Teufel. Einen Eindringling, der Macht über uns gewinnt. Verändert es ihn wesentlich, wenn man ihn auf moderne Art als ein zweites Ich bezeichnet? Aber war ich nun Arnold Blettsworthy oder jener andere? Neben dieser Leidenschaft, die mir die Gewalt über mein Tun zu entwinden suchte, drängte sich noch ein schmählicher und verächtlicher fremder Geist in das Wirrsal, der zynische Beobachter, und blies mir bösen Rat ein. »Ein Narr warst du«, hielt er mir vor, »und ein Narr bist du. Ein Narr und Schwächling. Wozu all diese gespielte Empörung? Wenn du das Mädchen haben willst, nimm sie, und wenn du sie haßt, dann laß sie fahren, jedenfalls aber geh so mit ihr um, daß du dabei nicht zu Schaden kommst. Du kannst es so einrichten, daß die Schuld auf sie und nicht auf dich fällt. Ihre Augen haben dir deine Macht über sie verraten. Richte sie zugrunde, und such dann das Weite. Warum sie aber deinen Willen auf solche Art zu versklaven und über dich Schmach und Gefahr zu bringen vermag, kann ich wahrhaftig nicht sagen. Dieser erste flüchtige Blick auf einen warmen und geschmeidigen Körper war offenbar zu viel für dich, mein Junge. Das kommt davon, wenn man eine erregbare Jungfer ist. Was ist daran so wunderbar? Und gibt es keine anderen Weiber auf der Welt? Ich frage dich, gibt es keine anderen Weiber auf der Welt?«

      Nicht Landstraßen und Feldpfade entlang, sondern durch das Wirrsal meiner Triebe steuerte ich an jenem Nachmittage. Unter anderem entsinne ich mich einer heftigen Sehnsucht nach meinem Onkel: Hätte ich nur noch einmal mit seinem Geiste Zwiesprache halten können! Hätte ich mir nur seine körperliche Erscheinung und seine Stimme vergegenwärtigen können, dann wären die bösen Gewalten in meiner Brust nur halb so mächtig gewesen. Vielleicht schwebte etwas von ihm noch über den Hügeln von Wiltshire. Doch als ich das Antlitz westwärts wandte, warf mir die untergehende Sonne goldene Speere in die Augen und ließ mich wieder umkehren.

      Ob ich betete, fragt ihr mich? Ob mir die Religion meiner Welt eine Hilfe war? Nicht einen Augenblick lang. Ich erkannte klarer als je zuvor, daß ich nur an meinen Onkel glaubte und nicht an den hilfreichen Gott, den seine Güte auf den gleichgültigen Himmel gemalt hatte. Dem Gott meines Glaubensbekenntnisses weihte ich in meiner Not nicht einen Gedanken. Ich hätte mich ebensogut an Sirius wenden können.

      Schließlich wurde es dunkel, und meine Radlampe war noch nicht angezündet. Ich fuhr um eine Ecke und entdeckte, etwa einen Meter von mir entfernt, die Rückseite eines Rollwagens, die im Zwielicht matt schimmerte. Er schien zu fahren, und ich wollte ihn überholen, doch dann verkürzte sich seine Rückwand mit verblüffender Schnelligkeit, und ich erkannte zu spät, daß er wendete: Ein Zusammenstoß war nicht mehr zu vermeiden. Ich sehe noch heute, wie meine Lenkstange sich rasch den hölzernen Wagenrädern näherte, fühle, wie ich das Gleichgewicht verlor und einen verspäteten Versuch machte, umzudrehen.

      Bis zu diesem Punkte ist meine Erinnerung vollkommen klar. Das Folgende ist aus meinem Gedächtnis völlig verschwunden. Wahrscheinlich prallte ich gegen den Wagen und wurde von ihm umgestoßen. Ich habe darüber niemals Genaueres erfahren können. Jedenfalls verlor ich das Bewußtsein, aber es ist sonderbar, daß meine Erinnerung nicht bis zu dem Augenblicke reicht, da ich bewußtlos wurde. Das Licht geht aus, sozusagen, während ich eben erst mit den Rädern und der Seitenwand des Wagens in Berührung komme.

      7

      Mr. Blettsworthy vergißt sich vollkommen

      Meine eingehende, persönliche Erzählung muß nun einem unbestimmten Bericht Platz machen. Die Ereignisse der folgenden sechs Wochen haben so gut wie gar keine Spuren in meinem Gedächtnis zurückgelassen. Ich konnte niemals feststellen, was aus meinem Rad wurde, noch wie ich nach Oxford gelangte. Ich kam nämlich spät am Abend in meine Wohnung in Carew Fossetts zurück, und zwar in einer Droschke, den Kopf sachgemäß verbunden.

      Dann scheine ich eine Woche oder sogar noch länger in Oxford verblieben zu sein. Ich oblag meinen geschäftlichen Angelegenheiten auf eine sehr unzulängliche Art. Ich erfuhr, daß Graves die gesamte ihm von mir zur Verfügung gestellte Summe behoben und einen Posten bei einer Handelsgesellschaft an der Goldküste angenommen hatte. Er schrieb mir, wenn ich nicht irre, einen Brief, in dem er Entschädigung und Rückzahlung versprach und etwas wie Bedauern ausdrückte. Höchstwahrscheinlich schrieb er mir, aber ich glaube nicht, daß ich den Brief noch habe. Mr. Ferndyke scheine ich von dem Treubruch meines Partners und meinen geschäftlichen Nöten nicht in Kenntnis gesetzt zu haben. Das Eingeständnis war mir wohl zu demütigend, nachdem ich kurz vorher so große Zuversicht an den Tag gelegt hatte. Ich zog vielmehr einen schäbigen kleinen Oxforder Anwalt ins Vertrauen, der sich hauptsächlich mit den Wettrennangelegenheiten der Studenten befaßte. Er traf etliche recht voreilige und unvorteilhafte Verfügungen betreffs der Aktiva unserer Gesellschaft. All dies ist völlig aus meinem Gedächtnis entschwunden. Zweimal oder auch noch öfter versuchte ich, wenn ich nicht irre, Olive Slaughter allein zu sehen; sie mochte ihrer Mutter gesagt haben, daß sie sich vor mir fürchte, jedenfalls schlugen meine Versuche fehl. Ein schrecklicher Verband über dem einen Auge mag meiner äußeren Erscheinung etwas Bedrohliches gegeben haben. Ich bilde mir ein, daß mich etliche Anfälle heftiger Wut überkamen, doch zweifle ich, daß das in Anwesenheit von Menschen geschah. Ich habe nur eine ganz schwache Erinnerung daran. Zu einer Klage wegen Nichterfüllung des Eheversprechens kam es nicht.

      Niemand wußte genau, wie und wann ich Oxford verließ. Ich beschritt meinen einsamen Weg, und nur meine Wirtin vermißte mich. Mr. Ferndyke beglich später meine Mietschuld und holte auch meine Sachen. Drei Wochen lang


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