Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman). H. G. Wells

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Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman) - H. G. Wells


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Pflegerin zupfte mich am Ärmel.

      Als ich am Morgen zu ihm gerufen wurde, war sein Antlitz schon eine heitere Maske, deren Augen für immer vor der Welt verschlossen blieben; gütig noch, aber nunmehr mit unaussprechlichen Dingen befaßt. Das Marmorbildnis im Mittelschiff der Kirche zu Salisbury ist das getreue Ebenbild des Toten, selbst in den gefalteten Händen.

      Ich hatte ein heftiges Verlangen, zu ihm zu sprechen und vieles zu sagen, was ich hatte sagen wollen, aber ich sah nun, daß zwischen ihm und mir keine Worte mehr gewechselt werden konnten.

      Niemals ist etwas so sehr von Abwesenheit durchtränkt gewesen wie seine Anwesenheit an jenem sonnenhellen Morgen. Ich saß an seinem Bett und betrachtete die teure Maske, die mir so vertraut gewesen und nun schon so fremd geworden war, betrachtete sie lange Zeit und dachte dabei an zehntausend Dinge, die ganze Stufenleiter des Lebens hinauf und hinab. Ich empfand Schmerz über meinen Verlust und war doch auch, ich erinnere mich dessen, niederträchtig froh, selbst am Leben zu sein.

      Allmählich aber begann eine ungewohnte Kälte in der Herzgegend, zu ruhig und zu tief, um Furcht zu sein – alle anderen Eindrücke zu überragen. Ich versuchte, ihr zu entrinnen. Ich ging ans Fenster, und der Sonnenschein auf dem Rasen des Hügellandes schien etwas von dem frohen Zauber, den er bis dahin besessen hatte, verloren zu haben. Da waren das vertraute Dach des Hintergebäudes, die graue Steinmauer des Hofes, die Pferdekoppel mit dem alten, ausgedienten Pony, die Hecke und der steile Abhang des Hügels. Alles war da, aber es war nicht dasselbe.

      Die Kälte, die ich beim Anblick des toten Antlitzes empfunden hatte, wurde nicht geringer, sondern größer, als ich aus dem Fenster auf die gewohnte Landschaft blickte; sie war offenbar keine physische Empfindung; war nicht eine Kälte des Herzens, sondern der Seele, war ein ganz neues Gefühl, das Gefühl, allein und ohne Hilfe in einer Welt zu stehen, die ganz anders sein mochte, als sie mir schien.

      Ich wandte mich wieder meinem Onkel zu: Ein unbestimmtes Gefühl, etwas wie der Wunsch, gegen die Möglichkeit solch einer Veränderung Einspruch zu erheben, regte sich in mir.

      Noch einmal ergriff mich das Verlangen, zu ihm zu sprechen, doch ich erkannte, daß ich nichts zu sagen hatte.

      4

      Liebe und Olive Slaughter

      Einige Zeit hindurch setzte ich mein gewohntes Leben ohne wesentliche Veränderung fort. Die erste Empfindung der Einsamkeit, die mich am Totenbett meines Onkels überkommen hatte, blieb um mich schweben und verdichtete sich, anstatt zu verschwinden, doch bemühte ich mich eifrig, sie aus meinem Bewußtsein zu bannen, welches Bestreben er gewiß gutgeheißen haben würde.

      Ich hatte mir gleich nach meiner Graduierung eine Wohnung von bescheidenem Komfort gemietet, und zwar in Carew Fossetts, einem außerhalb von Oxford Richtung Boars Hill gelegenen Dörfchen. Dort blieb ich. Einige Freunde und Bekannte an der Universität und in deren Umkreis waren meine Welt, und so konnte ich mir keinen besseren Wohnort vorstellen. Ich versprach mir lange Ferien in den Alpen, in Skandinavien, Afrika und dem Nahen Osten, hoffte, daß ich vielleicht auf irgendwelche Art in der ernsteren und allerdings auch schwerfälligeren Welt Londons Fuß fassen würde, und zählte die künstlerische Anregung des Pariser Lebens zu meinen glücklichen Möglichkeiten. In Paris, so meinte ich nach der Mode der damaligen Zeit, konnte man Amerika und Rußland in einer zwar verdünnten, aber doch hinlänglich klaren Form kennenlernen. Also wandte ich Rußland selbst den Rücken zu: War es doch eine Wildnis mit einem pervertierten Alphabet und einer unsprechbaren Sprache; auch den aufreizenden Glanz New Yorks, seine Vergnügungen und sein buntbewegtes Leben schob ich als unangenehme, aber vermeidliche Tatsache von mir weg. Wenn Leute da hinübergingen, Amerikaner wurden und sich eine eigene Welt aufbauten, so sah ich nicht ein, warum mich das interessieren sollte.

      Ich besaß, das durfte ich mir eingestehen, eine gewisse geistige Regheit und war auch begabt, war mir aber über die Art dieser Begabung nicht im klaren; und ich war ängstlich bemüht, meine Fähigkeiten gut zu verwerten. Ich fühlte, daß mir ein ganz besonders glückliches Los zugefallen war, und hielt es für meine Pflicht, mich dieser Gunst des Schicksals würdig zu erweisen. Dafür schien mir eine künstlerische Betätigung sehr geeignet zu sein, und ich spielte mit dem Gedanken, der Welt eine Romantrilogie zu schenken – in jenen Tagen wurde ein Romanschriftsteller erst dann hochgeschätzt, wenn er eine Trilogie geschrieben hatte –, nach der Art Ruskins in den Galerien Europas Kunststudien zu betreiben und meine Eindrücke aufzuzeichnen, einen Kunstverlag zu gründen, der bibliophile Ausgaben verdienstvoller Werke herausbringen sollte, oder meine Erfahrungen in der Oxford University Dramatic Society als dramatischer Dichter zu verwerten. Auch andere Formen der Dichtkunst zog ich in Betracht: Eine Zeitlang beschäftigte mich der Plan zu einem Epos, doch fand ich schließlich, daß der Erwerb der notwendigen technischen Fertigkeiten meine schöpferische Kraft lähme. Bei alledem ließ ich die sozialen Fragen der Zeit keineswegs außer acht, sondern war mir wohl bewußt, daß dem vollendet künstlerischen Ausdruck meiner Bestrebungen ein moralischer und humanitärer Zweck zugrunde liegen müsse.

      Außerdem hatte ich mich dazu überreden lassen, die Angelegenheiten eines sterbenden Bogenschützen-Klubs in die Hand zu nehmen, und ich errang als Ehrensekretär dieser Gesellschaft beträchtliche Erfolge.

      Ich besprach die Frage meiner Lebenspläne mit fast jedermann, der mir zuzuhören geneigt war; insbesondere erörterte ich das Thema mit meinem Freund Lyulph Graves, in dessen Gesellschaft ich lange Spaziergänge zu machen pflegte, und mit Olive Slaughter, dem lieblichen jungen Mädchen, das ich bereits erwähnt habe. Die Bewunderung und Freundschaft, die ich diesem Geschöpf in meinen Studententagen entgegengebracht hatte, verwandelte sich nunmehr rasch in eine große und ideale Liebe. Wie strahlend war sie doch, wie blond und hübsch! Noch heute könnte ich mir tausenderlei reizende Einzelheiten ihrer Erscheinung ins Gedächtnis zurückrufen, wenn ich mich mit solchen Erinnerungen quälen wollte. Sie hatte goldblondes Haar. Der Glanz, der von ihr ausging, schimmerte durch die Tabakpäckchen und Zigarettenschachteln des Schaufensters hindurch, so wie die Sonne durch das Laub eines Baumes scheint. Schon in den Tagen, da ich noch Student war, pflegte sie in die Tür zu treten und mir zuzulächeln, sooft mich mein Weg an dem Laden vorbei führte – und es ist erstaunlich, wie oft das der Fall war. Sie lächelte auch mit der Stirn und den Augen, so daß sich die linke Seite der Oberlippe beim Lächeln ein wenig stärker emporzog und einen Schimmer der Zähne sehen ließ.

      Anlässe zu kurzen heimlichen Gesprächen ergaben sich immer wieder; sie schienen sich im dritten Jahr meiner Studienzeit zu vermehren. Eines Tages trafen wir uns nach Schluß der Vorlesungen auf unseren Rädern bei Abingdon und verbrachten einen entzückenden Nachmittag miteinander. Wir tranken in einem ländlichen kleinen Restaurant Tee, und als wir dann durch einen Obstgarten zum Fluß hinuntergingen, küßten wir einander, zitternd unter dem Zauber von Kräften, die stärker waren als wir. Ich küßte sie, küßte den Mundwinkel, der die kleinen Zähne sehen ließ, schloß sie dann in die Arme, zog sie dicht an mich und küßte ihren schönen schlanken Nacken, indes ihr weiches Haar meine Wange liebkoste. Dann fuhren wir, so weit wir es wagten, gemeinsam gegen Oxford zurück, ehe wir uns trennten; den ganzen Rückweg sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Mir war, als sei uns beiden das Wunderbarste im Leben widerfahren, und ich glaubte, daß sie ebenso empfand.

      Der Sonnenuntergang war warm, sanft und goldig, und Olive war warm, sanft und goldig; ich wußte nicht, was wunderbarer war, das Mädchen oder das Naturschauspiel, und meine Seele glich einem Stäubchen, das unter einem Sonnenstrahl gleich einem Stern leuchtete.

      Von da ab entwickelten wir beide große Freude am Küssen, und da ich gut erzogen worden war, deutete ich unsere Umarmungen auf eine schöne und edle Art. Zwischen unseren Küssen sprach ich von den hohen Zielen, denen unsere Leidenschaft geweiht sein sollte; und alle meine Gedanken umgaben die Geliebte mit schützendem Besitzergefühl, gleichsam als wäre ich eine ihr geweihte Kirche und sie der heilige Altar darin. Und dann küßten wir uns wieder. Sie küßte mit solcher Hingabe und liebkoste mich so zärtlich, daß nur mein Glaube an ihre vollkommene Unschuld die Inbrunst meiner Umarmungen milderte. Und ich war über alle Maßen glücklich.

      Da mein Herz nach den ersten heiligen Zärtlichkeiten zwischen uns von ihr überfloß, erzählte ich trotz meiner zurückhaltenden Wesensart


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