Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman). H. G. Wells

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Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman) - H. G. Wells


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Schwiegervater gehörigen Gebieten eine Rolle spielten. Er hat weder seine Anwesenheit innerhalb der Kampflinie der Buren, wohin ihn eine mit seinem stets komplizierten, aber, wie ich glaube, niemals unehrenhaften Privatleben verbundene Mission geführt hatte, noch seine allezeit dunkle Suche nach Gold klarzulegen vermocht. Wir jedoch glaubten damals, daß er für König und Vaterland auf die zu Kriegszeiten übliche Weise sein Leben verloren hätte.

      Der Burenkrieg hinterließ keinen schmerzlichen Eindruck in meinem knabenhaften Gemüt. Er war ohne Zweifel der zivilisierteste Krieg der Geschichte, wurde mit Zurückhaltung und auf ritterliche Art ausgefochten, war ein Krieg der weißen Rasse, der in gegenseitiger Hochachtung und allgemeinem Händeschütteln endete. Früher oder später werden die meisten Menschen Waisen, und wenn ein übrigens schon lange vergessener Vater, wie wir meinten, in ehrlichem Kampfe den Heldentod erleidet, so stellt das eine recht zufriedenstellende Form des herkömmlichen Verlustes dar.

      Auch der Heimgang der Königin Victoria warf keinen dauernden Schatten auf mein Gemüt. Eine große Epoche schien damit zum Abschluß gelangt zu sein, und ich war nur wenig darüber erstaunt, daß sowohl der ›Punch‹ als auch die Anglikanische Kirche unverändert bestehen blieben. Aber sie blieben bestehen; allmählich erkannte jedermann, daß fast alles unverändert weiterging, ein wenig traurig vielleicht, aber nicht hoffnungslos verwitwet; König Edward trat an Victorias Stelle, ein nun schon gesetzter, aber immer noch sehr liebenswürdiger Mann, und das Gefühl der Beständigkeit aller Dinge wurde durch den Tod der Königin nur gestärkt.

      Das Leben in Lattmeer festigte meinen Glauben an die Zivilisation des Weltalls. Ich fühlte mich nicht nur sicher, sondern auch privilegiert. Ich gewann Interesse am Wassersport und ruderte als Vierter im College-Boot. Ich schwamm ausgezeichnet. Ich glättete mein Haar mit Pomade und trug einen Mittelscheitel. Ich schmückte mich mit fröhlichen Farben. Meine purpurrot und blaßgelb gestreifte Strickjacke wurde nur von wenigen übertroffen. Ich lernte Weine voneinander unterscheiden. Ich schloß Freundschaften, unter denen sich einige durch Vertraulichkeit und Innigkeit auszeichneten. Ich verliebte mich in die Tochter einer Trafikantin, einer Witwe, deren Laden in nächster Nähe des Lattmeer College lag. Ich eignete mir sogar das nicht sehr große Ausmaß an klassischer Bildung an, dessen man zur Erlangung eines akademischen Grades bedarf. Auch nahm ich, ohne mich jedoch besonders hervorzutun, an den Bestrebungen der Oxford University Dramatic Society teil.

      Ich hatte in jenen Tagen allen Grund, glücklich zu sein, und blicke heute auf sie zurück, wie ein lebenslänglich Gefangener an die Zeit denken mag, da er als freier und unbescholtener Mensch fröhliche Ferientage genoß. Das Erbe meiner Tante, deren Vermögen nicht sehr groß, aber doch ganz ansehnlich gewesen war, ersparte mir den pekuniären Druck, unter dem die meisten jungen Männer zu leiden haben. Ich ertrug den Tod ihrer ehemaligen Gesellschafterin, durch den der gesamte Zinsertrag des Geldes für meinen persönlichen Gebrauch frei wurde, mit mannhafter Seelenstärke, und genoß die guten Gaben Gottes voll des Vertrauens auf ihren Bestand. Es wäre mir nicht im Traum eingefallen, daß all dies hoffnungsreiche Glück nur eine glänzende Folie der dunklen Erfahrungen sein sollte, die sich nunmehr über mich herabsenkten.

      Der erste große Schatten fiel über mein junges Leben, als meine Tante und mein Onkel kurz nacheinander starben. Mein Onkel begann früher als seine Frau zu kränkeln, starb aber nach ihr. Ich weiß nichts über die wahre Natur seiner Krankheit und glaube auch nicht, daß sie jemals klar erkannt worden ist. Die Berufsausbildung und Organisation der englischen Ärzte bewirken zwar, daß sie Würde an den Tag legen, ein bequemes Leben führen und anständig auftreten, scheinen sie aber nicht zu guten Diagnostikern zu machen. Eine Erkrankung des Blinddarms, der Niere, der Leber, der Milz, des Magens, des Nervensystems oder der Muskeln, sowie irgendwelche geheimnisvolle Infektionen wurden von dem behandelnden Arzt als mögliche Ursachen des Unbehagens und der Krankheit meines Onkels erwähnt, doch hütete sich der Mann vor einer allzu genauen Feststellung, die ihn hätte kompromittieren können. Der Totenschein nannte Herzschwäche in der Folge einer Erkältung als Todesursache. Spezialisten wurden nicht zugezogen; wahrscheinlich wären zu viele gleichzeitig vonnöten gewesen, so daß das Reisegeld für die ganze Schar die Mittel meines Onkels überschritten hätte. Die Behandlung eines Kranken in solcher Entfernung von London wurde in der Hauptsache davon bestimmt, wie weit sich der Arzt an offenkundig ähnliche Fälle in seiner Praxis erinnerte; im übrigen waren die vorhandenen Hilfsmittel der Ortsapotheke maßgebend.

      Mein Onkel ertrug erhebliche Leiden mit Mut; die Hoffnung auf Genesung erhielt ihn lange Zeit aufrecht. Als er einmal nachts von heftigen Schmerzen befallen wurde, war er sehr gerührt darüber, daß der Arzt, den wir herbeiriefen, aus seinem warmen Bette aufstand und nicht weniger als zwei Meilen im Regen zurücklegte; er entschuldigte sich, daß sein Leiden so unerklärlich sei und sich noch dazu zu so ungünstiger Zeit äußere. Er empfand es, glaube ich, als ein Unrecht, daß er keine einfache, leicht erkennbare und zu einer bestimmten Tageszeit auftretende Krankheit hatte und einen ehrlichen Freund in eine schwierige Lage brachte. »Ihr Ärzte«, sagte er, »seid das Salz der Erde. Was würden wir ohne euch anfangen?«

      Meine Tante starb an einer Lungenentzündung, der Folge einer Erkältung, die sie bei der Pflege ihres Gatten übergangen hatte; er wurde seines Verlustes zwei oder drei Tage lang nicht gewahr.

      Fast bis zuletzt glaubte er, daß er durchkommen würde. »Ich bin ein zäher alter Kerl«, sagte er immer wieder; so erteilte er mir keinerlei letzte Lehren über die Welt; und als er schließlich begriff – wenn er es überhaupt wirklich begriff –, daß seine Frau tot war, verfiel er in Stillschweigen. »Fort«, wiederholte er leise, als man ihm auf seine Frage, wo sie sei, taktvoll mit diesem Worte geantwortet hatte. »Fort, Dorcas fort«, seufzte er und sagte nichts mehr über sie. Er schien sich in sich selbst zurückzuziehen und nachzudenken. Er starb die dritte Nacht darauf unter dem Beistand der Pflegerin unseres Dorfes.

      Gegen das Ende vergaß er alle Schmerzen, die ihn in einem sanften Delirium noch quälen mochten. Er schien mit dem Gotte, dem er stets gedient hatte, in der Welt umher zu wandern und dabei noch klarer zu sehen als jemals zuvor.

      »Das Wunder der Blumen, das Wunder der Sterne«, flüsterte er, »das Wunder des menschlichen Herzens. Warum sollte ich auch nur einen Augenblick lang daran zweifeln, daß all das zum Guten beiträgt? Warum sollte ich zweifeln?«

      Dann sagte er plötzlich, ohne irgendwelchen Anlaß: »Mein ganzes Leben lang bin ich umhergegangen und habe niemals über die Schönheit von Kristallen und Edelsteinen gestaunt. Blinde Undankbarkeit. Hab das alles als selbstverständlich hingenommen. Alles Gute als selbstverständlich und jede notwendige kleine Prüfung als Last.«

      Es verging geraume Zeit, bis er wieder zu sprechen begann. Da hatte er Edelsteine und Kristalle bereits vergessen. Er verfiel in ausgesprochen einseitige Betrachtungen. »Es gibt keine Bürde, die man nicht ertragen könnte. Manchmal ist es vielleicht schwer … Keine wirkliche Ungerechtigkeit.«

      Seine Stimme erstarb, etwas später hörte ich ihn jedoch wieder flüstern.

      Meine letzte Erinnerung an ihn ist, daß inmitten der Stille des von einer Lampe erleuchteten Zimmers plötzlich seine Stimme erklang und meinen Namen nannte. Er muß meiner gewahr geworden sein, während ich in der Tür stand. Die Fenster seines Schlafzimmers waren so weit wie möglich offen, trotzdem verlangte es ihn nach mehr Luft. »Frische Luft«, wiederholte er. »Viel frische Luft. Bring alle Menschen in die frische Luft hinaus; alles in die frische Luft. Dann wird alles gut sein.«

      »Laß die Fenster offen. Laß immer die Fenster offen. Ganz weit offen – ganz weit …«

      »Und fürchte dich vor nichts, denn Gott ist hinter allem, wie seltsam es auch sein mag.«

      »Hinter allem …«

      Sein Ausdruck wurde gespannt. Gleich darauf sanken seine Augenlider herab, und er beachtete mich nicht mehr. Sein Atem wurde schwer, wurde langsamer, trocken und rasselnd.

      Sehr lange war dieses geräuschvolle Atmen zu hören. Nie werde ich es vergessen. Es setzte aus, hob wieder an, und hörte dann auf. Der gespannte Gesichtsausdruck verschwand. Die Augen öffneten sich langsam und betrachteten die Welt ruhig, aber sehr starr.

      Ich wartete, den Blick starr auf ihn gerichtet, daß


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