Castellio gegen Calvin. Stefan Zweig

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Castellio gegen Calvin - Stefan Zweig


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      Immer wissen die Zeitgenossen am wenigsten von ihrer Zeit. Die wichtigsten Augenblicke fliehen an ihrer Aufmerksamkeit unbemerkt vorbei, und fast nie finden die wahrhaft entscheidenden Stunden in ihren Chroniken die gebührende Beachtung. So fühlt auch das Genfer Ratsprotokoll vom 5. September 1536, das Farels Antrag vermerkt, Calvin als »lecteur de la Sainte Escripture« dauernd anzustellen, sich nicht einmal bemüßigt, den Namen jenes Mannes hinzuschreiben, der Genf unermeßlichen Ruhm vor der Welt geben wird. Dürr vermerkt der Ratsschreiber bloß die Tatsache, daß Farel vorgeschlagen habe, »iste Gallus«, »jener Franzose« möge seine Predigertätigkeit fortsetzen. Das ist alles. Wozu sich bemühen, den Namen erst zu buchstabieren und in die Akten einzutragen? Es scheint doch nur ein unverpflichtender Entschluß, diesem brotlosen ausländischen Prediger einen kleinen Gehalt zu bewilligen. Denn noch ist der Magistrat der Stadt Genf der Meinung, er habe nichts anderes getan, als einen untergeordneten Beamten angestellt, der fürder ebenso bescheidentlich und gehorsam sein Amt erfüllen wird wie irgendein neubestallter Schullehrer oder Säckelwart oder Scharfrichter.

      Allerdings: die biedern Räte sind keine Gelehrten, sie lesen in ihren Mußestunden keine theologischen Werke, und gewiß hat keiner von ihnen zuvor Calvins ›Institutio religionis Christianae‹ auch nur angeblättert. Denn sonst wären sie wohl aufgeschreckt, weil dort in klaren Worten herrisch festgelegt war, welche Fülle der Macht »iste Gallus« für den Prediger innerhalb der Gemeinde beansprucht: »Klar möge hier umschrieben sein die Macht, mit der die Prediger der Kirche bekleidet werden sollen. Da sie als Verwalter und Verkündiger des göttlichen Wortes bestellt sind, haben sie alles zu wagen und alle Großen und Mächtigen dieser Welt zu zwingen, sich vor der Majestät Gottes zu beugen und ihm zu dienen. Sie haben allen zu befehlen vom Höchsten bis zum Niedrigsten, sie haben die Satzung Gottes aufzurichten und das Reich des Satans zu zerstören, die Lämmer zu schonen und die Wölfe auszurotten, sie haben die Folgsamen zu ermahnen und zu unterrichten, die Widerstrebenden anzuklagen und zu vernichten. Sie können binden und können lösen, den Blitz und den Donner schleudern, aber all dies gemäß Gottes Wort.«

      Diese Worte Calvins, »die Prediger haben allen zu befehlen vom Höchsten bis zum Niedrigsten«, waren den Genfer Ratsherren zweifellos entgangen, sonst hätten sie sich niemals diesem Anspruchsvollen voreilig in die Hände gegeben. Ahnungslos, daß dieser französische Emigrant, den sie an ihre Kirche berufen, von Anfang an entschlossen ist, Herr über Stadt und Staat zu werden, bestallen sie ihn mit Amt und Würde. Aber von diesem Tage an ist ihre eigene Macht zu Ende, denn kraft seiner unerbittlichen Energie wird Calvin alles an sich reißen, rücksichtslos wird er seine totalitäre Forderung in Tat und damit eine demokratische Republik in eine theokratische Diktatur verwandeln.

      Gleich die ersten Maßnahmen bezeugen Calvins weitdenkende Logik und zielstrebige Entschlossenheit. »Als ich zuerst in diese Kirche kam«, schreibt er später über diese Genfer Zeit, »gab es dort soviel wie nichts. Man predigte, und das war alles. Man suchte die Heiligenbilder zusammen und verbrannte sie. Aber es gab noch keine Reformation, alles befand sich in Unordnung.« Calvin ist nun ein geborener Ordnungsgeist: alles Ungeregelte und Unsystematische widerstrebt seiner mathematisch exakten Natur. Wenn man Menschen zu einem neuen Glauben erziehen will, so muß man zuerst sie wissen lassen, was sie glauben und bekennen sollen. Sie müssen deutlich unterscheiden können, was erlaubt und was verboten ist; jedes geistige Reich braucht ebenso wie jedes irdische seine sichtbaren Grenzen und seine Gesetze. Schon nach drei Monaten legt Calvin deshalb dem Rat einen Katechismus fertig vor, der mit einundzwanzig Artikeln die Grundsätze der neuen evangelischen Lehre in faßlicher Knappheit formuliert, und dieser Katechismus wird – gewissermaßen als der Dekalog der neuen Kirche – vom Rat mit prinzipieller Zustimmung angenommen.

      Aber mit bloßer Zustimmung gibt sich ein Calvin nicht zufrieden; er verlangt restlosen Gehorsam bis auf Punkt und Strich. Ihm genügt es keineswegs, daß die Lehre formuliert sei, denn damit bliebe dem einzelnen immerhin noch etwas Freiheit, ob und inwieweit er sich ihr fügen wolle. Calvin jedoch duldet niemals und in keiner Hinsicht Freiheit in Dingen der Lehre und des Lebens. Nicht eine Spanne Spielraum in geistlichen und geistigen Dingen ist er der innerlichen Überzeugung des einzelnen zu überlassen gewillt; die Kirche hat nach seiner Auffassung nicht nur das Recht, sondern auch die Pflicht, unbedingten, autoritären Gehorsam allen Menschen gewaltsam aufzunötigen und sogar die bloße Lauheit unerbittlich zu strafen. »Mögen andere anders denken, ich bin nicht der Meinung, unserem Amte seien so enge Schranken gezogen, daß wir nach gehaltener Predigt, als hätten wir damit schon unsere Pflicht erfüllt, die Hände ruhig in den Schoß legen dürfen.« Sein Katechismus soll keine bloße Richtlinie der Gläubigkeit darstellen, sondern ein Staatsgesetz; darum verlangt er vom Rate, daß die Bürger der Stadt Genf von Amts wegen gezwungen würden, diesen Katechismus einzeln, Mann für Mann, öffentlich zu bekennen und zu beschwören. Zehn zu zehn sollen die Bürger wie Schulknaben, von den »anciens« geführt, sich in die Kathedrale begeben und dort den von dem Staatssekretär vorgelesenen Eid mit erhobener Rechten beschwören. Wer aber sich weigern sollte, diesen Eid zu leisten, der müsse sofort gezwungen werden, die Stadt zu verlassen. Das heißt klar und ein für allemal: kein Bürger darf von nun ab innerhalb der Mauern Genfs leben, der in geistlichen Dingen auch nur um Haaresbreite von den Forderungen und Anschauungen Jehan Calvins abweicht. Es ist in Genf zu Ende mit der von Luther geforderten »Freiheit des Christenmenschen«, mit der Auffassung der Religion als einer individuellen Gewissenssache, der Logos hat über das Ethos, der Buchstabe über den Sinn der Reformation gesiegt. Mit jeder Art der Freiheit ist es in Genf zu Ende, seit Calvin die Stadt betreten hat; ein einziger Wille herrscht jetzt über alle.

      Jede Diktatur ist undenkbar und unhaltbar ohne Gewalt. Wer Macht bewahren will, braucht Machtmittel in Händen: wer gebieten will, muß auch das Recht besitzen, zu bestrafen. Nun stünde Calvin gemäß seinem Anstellungsdekret nicht das mindeste Recht zu, für kirchliche Delikte Ausweisungen zu dekretieren. Die Räte haben einen »lecteur de la Sainte Escripture« berufen, damit er den Gläubigen die Schrift auslege, einen Prediger, damit er predige und die Gemeinde zum rechten Gottesglauben ermahne. Aber Strafbefugnis über das rechtliche und sittliche Verhalten der Bürger vermeinten sie selbstverständlich ihrer eigenen Jurisdiktion vorbehalten. Weder Luther noch Zwingli noch irgendein anderer der Reformatoren hatte bisher der bürgerlichen Obrigkeit dieses Recht und diese Macht zu bestreiten versucht; Calvin aber, als autoritäre Natur, setzt sofort seinen riesigen Willen ein, um den Magistrat zu dem bloß ausführenden Organ seiner Befehle und Verordnungen herabzudrücken. Und da ihm dazu gesetzmäßig keine Handhabe gegeben ist, erschafft er sie sich aus eigenem Recht durch die Einführung der Exkommunikation: mit genialer Wendung verwandelt er das religiöse Mysterium des Abendmahls in ein Machtmittel und Pressionsmittel persönlicher Art. Denn der calvinistische Prediger wird einzig denjenigen zur »Mahlzeit des Herrn« zulassen, dessen sittliches Verhalten ihm persönlich unbedenklich erscheint. Wem aber der Prediger das Abendmahl verweigert – und hier zeigt sich die ganze Wucht dieser Waffe –, der ist bürgerlich erledigt. Niemand darf mit ihm mehr sprechen, niemand ihm verkaufen oder von ihm kaufen; dadurch wird die von der geistlichen Behörde verfügte und scheinbar bloß kirchliche Maßnahme sofort zu gesellschaftlichem und geschäftlichem Boykott; falls dann der Ausgeschlossene noch immer nicht kapituliert, sondern sich weigert, die vom Prediger vorgeschriebene öffentliche Buße zu tun, so befiehlt Calvin seine Verbannung. Ein Gegner Calvins, sei er sonst auch der achtbarste Bürger, kann demnach in Genf auf die Dauer nicht leben; jeder der Geistlichkeit Mißliebige ist von nun an in seiner bürgerlichen Existenz bedroht.

      Mit diesem Blitz in Händen kann Calvin jeden zerschmettern, der ihm Widerstand leistet; mit einem einzigen kühnen Griff hat er sich einen Brandstrahl und Donnerkeil in die Faust getan, wie ihn ehedem nicht einmal der Bischof der Stadt zu schleudern vermochte. Denn innerhalb des Katholizismus forderte es immerhin einen endlosen Instanzenweg von hohen zu höchsten Stellen, ehe die Kirche sich entschloß, einen ihrer Angehörigen öffentlich auszustoßen; Exkommunikation war ein überpersönlicher Akt und vollkommen der Willkür eines einzelnen entzogen; Calvin jedoch, zielstrebiger und unerbittlicher in seinem Willen zur Macht, legt dieses Bannrecht tagtäglich den Predigern und dem Konsistorium locker in die Hand, er macht diese furchtbare Drohung zur fast regelmäßigen Strafe und erhöht als Psychologe, der die Wirkung des Terrors wohl errechnet, durch die Angst vor dieser Strafe unermeßlich seine persönliche Gewalt. Mühsam


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