Waldröschen I. Die Tochter des Granden. Karl May

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Waldröschen I. Die Tochter des Granden - Karl May


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also? Warum?« – »Mein Sohn, wenn es Gottes Wille ist, so wirst du vielleicht einmal erfahren, wer du bist. Das, was du heute von mir hören wirst, soll dir den Weg zeigen, auf dem du es erfahren kannst.«

      Das Gesicht des jungen Mannes nahm einen freudigen, glücklichen Ausdruck an. Er rief:

      »Ist es wahr? Ist es möglich? Gelobt sei Gott für diese große Barmherzigkeit« – »Still, mein Sohn«, warnte der Bettler. »Es darf kein Mensch wissen, daß ich über diese Sache mit dir reden will. Wenn es der Hauptmann erführe, würdest du verloren sein. Eigentlich solltest du getötet werden, aber der Capitano tat es nicht, sollte er jedoch merken, was ich dir mitteilen will, so müßte er dir das Leben nehmen, damit das Geheimnis nicht verraten wird. Also sei klug und schweige.« – »Ich werde schweigen«, versicherte Mariano. »Und wenn sie alle schlafen, so bringe ich dir den Pater.« – »Sage ihm, er solle Papier, Feder und Tinte mitbringen, denn er wird etwas zu schreiben haben. Auch mehr Licht wirst du besorgen müssen, da das Schreiben eine lange Zeit erfordert.«

      Mariano ging, und der Alte blieb allein zurück.

      »Habe Dank, Madonna«, murmelte er, »daß du mir Kraft gegeben hast, diesen Ort noch zu erreichen. Vielleicht wird Gott mir vergeben, wenn ich gutzumachen suche, was ich im Leichtsinn verbrochen habe.«

      Ein neuer Hustenanfall raubte ihm den Atem, und ein Strom roten Bluts brach aus seinem Mund, es war klar, daß dieser Mann hart am Rand des Grabes stand und vielleicht nur noch Minuten zu leben hatte.

      Bald zog sich einer der Räuber nach dem anderen zum Schlaf zurück. Einige blieben auch gleich in dem offenen Felsenkessel liegen, und es war noch nicht um Mitternacht, als auch der letzte sich in seine Decke hüllte, um die Ruhe zu suchen.

      Dann schlief alles, und nur der Posten draußen am Berg war munter und lauschte in die dunkle Nacht hinaus, um die Kameraden vor jedem Unglück zu bewahren.

      Da verließ Mariano seine kleine Zelle. Er hatte seine Aufregung kaum zu beherrschen gewußt. Endlich, endlich sollte der Schleier gelüftet werden, der seine Vergangenheit bedeckte! Seine Träume sollten nicht Träume, sondern Wirklichkeit gewesen sein! War dies möglich? Seine Pulse gingen unruhig, und er fühlte das schnelle Klopfen seines Herzens, als er sich nach dem Seitengang schlich, in dem die Zelle des Paters lag. Dieser saß noch beim Licht über seinen Büchern und war überrascht, als er den Eintretenden erkannte.

      »Du, Mariano?« fragte er. »Was führt dich zu so ungewöhnlicher Stunde zu mir, mein Sohn?« – »Sprich leise, frommer Vater!« bat der Jüngling. »Es darf niemand wissen, was ich dir zu sagen habe.« – »So ist es ein Geheimnis?« – »Ja, du sollst zu dem alten Bettler kommen, den wir heute bei uns aufgenommen haben. Er will beichten.« – »Zu diesem? Ich sah es ihm an, daß der Engel des Todes bereits die kalte Hand nach ihm ausstreckt. Aber warum tust du dabei so geheimnisvoll? Ist es mir denn hier verboten, die Beichte eines Sterbenden zu hören?« – »Nein, aber ich soll bei dieser Beichte zugegen sein, was niemand wissen darf, frommer Vater.« – »Du? Warum?« – »Weil es sich dabei um meine Herkunft handelt«, bemerkte Mariano mit leuchtenden Augen.

      Der Pater erhob sich von seinem Sitz und fragte mit der Miene des allergrößten Erstaunens:

      »Um deine Herkunft? Mein Gott, dann müssen wir allerdings sehr heimlich tun, denn was ich vermute, das bringt mich zu der Überzeugung, daß der Capitano nicht will, daß du erfährst, wer du eigentlich bist. In welcher Zelle befindet sich der Kranke?« – »In der letzten. Ich habe sie ihm angewiesen, damit er durch seinen Husten die anderen nicht störe.« – »So komm!«

      Sie schlichen sich im Dunkeln zu dem Bettler, dessen Husten sie bereits von weitem hörten. Der Priester bat Mariano, außen zu warten, und trat zuerst allein zu dem Kranken. Nach einiger Zeit kam er wieder und sagte, daß sie sich eine Zelle nehmen müßten, die verschlossen sei, weil hier in diesem offenen Gemach nichts zu sprechen sei, was nicht im dunklen Gang belauscht werden könne. Sie begaben sich also alle drei in eine der Gefängniszellen, deren Tür den Schall des Gesprächs dämpfte, obgleich sie von innen nicht verschlossen werden konnte. Dort nahm der Bettler auf dem Lager Platz und begann, nachdem sich die beiden anderen in seine Nähe gesetzt hatten:

      »Mein frommer Vater, ich fühle, daß ich sterben muß, und möchte vorher gern mein Herz von einer Schuld erleichtern, die bereits über achtzehn Jahre lang mit mir durch das Leben gegangen ist.« – »Dem Reuigen gibt Gott Gnade«, bemerkte der Pater. »Erzähle mir, was dein Herz bedrückt.« – »Es sind zwei sehr schwere Sünden, die ich begangen habe, einen Meineid und eine Kindesverwechselung.« – »Das sind allerdings zwei sehr schwere Sünden! An wem hast du sie begangen?« – »Die erste habe ich an dem Capitano begangen.« – »An welchem Capitano? An dem unsrigen?« – »Ja. Ihr müßt nämlich wissen, ehrwürdiger Vater, daß ich einst Mitglied der Briganten war.« – »Du? Ah! Der hiesigen Briganten?« – »Ja. Der Capitano war mein Hauptmann. Ich war ein armer Schiffer und schaffte zuweilen einige Ellen seidenes Zeug von Frankreich über die Grenze herein. Da wurde ich einst ertappt. Man konfiszierte mir mein Boot und die Ware und steckte mich ins Gefängnis. Ich aber entfloh, und da ich nun nirgend sicher war, so ging ich unter die Briganten. Meine erste Tat die ich verrichten mußte, war die Vertauschung eines Kindes. Ein kleiner Schmuggel hatte mein Gewissen nicht beschwert, diese Tat aber machte mir bange, ich konnte des Nachts nicht mehr schlafen, und als dann der Capitano gar von mir verlangte, einen Menschen zu töten, da brach ich den Eid der Treue, den ich ihm geleistet hatte, und ging davon.« – »Erzähle mir die Geschichte von der Vertauschung des Kindes«, sagte der Dominikaner. – »Es war, wie ich bereits bemerkte, meine erste Tat. Der Hauptmann ging, um ganz sicher zu sein, selbst mit. Er führte mich in einen Gasthof der Stadt Barcelona, wo wir einkehrten und über Nacht blieben. Um Mitternacht trat ein Mann zu uns herein, der ein Paket auf den Tisch legte. Als er das Tuch auseinanderschlug, enthielt es einen etwa vier Jahre alten Knaben. Das Tuch roch sehr nach Äther, und daraus schloß ich, daß man das Kind besinnungslos gemacht hatte. Ich mußte diesen Knaben mit einem anderen verwechseln, der in einem zweiten Gastzimmer lag und schlief. Das Zimmer war nicht verschlossen, und ich bekam ein Ätherfläschchen mit, um erst die Wärterin und dann auch den Knaben bewußtlos zu machen. Nachdem ich die Kleidung der beiden Kinder verwechselt hatte, kehrte ich mit dem fremden Kind zurück, das der Hauptmann nun mit hierher nach der Höhle nahm.« – »Weißt du dies genau?« – »Ja. Ich ging ja mit und mußte den Knaben tragen. Es ist kein anderer als dieser Jüngling hier.« – »Auch das weißt du genau?« – »Ich möchte es beschwören! Dieser Jüngling glaubt, geträumt zu haben, aber er irrt sich, denn sein Traum ist Wahrheit gewesen. Als ich die Kleider verwechselte, sah ich auf den Kleidern des fremden Knaben die Grafenkrone mit den beiden Buchstaben S und R. Ich kann mich noch ganz genau besinnen, daß es am ersten Oktober des Jahres 18** gewesen ist, nämlich in der Nacht vom ersten auf den zweiten Oktober.« – »Die Wege des Herrn sind unerforschlich, aber er führt alles herrlich hinaus«, meinte der Pater. »Vielleicht bist du das Werkzeug eines göttlichen Ratschlusses gewesen, mein Sohn. Hast du den Mann nicht erkannt, der euch den Knaben brachte? Dies zu erfahren, muß für uns von der allergrößten Bedeutung sein.« – »Ich kannte ihn nicht, aber seinen Namen habe ich gehört. Der Hauptmann vergaß sich einmal und nannte ihn Señor Gasparino, und beim Abschied draußen an der Treppe, als sie sich unbeobachtet glaubten, sprach er diesen Namen abermals aus, die Tür stand offen, und so hörte ich ihn deutlich. Ich würde den Mann sofort wiedererkennen, wenn ich ihn noch einmal zu sehen bekäme.« – »Wie war seine Gestalt?« – »Lang und hager. Er hatte eine schnarrende Stimme und sprach in sehr frommen Worten und Ausdrücken.« – »Also Ihr habt den fremden Knaben in fremden Kleidern hierher gebracht. Was wurde dann mit ihm?« – »Er blieb in der Höhle und wurde gut gepflegt. Er sprach immer von seiner Mama, von seinem Papa, von der kleinen Rosita, von dem guten Alimpo und von der guten Elvira. Endlich verbot ihm der Capitano, diese Namen zu nennen, und dann mag er sie wohl ganz und gar vergessen haben.« – »Nein«, fiel Mariano ein. »Ich habe sie nicht vergessen. Die beiden letzteren Namen waren mir allerdings entfallen, aber jetzt entsinne ich mich ihrer genau. Der gute Alimpo trug mich viel auf seinen Armen. Was er im Schloß war, das weiß ich nicht. Er hatte ein wunderbares Bärtchen unter der Nase. Die Spitzen dieses Schnurrbarts waren fortrasiert, und nur gerade unter der Nase hingen ihm zwei lange Haarflocken weit über den Mund herab. Ich litt es deshalb


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