Theodor Storm: Novellen, Märchen, Gedichte & Briefe (Über 400 Titel in einem Band). Theodor Storm

Читать онлайн книгу.

Theodor Storm: Novellen, Märchen, Gedichte & Briefe (Über 400 Titel in einem Band) - Theodor Storm


Скачать книгу
das diese kleinen stummen Sommergäste vor den Augen des neben ihnen ruhenden Menschen aufführten.

      Der Doktor hatte sich aufgerichtet; seine Blicke folgten unwillkürlich jeder Bewegung der beiden Kreaturen. »Papilio urticae!« murmelte er. »Was das für ein glücklicher Kerl ist! – – Und doch«, setzte er nach einer Weile hinzu, »ein Mannsbild höherer Gattung, so ein gewöhnlicher Engel etwa, würde hinwieder vielleicht für die kleine Sophie nichts mehr empfinden, als ich für diesen Sommervogel; – – er würde sie vielleicht nur mit einer besondern naturwissenschaftlichen Neugierde betrachten und nicht ohne ein gewisses Grauen vor dem fremdartigen Wesen den ambrosischen Finger an ihre kleine Schulter legen.« – – Und nachdem er solchergestalt das Gleichgewicht seines Herzens wiederhergestellt zu haben glaubte, warf er sich auf den Rücken und starrte gedankenlos in die weißen Wolken, die über ihn hinwegzogen.

      Aber der Doktor war kein Engel; die kleinen Schultern, über denen der Sommerwind mit dem leichten Flortuch spielte, das heitere, gütige Mädchenantlitz standen vor ihm und ließen nicht ab, ihn zu quälen. –

      Jetzt waren viele Jahre seitdem vergangen.

       Der feine Metallschlag der Uhr klang durch das Zimmer.

      Der Doktor blickte auf. Er zählte; es schlug zwölf. Aber so weit in der Nacht konnte es noch nicht sein. Und jetzt besann er sich, er hatte ja vorhin den Weiser nicht gestellt; draußen vom Turm schlug es jetzt eben auch, es war erst neun Uhr. Er stand auf und blickte auf die Gasse hinaus. Der alte Kirchturm hob sich nur dunkel aus der Finsternis hervor; aber drüben aus dem großen Giebelhause drang noch der helle Lichterschein in das Dunkel hinaus. Dort wohnte sie noch jetzt, wie sie es einst getan; sie wohnte dort mit dem Justizrat, den sie im Lauf der Jahre geheiratet hatte, noch jetzt im Alter heiter und geliebt, wie sie es einst in ihrer Jugend gewesen war. Oft hatte seitdem in Tagen der Krankheit der Doktor an ihrem und ihrer Kinder Bette gesessen; er hatte auch einigemal auf Bitten seines mittlerweile zum wirklichen Justizrat avancierten Freundes an ihrer Geburtstagsfeier teilgenommen; nur in den letzten Jahren war er dazu nicht mehr zu bewegen gewesen. – –

      Es wurde leise an die Tür geklopft. – »Sie haben wieder geschickt, Onkel!« sagte das vorsichtig eintretende Mädchen.

      Der Doktor wandte den Kopf. »Von drüben?« fragte er.

      Das Mädchen bejahte es.

      Er hatte sich wieder nach dem Fenster gewandt und blickte, ohne etwas zu erwidern, in die Dunkelheit hinaus. – Eine Strecke unterhalb der hellen Fenster in der gegenüberliegenden Häuserreihe, welche von einer einsamen Straßenlaterne beleuchtet wurde, zeigte sich der finstere Raum der nach dem Hafen hinabführenden Twiete. Dann und wann trat eine Gestalt in den Dämmerschein der Laterne und verschwand zwischen den Häusern.

      »Ich habe nicht gesagt, daß du schon heim bist!« begann das Mädchen wieder.

      Der Doktor richtete sich auf. »Nun, Christine«, sagte er, indem er seinen blauen Frack zuknöpfte, »so sag auch jetzt nichts davon. Geh! Sie sollen mich in Ruhe lassen!«

       Kurze Zeit darauf trat er in Begleitung seines kleinen schwarzen Hundes in die mit Gästen angefüllte Schenkstube des Schifferhauses. »Nun, Doktor, wo bleibst du?« fragte eine etwas rauhe Stimme und eine derbe Hand streckte sich ihm entgegen. »Setz dich auf deinen Platz!« Und dann zu dem Wirte gewandt: »Jan Ohm, ein Glas Grog! Aber ein blasses, für den Doktor!«

       Inhaltsverzeichnis

       Inhaltsverzeichnis

      Es war zu Anfang April, am Tage vor Palmsonntag. Die milden Strahlen der schon tiefstehenden Sonne beschienen das junge Grün an der Seite des Weges, der an einer Berglehne allmählich abwärts führte. Auf demselben ging in diesem Augenblick einer der angesehensten Advokaten der Stadt, ein Mann mittleren Alters, mit ruhigen aber ausgeprägten Zügen, gemächlichen Schrittes, nur mitunter ein Wort mit dem neben ihm gehenden Schreiber wechselnd. Das Ziel ihrer Wanderung war eine unfern belegene Wassermühle, deren durch Alter und Krankheit geplagter Besitzer dieselbe seinem Sohne kontraktlich überlassen wollte.

      Wenige Schritte zurück folgte diesen beiden ein anderes Paar; neben einem jungen Manne mit frischem, intelligentem Antlitz ging eine schöne noch sehr jugendliche Frau. Er sprach zu ihr; aber sie schien es nicht zu hören; aus ihren dunklen Augen blickte sie schweigend vor sich hin, als wisse sie nicht, daß jemand an ihrer Seite gehe.

      Als das Gehöft des Müllers unten im Tale sichtbar wurde, wandte der Justizrat den Kopf zurück. »Nun, Vetter«, rief er, »du hast eine leidliche Handschrift; wie wär es, wenn du ein wenig Kontraktemachen lerntest?«

      Aber der Vetter winkte abwehrend mit der Hand. »Geht nur!« sagte er, und blickte fragend auf seine Begleiterin, »ich nehme indes eine Sprechstunde bei deiner Frau!«

      »So mach ihn wenigstens nicht gar zu klug, Veronika!«

      Die junge Frau neigte nur wie zustimmend den Kopf. – Hinter ihnen von den Türmen der Stadt kam das Abendläuten über die Gegend. Ihre Hand, mit der sie eben das schwarze Haar unter den weißen Seidenhut zurückgestrichen, glitt über die Brust hinab, und indem sie das Zeichen des Kreuzes machte, begann sie leise das angelus zu sprechen. Die Blicke des jungen Mannes, der gleich seinem Verwandten einer protestantischen Familie angehörte, folgten mit einem Ausdrucke von Ungeduld der gleichmäßigen Bewegung ihrer Lippen.

      Vor einigen Monaten war er als Architekt bei dem Neubau einer Kirche in die Stadt gekommen, und seitdem ein fast täglicher Gast in dem Hause des Justizrats geworden. Mit der jungen Frau seines Vetters geriet er sogleich in lebhaften Verkehr; sowohl durch die Gemeinsamkeit der Jugend, als durch seine Fertigkeit im Zeichnen, das auch von ihr mit Eifer und Geschick betrieben wurde. Nun hatte sie in ihm einen Freund und einen Lehrmeister zugleich gewonnen. Bald aber, wenn er des Abends neben ihr saß, war es nicht sowohl die vor ihr liegende Zeichnung, als die kleine arbeitende Hand, auf der seine Augen ruhten; und sie, die sonst jeden Augenblick den Bleistift fortgeworfen hatte, zeichnete jetzt schweigend und gehorsam weiter, ohne aufzusehen, wie unter seinem Blick gefangen. Sie mochten endlich selbst kaum wissen, daß abends beim Gutenachtsagen ihre Hände immer ein wenig länger aneinander ruhten, und ihre Finger ein wenig dichter sich umschlossen. Der Justizrat, dessen Gedanken meistens in seinen Geschäften waren, hatte noch weniger Arg daraus; er freute sich, daß seine Frau in ihren Lieblingsstudien Anregung und Teilnahme gefunden hatte, die er selbst ihr nicht zu gewähren vermochte. Nur einmal, als kurz zuvor der junge Architekt ihr Haus verlassen hatte, überraschte ihn der träumerische Ausdruck ihrer Augen. »Vroni«, sagte er, indem er die Vorübergehende an der Hand zurückhielt, »es ist doch wahr, was deine Schwestern sagen.« – »Was denn, Franz?« – »Freilich«, sagte er, »jetzt seh ich’s selbst, daß du gefirmte Augen hast.« – Sie errötete; und duldete es schweigend, als er sie näher an sich zog und küßte. – –

      Heute bei dem schönen Wetter waren sie und Rudolf von dem Justizrat aufgefordert worden, ihn auf seinem Geschäftsgange nach der nahe gelegenen Mühle zu begleiten.

      Seit der gestrigen Gesellschaft, wo sie eine unter seinen Augen vollendete Zeichnung auf Bitten ihres Mannes vorgelegt hatte, war indessen zwischen ihnen nicht alles so, wie es gewesen. Rudolf fühlte das nur zu wohl; und er vergegenwärtigte es sich jetzt noch einmal, wie es denn gekommen, daß er dem zwar etwas übermäßigen Lobe der andern mit so scharfem leidenschaftlichem Tadel entgegengetreten war.

      Veronika hatte längst ihr Gebet beendet; aber er wartete vergebens, daß sie die Augen zu ihm wende.

      »Sie grollen mir, Veronika!« sagte er endlich.

      Die junge Frau nickte kaum merklich; aber ihre Lippen blieben fest geschlossen.

      Er sah sie an. Der kleine Trotz lag immer noch auf ihrer Stirn. »Ich dächte«, sagte er, »Sie


Скачать книгу