Aphorismen zur Lebensweisheit. Georg Schwikart

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Aphorismen zur Lebensweisheit - Georg  Schwikart


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Freilich aber hat er durch dieses alles ein Bedürfnis mehr, als die andern, das Bedürfnis zu lernen, zu sehen, zu studieren, zu meditieren, zu üben, folglich auch das Bedürfnis freier Muße: aber eben weil, wie Voltaire richtig bemerkt: es gibt kein wahres Vergnügen, ohne das wahre Bedürfnis danach; so ist dies Bedürfnis die Bedingung dazu, dass ihm Genüsse offenstehen, welche den anderen versagt bleiben, als welchen Natur und Kunstschönheiten und Geisteswerke jeder Art, selbst wenn sie solche um sich anhäufen, im Grunde doch nur das sind, was Hetären93 einem Greise. Ein so bevorzugter Mensch führt infolge davon, neben seinem persönlichen Leben noch ein zweites, nämlich ein intellektuelles, welches ihm allmählich zum eigentlichen Zweck wird, zu welchem er jenes erstere nur noch als Mittel ansieht: Während den übrigen dieses schale, leere und betrübte Dasein selbst als Zweck gelten muss. Jenes intellektuelle Leben wird daher ihn vorzugsweise beschäftigen, und es erhält, durch den fortwährenden Zuwachs an Einsicht und Erkenntnis, einen Zusammenhang, eine beständige Steigerung, eine sich mehr und mehr abrundende Ganzheit und Vollendung, wie ein werdendes Kunstwerk; wogegen das bloß praktische, bloß auf persönliche Wohlfahrt gerichtete, bloß eines Zuwachses in der Länge, nicht in der Tiefe fähige Leben der andern traurig absticht, dennoch ihnen, wie gesagt, als Selbstzweck gelten muss; während es jenen bloßes Mittel ist.

      Unser praktisches reales Leben nämlich ist, wenn nicht Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade, wenn sie aber es bewegen, wird es bald schmerzlich: darum sind die allein beglückt, denen irgendein Überschuss des Intellekts, über das zum Dienst ihres Willens erforderte Maß, zuteil geworden. Denn damit führen sie, neben ihrem wirklichen, noch ein intellektuelles Leben, welches sie fortwährend auf eine schmerzlose Weise und doch lebhaft beschäftigt und unterhält. Bloße Muße, d. h. durch den Dienst des Willens unbeschäftigter Intellekte, reicht dazu nicht aus; sondern ein wirklicher Überschuss der Kraft ist erfordert: denn nur dieser befähigt zu einer dem Willen nicht dienenden rein geistigen Beschäftigung: hingegen: Muße ohne geistige Ausfüllung ist Tod und lebender Menschen Grab. Je nachdem nun aber dieser Überschuss klein oder groß ist, gibt es unzählige Abstufungen jenes, neben dem realen zu führenden intellektuellen Lebens, vom bloßen, Insekten-, Vogel-, Mineralien-, Münzensammeln und Beschreiben, bis zu den höchsten Leistungen der Poesie und Philosophie. Ein solches intellektuelles Leben schützt aber nicht nur gegen die Langeweile, sondern auch gegen die verderblichen Fehler derselben. Es wird nämlich zur Schutzwehr gegen schlechte Gesellschaft und gegen die vielen Gefahren, Unglücksfälle, Verluste und Verschwendungen, in die man gerät, wenn man sein Glück ganz in der realen Welt sucht. So hat z. B. mir meine Philosophie nie etwas eingebracht; aber sie hat mir sehr viel erspart.

      Der normale Mensch hingegen ist, hinsichtlich des Genusses seines Lebens, auf Dinge außer ihm gewiesen, auf den Besitz, den Rang, auf Weib und Kinder, Freunde, Gesellschaft usf., auf diese stützt sich sein Lebensglück: darum fällt es dahin, wenn er sie verliert, oder er sich in ihnen getäuscht sah. Dies Verhältnis auszudrücken, können wir sagen, dass sein Schwerpunkt außer ihm fällt. Eben deshalb hat er auch stets wechselnde Wünsche und Grillen94: er wird, wenn seine Mittel es erlauben, bald Landhäuser, bald Pferde kaufen, bald Feste geben, bald Reisen machen, überhaupt aber großen Luxus treiben; weil er eben in Dingen aller Art ein Genüge von außen sucht; wie der Entkräftete aus Consommé’s95 und Apothekerdrogen die Gesundheit und Stärke zu erlangen hofft, deren wahre Quelle die eigene Lebenskraft ist. Stellen wir nun, um nicht gleich zum anderen Extrem überzugehen, neben ihn einen Mann von nicht gerade eminenten, aber doch das gewöhnliche knappe Maß überschreitenden Geisteskräften; so sehen wir diesen etwa irgendeine schöne Kunst als Dilettant üben, oder aber eine Realwissenschaft, wie Botanik, Mineralogie, Physik, Astronomie, Geschichte und dergleichen betreiben und alsbald einen großen Teil seines Genusses darin finden, sich daran erholend, wenn jene äußeren Quellen stocken, oder ihn nicht mehr befriedigen. Wir können insofern sagen, dass sein Schwerpunkt schon zum Teil in ihn selbst fällt. Weil jedoch bloßer Dilettantismus in der Kunst noch sehr weit von der hervorbringenden Fähigkeit liegt, und weil bloße Realwissenschaften bei den Verhältnissen der Erscheinungen zueinander stehen bleiben; so kann der ganze Mensch nicht darin aufgehen, sein ganzes Wesen kann nicht bis auf den Grund von ihnen erfüllt werden und daher sein Dasein sich nicht mit ihnen so verweben, dass er am Übrigen alles Interesse verlöre. Dies nun bleibt der höchsten geistigen Eminenz allein vorbehalten, die man mit dem Namen des Genies zu bezeichnen pflegt: denn nur sie nimmt das Dasein und Wesen der Dinge im ganzen und absolut zu ihrem Thema, wonach sie dann ihre tiefe Auffassung desselben, gemäß ihrer individuellen Richtung durch Kunst, Poesie oder Philosophie auszusprechen streben wird. Daher ist allein einem Menschen dieser Art die ungestörte Beschäftigung mit sich, mit seinen Gedanken und Werken dringendes Bedürfnis, Einsamkeit willkommen, freie Muße das höchste Gut, alles übrige entbehrlich, ja, wenn vorhanden, oft nur zur Last. Nur von einem solchen Menschen können wir demnach sagen, dass sein Schwerpunkt ganz in ihn fällt. Hieraus wird sogar erklärlich, dass die höchst seltenen Leute dieser Art, selbst beim besten Charakter, doch nicht jene innige und grenzenlose Teilnahme an Freunden, Familie und Gemeinwesen zeigen, deren manche der andern fähig sind: denn sie können sich zuletzt über alles trösten; wenn sie nur sich selbst haben. Sonach liegt in ihnen ein isolierendes96 Element mehr, welches umso wirksamer ist, als die andern ihnen eigentlich nie vollkommen genügen, weshalb sie in ihnen nicht ganz und gar ihresgleichen sehen können, ja, da das Heterogene97 in allem und jedem, ihnen stets fühlbar wird, allmählich sich gewöhnen unter den Menschen als verschiedenartige Wesen umherzugehen und, in ihren Gedanken über dieselben, sich der dritten, nicht der ersten Person Pluralis bedienen. –

      Von diesem Gesichtspunkte aus erscheint nun der, welchen die Natur in intellektueller Hinsicht sehr reich ausgestattet hat, als der Glücklichste; so gewiss das Subjektive uns näher liegt als das Objektive, dessen Wirkung, welcher Art sie auch sei, immer erst durch jenes vermittelt, also nur sekundär98 ist. Dies bezeugt auch der schöne Vers:

      Reichtum des Geistes allein verdient als Reichtum zu gelten, Alles anderen Guts Schaden ist wahrlich zu groß. (Lucian99)

      Ein solcher innerlich Reicher bedarf von außen nichts weiter, als eines negativen Geschenks, nämlich freier Muße, um seine geistigen Fähigkeiten ausbilden und entwickeln und seinen inneren Reichtum genießen zu können, also eigentlich um der Erlaubnis, sein ganzes Leben hindurch, jeden Tag und jede Stunde, ganz er selbst sein zu dürfen. Wenn einer bestimmt ist, die Spur seines Geistes dem ganzen Menschengeschlechte aufzudrücken; so gibt es für ihn nur ein Glück oder Unglück, nämlich seine Anlagen vollkommen ausbilden und seine Werke vollenden zu können – oder aber hieran verhindert zu sein. Alles andere ist für ihn geringfügig. Demgemäß sehen wir die großen Geister aller Zeiten auf freie Muße den allerhöchsten Wert legen. Denn die freie Muße eines jeden ist so viel wert, wie er selbst noch ist. Aristoteles sagte, die Glückseligkeit des Menschen scheine in seiner Muße zu liegen, und Diogenes Laertius100 berichtet, Sokrates habe die Muße als den schönsten Besitz gepriesen. Dem entspricht auch, dass Aristoteles das philosophische Leben für das glücklichste erklärt. Sogar gehört hierher, was er in der Politik sagt, welches gründlich übersetzt, besagt: »seine Trefflichkeit, welcher Art sie auch sei, ungehindert üben zu können, ist das eigentliche Glück«, und also zusammentrifft mit Goethes Ausspruch im Wilhelm Meister101: »wer mit seinem Talent zu einem Talent geboren ist, findet in demselben sein schönstes Dasein.« – Nun aber ist freie Muße zu besitzen nicht nur dem gewöhnlichen Schicksal, sondern auch der gewöhnlichen Natur des Menschen fremd: denn seine natürliche Bestimmung ist, dass er seine Zeit mit Herbeischaffung des zu seiner und seiner Familie Existenz Notwendigen zubringe. Er ist ein Sohn der Not, nicht eine freie Intelligenz. Dementsprechend wird freie Muße dem gewöhnlichen Menschen bald zur Last, ja, endlich zur Qual, wenn er sie nicht mittelst allerlei erkünstelter und fingierter Zwecke, durch Spiel, Zeitvertreib und Steckenpferde jeder Gestalt auszufüllen vermag: auch bringt sie ihm, aus demselben Grunde, Gefahr, da es mit Recht heißt: die Ruhe der Muße ist schwer zu ertragen. Anderseits jedoch ist ein über das normale Maß weit hinausgehender Intellekt ebenfalls abnorm, also unnatürlich. Ist er dennoch einmal vorhanden, so bedarf es, für das Glück des damit Begabten, eben jener den andern bald lästigen, bald verderblichen freien Muße; da er ohne diese ein Pegasus im Joche102, mithin unglücklich sein wird. Treffen nun aber beide Unnatürlichkeiten, die äußere und die innere, zusammen, so ist es ein großer Glücksfall:


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