Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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die ein­zi­ge sei­ner wür­di­ge Be­schäf­ti­gung in die­sem klein­li­chen Nes­te. So­bald Rosa sich auf der Stra­ße zeig­te, be­geg­ne­te ihr Am­bro­si­us und grüß­te sie, bald mit dem höf­lich kal­ten Gruß des Welt­man­nes, bald mit ei­nem in­ni­gen, viel­sa­gen­den Nei­gen des Kop­fes. Er ging vor ih­rem Fens­ter auf und ab und sand­te ihr durch den Bur­schen sei­nes Schus­ters einen Strauß. Was zu tun war, ge­sch­ah.

      Rosa freu­te sich na­tür­lich ih­res Tri­um­phes; na­tür­lich tat sie ihr Mög­lichs­tes, um Am­bro­si­us auf­zu­mun­tern. Wenn er, sehr kor­rekt in ei­nem dunklen Über­zie­her ein­ge­knöpft, einen ho­hen, spie­gelblan­ken Hut ein we­nig schief auf dem Kopf, un­ter Ro­sas Fens­ter vor­über­ging, dann schau­te sie je­des­mal hin­aus. Er grüß­te hin­auf, sie grüß­te hin­ab, er­rö­te­te – zog den Kopf vom Fens­ter zu­rück und steck­te ihn gleich wie­der hin­aus. Am­bro­si­us pfleg­te eine Wei­le dort ste­hen­zu­blei­ben. Er wieg­te sich sach­te in den Hüf­ten, zog sei­ne Man­schet­ten weit über die Hän­de, die in neu­en Hand­schu­hen steck­ten, dreh­te sei­nen Spa­zier­stock und blick­te süß em­por. Die­se saub­re, ge­pfleg­te Fest­tags­er­schei­nung – denn einen so blan­ken Hut, so neue Hand­schu­he, so gute Klei­der trug man im Städt­chen nur an ho­hen Fest­ta­gen – die­se Fest­tags­er­schei­nung, die je­den Werk­tags­nach­mit­tag vor Ro­sas Fens­ter stand und sie be­wun­der­te, brach­te einen großen und neu­en Reiz in das Le­ben des Mäd­chens. Die selbst­be­wuss­te Kühn­heit, mit der Am­bro­si­us zu ihr em­por­starr­te, die ge­such­ten Stel­lun­gen, der Auf­wand mit großen, sehr fun­keln­den Hemd­knöp­fen und brei­ten Man­schet­ten, den er trieb, al­les war ihr neu und an­zie­hend; und die Son­nen­strah­len, die auf dem blan­ken Hut blitz­ten, um­ga­ben den ge­fühl­vol­len Hand­lungs­die­ner der Fir­ma La­nin mit ei­ner leuch­ten­den Au­reo­le.

      Und muss­te es nicht so sein? Muss­te nicht die­ses Mäd­chen, mit der fie­bern­den Phan­ta­sie und den fie­bern­den Sin­nen sei­ner sieb­zehn Jah­re, die un­ge­dul­dig über das stil­le bür­ger­li­che Le­ben hin­aus­dräng­ten, muss­te es nicht al­lem Neu­en, Un­ge­wohn­ten be­gie­rig zu­flat­tern, und war je­nes Neue auch nur ein Kom­mis, der sei­nen Sonn­tags­rock am Werk­ta­ge trug? Das Sin­nen und Träu­men, dem sich Rosa in ein­sa­men Stun­den gern er­gab, ver­lor viel von sei­ner Un­be­stimmt­heit. Ihre Ge­dan­ken ver­dich­te­ten sich viel­mehr um die eine Ge­stalt. Mit der nai­ven Um­ständ­lich­keit sol­cher jun­gen, nach Ge­nuss ver­lan­gen­den Vi­sio­näre mal­te sie sich Be­geg­nun­gen und Zu­sam­men­künf­te mit Am­bro­si­us aus – rei­che, glän­zen­de Klei­der, die ihn in Er­stau­nen setz­ten; selt­sa­me, un­mög­li­che Le­bens­la­gen, in de­nen sie ihm groß und be­wun­de­rungs­wür­dig er­schi­en. Bald war sie reich und fuhr in ei­ner Ka­le­sche durch die Stra­ßen; Am­bro­si­us stand am Wege und grüß­te; sie ließ hal­ten und sag­te, mit dem nach­läs­si­gen Lä­cheln ei­ner Welt­da­me: »Aber Herr von Tel­le­r­at; stei­gen Sie doch ein!« – Sie wink­te da­bei mit dem Fä­cher. Gott ja! Rosa warf ih­ren Kopf auf die Leh­ne des Stuh­les zu­rück und schloss die Au­gen, die­se Träu­me reg­ten sie auf und er­hitz­ten ihr Blut:

      »Aber so stei­gen Sie doch ein, Herr von Tel­le­r­at«, flüs­ter­te sie.

      Um die­se Zeit ward auch die Freund­schaft mit Fräu­lein Sal­ly be­son­ders warm. Je­den Nach­mit­tag fühl­te Rosa das Be­dürf­nis, nach ih­rer Freun­din zu se­hen. Saß Fräu­lein Sal­ly nicht in sin­nen­der Stel­lung am Fens­ter, so ging Rosa in den La­den, um nach ihr zu fra­gen. Lurch stand hin­ter dem La­den­tisch, bleich, still, be­staubt, ganz wie er dort ge­stan­den hat­te, seit Rosa ge­lernt, ihn von den Fäs­sern und Kis­ten zu un­ter­schei­den. Am­bro­si­us saß auf ei­ner Kis­te und hielt die Bei­ne auf ei­ner an­dern.

      Wenn Rosa ein­trat und ei­ni­ge un­schlüs­si­ge Reb­huhn­schrit­te im en­gen Rau­me mach­te, dann flog ein mat­tes Lä­cheln über Lurchs Ge­sicht, und Am­bro­si­us rich­te­te sich has­tig aus sei­ner nach­läs­si­gen Stel­lung auf, zog sei­ne Man­schet­ten un­ter den Rock­är­meln her­vor und war ganz Sa­lon­mann. »Ah, Fräu­lein Herz! Gnä­di­ges Fräu­lein – hm, Sie su­chen wohl mei­ne Cou­si­ne?«

      »Ja, ich habe mit Sal­ly zu spre­chen.«

      »Sal­ly kommt so­fort, ge­wiss, mein gnä­di­ges Fräu­lein. Nicht wahr, Lurch? Ge­dul­den Sie sich einen Au­gen­blick, neh­men Sie mit un­se­rer Klau­se vor­lieb.«

      »Oh, Herr von Tel­le­r­at, es hat kei­ne Eile.«

      »Aber Sal­ly wird so­gleich hier sein. Neh­men Sie Platz, gnä­di­ges Fräu­lein. Sehr pri­mi­tiv, nicht? Ja, ja, sehr ar­ka­disch!«

      Rosa setz­te sich. Am­bro­si­us stand ne­ben ihr und führ­te die Un­ter­hal­tung. Rosa schlug ihre Au­gen voll zu ihm auf, und er blick­te an­ge­strengt in die­se blau­en run­den Au­gen. Das mach­te für bei­de die­ses Zu­sam­men­sein zu ei­nem be­deu­tungs­vol­len.

      »Gute Au­gen!« pfleg­te Am­bro­si­us spä­ter zu Lurch zu sa­gen.

      »Wer? Ah, Fräu­lein Rosa!«

      »Ja – hm – Fräu­lein Herz. Man muss eben ver­ste­hen, den rech­ten Fun­ken aus Wei­be­rau­gen her­aus­zu­schla­gen.« Am­bro­si­us kniff die Au­gen­li­der zu­sam­men, um die Metho­de an­zu­ge­ben. »Ver­ste­hen muss man das, da­mit die Mä­del einen so recht an­schau­en; die Au­gen auf­schla­gen und einen so plötz­lich an­se­hen, so – wis­sen Sie?«

      »Ja.« Lurch ver­stand ihn.

      Den gu­ten Her­weg hat­te Lan­ins schö­ner Nef­fe aus Ro­sas Her­zen ver­drängt. Am­bro­si­us hat­te auch viel vor Her­weg vor­aus, nicht nur den blan­ken Hut und die bes­ser ge­mach­ten Klei­der, son­dern auch – was mehr war – er hat­te vor Her­weg den fes­ten Glau­ben an sei­ne Un­wi­der­steh­lich­keit, die große, wah­re Be­wun­de­rung sei­ner selbst vor­aus. Er lieb­te Rosa, weil er es sich so vor­ge­nom­men hat­te. Aber es lag nicht in sei­ner Art, sich mit dem blo­ßen Be­wusst­sein ge­gen­sei­ti­ger Lie­be zu be­gnü­gen, dazu er­reg­te das leb­haf­te Mäd­chen mit dem schö­nen, klu­gen Lä­cheln, der nai­ven Kühn­heit sei­ner Ge­fall­sucht, den blan­ken, sinn­li­chen Au­gen viel zu leb­haf­te Wün­sche in Am­bro­si­us’ wei­chem Ge­mü­te. Halb war es die bru­ta­le Lüs­tern­heit ner­vö­ser Men­schen, halb die Be­harr­lich­keit des Ge­cken, der einen je­den zur Be­wun­de­rung zwin­gen will.

      Ei­nes Sonn­tags, als Rosa am Lan­in­schen Hau­se vor­über­ging, stürm­te Fräu­lein Sal­ly an das Fens­ter und bat Rosa, so­fort her­ein­zu­kom­men, sie müs­se ih­ren Rat ein­ho­len.

      Rosa fand den Lan­in­schen Sa­lon in sonn­täg­li­cher Ruhe und Ord­nung. Auf den Ti­schen la­gen schwar­ze An­dachts­bü­cher, die Mö­bel hat­ten sich der wei­ßen Über­zü­ge ent­le­digt und prang­ten im Voll­glanz des ro­ten Man­che­s­ters. Der star­ke Duft der Sonn­tags­kohl­sup­pe er­füll­te das Ge­mach, und Fräu­lein Sal­ly stand in die­ser At­mo­sphä­re fröh­lich und un­be­fan­gen, als wäre das ihr Ele­ment. Sie hat­te heu­te die Trau­er um den On­kel ab­ge­legt und trug ein net­tes wei­ßes Kleid, das bei je­dem Schritt an­ge­nehm knis­ter­te, als wäre Fräu­lein Sal­ly ein Pa­pier­korb.

      »Ah, da bist du ja!« rief sie Rosa ent­ge­gen. »Der Cou­sin und ich – wir be­ra­ten uns hier eben über das Fest.«

      Ein stol­zes Lä­cheln um­spiel­te Fräu­lein Sal­lys Lip­pen. Am­bro­si­us


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