Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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und woll­te flie­hen, er je­doch hielt sie an den Fü­ßen fest, sie mit sei­nen lan­gen Ar­men um­schlin­gend, kroch er an ihr em­por, das gel­be Ge­sicht mit den her­vor­tre­ten­den gel­ben Au­gen kam dem ih­ren ganz nah, die hei­ßen, dün­nen Lip­pen so­gen sich an ih­rer Wan­ge fest. Mit ver­zwei­fel­ter An­stren­gung stieß Rosa ge­gen den Kör­per, der sich an sie he­randräng­te, und er tau­mel­te. »Hil­fe! Um Got­tes wil­len!« schrie sie – und wie­der preß­ten die zit­tern­den dür­ren Glie­der sie an sich. Schrit­te wur­den hör­bar. »Hil­fe!« schrie Rosa noch ein­mal.

      »Ver­fluch­te Ka­nail­le!« sag­te je­mand ne­ben ihr, und Lurch, der sich an Ro­sas Rö­cke an­zu­klam­mern ver­such­te, ward ge­packt. »Nun Brü­der­chen, komm nur«, sag­te die­sel­be Stim­me, und Lurch flog auf die an­de­re Sei­te des We­ges hin­über, um dort laut­los nie­der­zu­fal­len. Vor Rosa stand Her­weg und lach­te über das gan­ze Ge­sicht. »Dem Kerl wol­len wir sol­che Spä­ße ver­sal­zen. Wie der flog«, mein­te er.

      »Ich dan­ke Ih­nen«, sag­te Rosa.

      »Wie Sie blass sind, Rosa.«

      »Ich will heim­ge­hen. Ich fürch­te mich.«

      »Der Kerl wird Ih­nen nichts mehr tun. Wie kam er über­haupt zu Ih­nen?«

      »Ich weiß es nicht.«

      »Ge­ben Sie mir Ihren Arm. Ich füh­re Sie nach Hau­se.«

      »Nein – nein! Ich gehe al­lein«, und Rosa be­gann ei­lig vor­wärts­zu­ge­hen. Her­weg je­doch folg­te ihr, und als Rosa lief, lief er auch und rief: »So war­ten Sie doch, Schätz­chen.« Er hol­te sie auch ein, hielt sie an ih­rem Man­tel fest und lach­te.

      »O Gott – o Gott!« stöhn­te Rosa und wand­te Her­weg ein so ver­zwei­felt angst­vol­les Ge­sicht zu, dass er be­stürzt ward. »Aber Rosa«, sag­te er, »ich tue Ih­nen ja nichts. Ken­nen Sie mich denn nicht mehr?«

      »Ach las­sen Sie mich ge­hen«, fleh­te Rosa.

      »Ge­wiss, gu­ten Abend«, ver­setz­te Her­weg und grüß­te ver­le­gen. Er ver­stand nicht, was dem Mäd­chen war; hat­te er ihm denn auch ein Leid zu­ge­fügt? Ver­drieß­lich und ent­täuscht ging er sei­ner Wege.

      »Kind, wo bist du ge­we­sen?« rief Ag­nes, die in der Kü­che saß, Rosa ent­ge­gen, als die­se nach Hau­se kam. »Der Va­ter ging dich su­chen.« Rosa er­wi­der­te nichts. Sie stell­te sich bloß in den hel­len Schein des Herd­feu­ers. Ein je­der muss­te es ja auf ih­rem Ge­sich­te le­sen, was sie er­lebt hat­te. »Gro­ßer Gott, was ist denn ge­sche­hen?« rief Ag­nes.

      »Ach Ag­nes!« Mehr ver­moch­te Rosa nicht her­vor­zu­brin­gen. Sie knie­te vor ih­rer al­ten Pfle­ge­rin nie­der, ver­barg ih­ren Kopf in de­ren Schoß und wein­te und schluchz­te ganz aus vol­lem Her­zen. Ag­nes frag­te nicht wei­ter, sie hielt den blon­den Kopf auf ih­ren Kni­en und strich mit der Hand sanft über das Haar. Als Herr Herz heim­kam, tausch­te er mit Ag­nes nur stum­me Bli­cke und Win­ke aus, leg­te Holz auf das Feu­er, trank Tee, saß da und dreh­te kum­mer­voll einen Dau­men um den an­dern, und zu­wei­len, auf den Fuß­spit­zen an Rosa her­an­tre­tend, ließ er eine Wei­le sei­ne Hand ne­ben Ag­nes’ Hand auf dem Haup­te sei­nes Kin­des ru­hen.

      Wort­los sa­ßen sie fast die gan­ze Nacht hin­durch auf und wach­ten über Ro­sas Schmerz.

      Viertes Kapitel

      Lurch blieb noch eine Wei­le dort un­ten am Wege lie­gen – ein dunkles, re­gungs­lo­ses Pa­ket. End­lich be­leb­te der schar­fe Wind sei­ne Le­bens­geis­ter; er fror und rich­te­te sich auf. Das Ge­hen woll­te nicht so­gleich ge­lin­gen, das rech­te Bein schmerz­te. Lie­be­voll be­tas­te­te Lurch sei­ne Glie­der, um zu un­ter­su­chen, wie groß der an­ge­rich­te­te Scha­den sei. Er muss­te nicht be­deu­tend sein, denn Lurch wand­te sein Ge­sicht ernst dem Mon­de zu und sprach laut vor sich hin: »Lurch ist heil«, dann mach­te er sich müh­sam auf den Heim­weg.

      Nach dem hef­ti­gen Lei­den­schafts­sturm, der ihn be­wegt hat­te, fühl­te er sich be­ru­higt und er­nüch­tert. Er sprach wohl halb­laut mit sich selbst, aber in sei­ner sanf­ten, be­schei­de­nen Wei­se, als ver­kehr­te er mit ei­nem Kun­den im Ge­schäft. Da­bei rei­nig­te er pein­lich und ge­nau sei­nen Über­rock. »Das ging nicht. Nein! Das ging gar nicht. Wie soll­te es auch? Ich hät­te es nicht glau­ben sol­len. Nun ist’s aus. Na­tür­lich, was kann denn jetzt noch kom­men? Na­tür­lich.«

      Lurch wohn­te an dem Kir­chen­platz in ei­nem ho­hen, schma­len Hau­se. Vier Trep­pen hoch hat­te er für sich und sei­ne Mut­ter zwei Zim­mer und eine Kü­che ge­mie­tet, und die­se wa­ren der Schau­platz sei­ner zar­ten, kind­li­chen Sorg­falt. Er lieb­te sei­ne Mut­ter, er ent­sann sich kaum ei­ner Zeit, da er nicht für die alte Frau zu sor­gen ge­habt hät­te. Ihr eine ru­hi­ge Exis­tenz si­chern war stets die Haupt­auf­ga­be sei­nes Le­bens ge­we­sen. Erst als er zu glau­ben be­gann, sei­ne Lie­be zu Rosa sei nicht ganz hoff­nungs­los, erst da dach­te er an die Mög­lich­keit, sich von sei­ner Mut­ter zu tren­nen. Wenn Rosa es ver­lang­te, muss­te es ge­sche­hen, na­tür­lich, aber es wür­de doch hart für die alte Frau sein!

      Mit schwe­ren Schrit­ten stieg Lurch die fins­te­ren Trep­pen zu sei­ner Woh­nung hin­auf. Das ers­te Zim­mer war leer. Ein Licht­schein vom Nach­bar­fens­ter fiel in das zwei­te Zim­mer auf das Bett der al­ten Frau, und Lurch sah, wie je­den Abend, wenn er heim­kam, die große wei­ße Hau­be schon auf dem Kopf­kis­sen lie­gen. Sonst pfleg­te er wohl noch eine Wei­le auf dem Bett der al­ten Frau zu sit­zen und zu plau­dern. Er lieb­te es, wenn sei­ne Mut­ter ihre wel­ken Hän­de auf sein Knie leg­te und ihn mit mat­ter, schläf­ri­ger Stim­me über die klei­nen Er­eig­nis­se des Ta­ges aus­frag­te. »Wie hoch war die Ta­ges­lo­sung im Ge­schäft? Wen hast du auf der Stra­ße ge­se­hen?« Und die stets wie­der­keh­ren­de Fra­ge der letz­ten Zeit war ge­we­sen: »Hast du Rosa Herz ge­se­hen?« Wenn end­lich der Schlaf die alte Frau über­mann­te, stand Con­rad Lurch auf, steck­te im Ne­ben­zim­mer die Lam­pe an, ver­zehr­te flüch­tig – auf ei­ner Ti­sche­cke – sein Nacht­mahl und ver­tief­te sich in einen Ro­man. Die­se stil­len Nacht­stun­den, in de­nen die re­gel­mä­ßi­gen Atem­zü­ge der al­ten Frau und der Ton der Kir­chen­uhr al­lein die en­gen Räu­me be­leb­ten, die­se Stun­den wa­ren die er­eig­nis­reichs­ten in Lurchs ar­mem Le­ben. Den Kopf in die Hän­de ge­stützt, saß er oft gan­ze Näch­te über ei­nem Ro­man auf. Recht süße Er­zäh­lun­gen, in de­nen die Leu­te sich heiß lieb­ten, in de­nen sie wein­ten, große, edle Ge­füh­le aus­spra­chen, wa­ren ihm die liebs­ten. Trä­nen muss­ten ihm wäh­rend des Le­sens in den Au­gen bren­nen und die Hän­de kalt und kraft­los vor Er­re­gung wer­den. Erst wenn ihn die Au­gen schmerz­ten, leg­te er das Buch fort und be­gab sich zur Ruhe, mit den Ge­dan­ken noch in der schö­nen, er­eig­nis­rei­chen Welt des Ro­mans wei­lend. Und – wenn er so sin­nend im Bet­te wach­lag, das Ge­le­se­ne im­mer wie­der durch­le­bend, dann misch­te sich un­ter die Per­so­nen der Er­zäh­lung ein jun­ger Mann, von dem das Buch nichts wuss­te. Die­ser jun­ge Mann hat­te lan­ge Ge­sprä­che mit der Hel­din – be­zau­ber­te sie durch sei­nen Edel­mut. Es war eine Art Lurch – kein Zwei­fel! Und den­noch von Lan­ins dün­nem Kom­mis sehr ver­schie­den.

      Heu­te ging Lurch nicht zu sei­ner Mut­ter hin­über, son­dern stell­te sich im ers­ten Zim­mer an das Fens­ter und starr­te auf den fins­tern Kir­chen­platz hin­ab.

      »Con­ni – bist du’s?« frag­te die Mut­ter.

      »Ja – Mut­ter!«


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