Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke. Eduard von Keyserling

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Eduard von Keyserling – Gesammelte Werke - Eduard von  Keyserling


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von den Lei­den ar­mer Müt­ter, von der Kraft und Ge­schick­lich­keit der Frau Böhk – und selt­sam war es, wie sorg­los Ag­nes heu­te von Din­gen sprach, die sie sonst vor Rosa nie nann­te, »weil sie eben nicht für Kin­der sind«.

      Es war spät ge­wor­den, als die drei noch im­mer in der Kü­che sa­ßen, eng an­ein­an­der­ge­drängt im war­men Rau­me, über den das un­ru­hi­ge Licht des Herd­feu­ers hin­flat­ter­te.

      Wie die Haus­ge­nos­sen sich eng an­ein­an­der­drän­gen, wenn ne­ben­an – im dunklen Zim­mer – ein To­ter liegt, So sa­ßen Rosa, ihr Va­ter und Ag­nes bei­sam­men, und kei­ner hat­te Lust, in die an­de­ren Zim­mer hin­über­zu­ge­hen, es war, als such­ten sie in der Kü­che Schutz vor et­was, das sie dort – im Wohn­zim­mer – an­fal­len könn­te.

      Rosa blick­te je­des­mal ängst­lich auf, wenn Ag­nes gähn­te. Sie fürch­te­te, Ag­nes wür­de schla­fen ge­hen, und die lan­ge, qual­vol­le Nacht wür­de be­gin­nen. Es war schon Mit­ter­nacht vor­über, als Herr Herz den Vor­schlag mach­te, sich zur Ruhe zu be­ge­ben. Ag­nes ging be­reit­wil­lig dar­auf ein, ja, sie freu­te sich sicht­lich dar­über; Rosa aber schi­en es, als stie­ßen ihr Va­ter und Ag­nes sie gleich­gül­tig in das Dun­kel ei­ner ein­sa­men, pein­vol­len Wan­de­rung hin­aus – nur weil sie ein we­nig schläf­rig wa­ren. Sie fand das herz­los und ging – schwer seuf­zend – in ihre Kam­mer, um sich wie­der mit ih­rem wir­ren, un­kla­ren Schmerz aus­ein­an­der­zu­set­zen.

      Drittes Kapitel

      Der ers­te Tag war leid­lich über­wun­den durch ste­ti­ges Flie­hen vor kla­rem An­schau­en der Sach­la­ge, durch me­cha­ni­sches Wei­ter­le­ben, ohne das Be­wusst­sein aus sei­ner Be­täu­bung er­wa­chen zu las­sen. Merk­wür­dig aber war es, wie Rosa die­sen Zu­stand auch für die fol­gen­den Tage fest­zu­hal­ten ver­stand, wie sie ihre Sor­gen, das Sich-Auf­leh­nen ge­gen al­les Fins­te­re und Grau­sa­me, das ihr Le­ben zer­stör­te, zur Ruhe wies – und bei­sei­te­schob mit dem mut­lo­sen Satz: »Es ist eben al­les aus.«

      Sie be­harr­te in ih­rer nacht­wand­le­ri­schen Gleich­gül­tig­keit und ließ ihre Ge­dan­ken weit ab­ge­le­ge­ne Wege ge­hen. Oft durch­leb­te sie wie­der im Geist, mit rei­ner Freu­de, ihre Ver­gan­gen­heit; die Zei­ten, da sie ein Schul­mäd­chen war und eine Rol­le un­ter ih­ren Ge­nos­sin­nen spiel­te. Nur zu­wei­len ward sie von der Erin­ne­rung der jüngs­ten Er­eig­nis­se hin­ter­rücks an­ge­fal­len wie von ei­nem wie­der­er­wach­ten ste­chen­den Schmerz, und die­se Erin­ne­rung mach­te das arme Mäd­chen bleich bis in die Lip­pen. »Nein – nein«, sag­te Rosa dann halb­laut vor sich hin, als woll­te sie die­se Bil­der von sich ab­schüt­teln.

      Das Le­ben in der Herz­schen Woh­nung nahm wie­der sei­nen ge­wohn­ten Gang. Herr Herz gab am Vor­mit­tage Turn­un­ter­richt; die Mahl­zei­ten wur­den wie­der im Spei­se­zim­mer ein­ge­nom­men, und am Abend ver­sam­mel­te sich die Fa­mi­lie um den run­den Tisch im Wohn­zim­mer. In den Klub ging Herr Herz nicht mehr, und sei­ne Woh­nung war wie eine Fes­tung ge­gen die Au­ßen­welt ab­ge­schlos­sen, nicht ein­mal Nach­rich­ten dran­gen von au­ßen hin­ein, denn Herr Herz sprach nicht mehr von La­nin und Klappe­kahl. Er­zähl­te er nicht sei­ne al­ten Thea­ter­ge­schich­ten, so schwieg er. Rosa schwieg be­stän­dig. Nur in Ag­nes hat­te sich eine un­ge­wöhn­li­che Ge­sprä­chig­keit ent­wi­ckelt; ihre fes­te, be­ru­hi­gen­de Stim­me war die meist­ge­hör­te in den jetzt so stil­len Räu­men.

      Wäh­rend der gleich­mä­ßig ver­rin­nen­den Tage kam end­lich doch ein Wan­del über das lei­den­de Mäd­chen. Statt der wei­ta­blie­gen­den, ne­bel­haf­ten Träu­me be­gann Rosa sich mit dem Zer­le­gen der für sie so ver­häng­nis­vol­len Er­eig­nis­se zu be­schäf­ti­gen; die­se Ge­dan­ken lie­ßen sich eben nicht mehr ab­wei­sen. Das stil­le, blei­che Kind fing nun un­abläs­sig mit sich selbst zu rä­so­nie­ren und zu rech­ten an. Rosa hielt im Geis­te große Re­den, ver­tei­dig­te sich, als säße sie auf der An­kla­ge­bank; war denn die­se Un­zu­frie­den­heit mit ih­rem Los nicht be­rech­tigt ge­we­sen? Der Durst nach Freu­den hat­te sie kopf­los ins Un­glück ge­trie­ben. War sie schuld dar­an, dass al­les so gars­tig und schimpf­lich ge­en­det hat­te? Ein je­des Mäd­chen hät­te ge­han­delt wie sie; ja, auch Sal­ly und Er­nes­ti­ne, wä­ren sie nicht häss­lich und schiel­ten. O die, die hat­ten es leicht, kei­ner ver­lieb­te sich in sie! Und Rosa er­ging sich in ei­nem bit­ter­bö­sen An­griff auf die­se bei­den Da­men. Im­mer neue Grün­de stell­ten sich ein, die be­wie­sen, dass Fräu­lein La­nin und Klappe­kahl arme, ver­ächt­li­che We­sen sei­en, die nie eine Lei­den­schaft er­regt oder emp­fun­den hat­ten. Gut! Rosa woll­te Bon­ne wer­den, sie war be­reit, al­les Schwe­re auf sich zu neh­men, sie er­war­te­te nichts mehr von ih­rem Le­ben, aber ge­gen ein so arm­se­li­ges Ding wie Sal­lys Exis­tenz hät­te sie es doch nicht ver­tauscht. Der Ent­schluss, fort­zu­ge­hen, be­ru­hig­te Rosa, es brauch­te ja nicht gleich zu sein, aber sie wuss­te, wor­an sie sich hal­ten konn­te. Nur über ei­nes ge­lang­te sie nicht zur Klar­heit: Sehn­te sie sich nach Am­bro­si­us – glaub­te sie noch an ihn – lieb­te sie ihn noch? Sie wuss­te es nicht. Die­se ver­wirr­te, ein­ge­schüch­ter­te Mäd­chen­see­le wag­te sich an das Ge­heim­nis ih­rer Lie­be nicht her­an. Der Ge­dan­ke an Am­bro­si­us brach­te ihr eine be­en­gen­de Schwü­le – sie ver­mied ihn, er schmerz­te zu sehr.

      Bei all­dem war ihr das stil­le Le­ben lieb ge­wor­den. Da die gan­ze Welt ihr feind­lich ge­sinnt war, tat ihr die si­che­re Ruhe der en­gen Zim­mer wohl, in de­nen sie nur den zwei alt­be­kann­ten Ge­sich­tern be­geg­ne­te, wo sie nie ein ver­let­zen­des Wort hör­te, wo treue Lie­be über je­den ih­rer Schrit­te wach­te. Von der in­ne­ren Ar­beit, vom geis­ti­gen Rin­gen er­mü­det, schlief Rosa jetzt auch die Näch­te bes­ser und er­hol­te sich. Ihr Ge­sicht, im­mer noch sehr weiß, ver­lor sei­nen schlaf­fen Aus­druck, die Au­gen den Fie­ber­glanz.

      »Es geht bes­ser«, sag­te Herr Herz zu Ag­nes. Die­se nick­te; sie hat­te es nicht an­ders er­war­tet. »Solch ein jun­ges Ding muss sich wie­der auf­rich­ten.«

      Ei­nes Mor­gens stand Rosa be­son­ders gut­ge­launt auf. Sie hat­te die Nacht über tief und fest ge­schla­fen und von Am­bro­si­us ge­träumt, aber einen je­ner sel­te­nen Träu­me, die uns einen Men­schen ohne Ver­zer­rung, in ein­fa­cher, le­bens­vol­ler Wahr­heit vor die Sin­ne stel­len. Am­bro­si­us hat­te dort in der Kü­che ge­ses­sen – mit sei­nem fri­schen, lä­cheln­den Ge­sicht, sei­nen schö­nen Klei­dern. – Er lehn­te sich nach­läs­sig in den Stuhl zu­rück – die Hän­de auf den Kni­en – und schau­te Rosa mit sei­nen hel­len, kla­ren Au­gen an. »Wann fah­ren Sie?« frag­te Ag­nes, wor­auf Am­bro­si­us ant­wor­te­te: »Um vier Uhr – den­ke ich.«

      Da er­wach­te Rosa, das Herz noch ganz warm von der Stel­le fri­schen, hof­fen­den Le­bens, die je­nes Traum­wort auf­ge­regt. Das lang­sa­me Sich-Zu­rück­tas­ten aus dem schö­nen Traum in die har­te Wirk­lich­keit war zwar bit­ter, den­noch ließ die Traum­wir­kung nicht ganz nach. Es reg­te sich in Rosa wie­der die Hoff­nung, als müss­te heu­te et­was Er­wünsch­tes ge­sche­hen.

      Als sie in das Wohn­zim­mer trat, fand sie es ver­än­dert. Des Pfar­rers Kas­ta­ni­en­baum, der das Ge­mach mit sei­nen Blät­ter­schat­ten zu er­fül­len und das Licht zu mil­dern pfleg­te, hat­te über Nacht all sein Laub ver­lo­ren. Der kla­re Son­nen­schein drang un­be­hin­dert in das Zim­mer und ließ es grö­ßer, lee­rer er­schei­nen.


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