Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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die­se Kar­te hat­te gra­de noch zum Glück des Arz­tes ge­fehlt! Jetzt war Po­li­zei zu ihm un­ter­wegs, viel­leicht ge­riet er doch in Ver­dacht, man mach­te eine Haus­su­chung, und wenn sich dann auch er­wies, dass der Ver­dacht falsch war, so fand man hin­ten in der Dienst­bo­ten­kam­mer …

      Der Arzt stand auf, er muss­te ihr we­nigs­tens Be­scheid sa­gen …

      Und setz­te sich wie­der. Wie konn­te er denn in Ver­dacht ge­ra­ten? Und au­ßer­dem, selbst wenn man sie fand, so war sie eben sei­ne Haus­da­me, wie es ja auch ihre Pa­pie­re aus­sag­ten. All das war ja hun­dert­fach be­dacht und be­spro­chen wor­den, seit er sich vor gut ei­nem Jahr von sei­ner Frau, ei­ner Jü­din, hat­te schei­den las­sen müs­sen – un­ter dem Druck der Na­zis. Er hat­te es ge­tan, haupt­säch­lich auf ihre Bit­ten hin, um den Kin­dern we­nigs­tens eine Exis­tenz zu si­chern. Spä­ter hat­te er dann, nach­dem er die Woh­nung ge­wech­selt, sei­ne ehe­ma­li­ge Frau mit falschen Pa­pie­ren als sei­ne Haus­da­me zu­rück­ge­holt. Ei­gent­lich konn­te gar nichts pas­sie­ren, so jü­disch sah sie gar nicht aus …

      Die­se un­se­li­ge Kar­te! Dass sie gra­de auf ihn tref­fen muss­te! Aber wahr­schein­lich war es so, dass sie über­all, wo­hin sie auch kam, Schre­cken und Angst er­reg­te. Je­der hat­te in die­sen Zei­ten et­was zu ver­ber­gen!

      Aber viel­leicht war es gra­de der Zweck die­ser Kar­te, Angst und Schre­cken zu er­re­gen? Vi­el­leicht wur­de die­se Kar­te mit teuf­li­schem Vor­be­dacht un­ter den Ver­däch­ti­gen ver­teilt, um fest­zu­stel­len, wie sich die ver­hiel­ten? Vi­el­leicht stand er schon län­ger un­ter Beo­b­ach­tung, und dies war nur ei­nes der Mit­tel, um fest­zu­stel­len, ob der Ver­däch­ti­ge sich kei­ne Blö­ße gab?

      Nun, er hat­te sich je­den­falls kor­rekt be­nom­men. Fünf Mi­nu­ten nach Auf­fin­den der Kar­te hat­te er die Po­li­zei ver­stän­digt. Und er konn­te ihr so­gar einen Ver­däch­ti­gen prä­sen­tie­ren, viel­leicht einen ar­men Teu­fel, der gar nichts mit der Sa­che zu tun hat­te. Nun, er konn­te da nicht hel­fen, soll­te der sel­ber se­hen, wie er aus der Ge­schich­te her­aus­kam! Die Haupt­sa­che war, er blieb ver­schont.

      Und ob­wohl die­se Er­wä­gun­gen den Arzt ru­hi­ger ge­macht ha­ben, steht er auf und macht sich rasch und si­cher eine klei­ne Mor­phi­um­sprit­ze. Die wird ihn in­stand­set­zen, die­sen Her­ren, die da zu ihm im An­marsch sind, ru­hig und so­gar ein biss­chen ge­lang­weilt zu be­geg­nen. Die­se klei­ne Sprit­ze ist das Hilfs­mit­tel, zu dem der Arzt seit der Schan­de sei­ner Schei­dung, wie er die­sen Schritt in­ner­lich noch im­mer nennt, häu­fi­ger und häu­fi­ger sei­ne Zuf­lucht nimmt. Er ist noch kein Mor­phi­nist, weit ent­fernt, er kommt manch­mal fünf, sechs Tage ohne Mor­phi­um aus, aber wenn Schwie­rig­kei­ten auf sei­nem Le­bens­weg auf­tau­chen, und die­se Schwie­rig­kei­ten häu­fen sich jetzt wäh­rend des Krie­ges im­mer mehr, so nimmt er Mor­phi­um. Das al­lein hilft ihm noch, ohne die­se künst­li­che Hil­fe ver­liert er sei­ne Ner­ven. Nein, noch ist er kein Mor­phi­nist! Aber er ist auf dem bes­ten Wege, ei­ner zu wer­den. Ach, wenn nur erst die­ser Krieg vor­bei wäre, dass man aus die­sem elen­den Lan­de hin­aus­könn­te! Mit dem kleins­ten Hilfs­arzt­pos­ten drau­ßen im Aus­lan­de wür­de er zu­frie­den sein.

      Ei­ni­ge Mi­nu­ten dar­auf emp­fängt ein blas­ser, et­was mü­der Arzt die bei­den Her­ren von der Po­li­zei­wa­che. Der eine ist nur ein uni­for­mier­ter Wacht­meis­ter, zur Auf­sicht über die Fl­ur­tür hier­her­kom­man­diert. Er löst so­fort die Sprech­stun­den­hil­fe ab.

      Der an­de­re ist ein Zi­vi­list, Kri­mi­nal­as­sis­tent Schrö­der – in sei­nem Be­hand­lungs­zim­mer über­gibt ihm der Arzt die Kar­te. Was er aus­sa­gen kön­ne? Nun, er kann ei­gent­lich nichts aus­sa­gen, er habe seit über zwei Stun­den hier schon ohne Un­ter­bre­chung Pa­ti­en­ten ab­ge­fer­tigt, etwa zwan­zig oder fünf­und­zwan­zig hin­ter­ein­an­der. Aber er wer­de so­fort die Sprech­stun­den­hil­fe ho­len.

      Die Hil­fe kommt, und sie hat viel aus­zu­sa­gen. Sehr viel. Sie schil­dert die­sen Schlei­cher, wie sie ihn nur nennt, mit ei­nem Hass, der zwei harm­lo­sen Rau­che­rei­en auf der Toi­let­te ge­gen­über völ­lig un­be­greif­lich ist. Der Arzt be­ob­ach­tet sie ge­nau, wie sie da er­regt, mit oft ver­sa­gen­der Stim­me aus­sagt. Er denkt: Ich muss jetzt mal se­hen, dass sie wirk­lich was Ernst­li­ches ge­gen ih­ren Ba­se­dow un­ter­nimmt. Es wird im­mer schlim­mer mit ihr. So er­regt, wie sie jetzt spricht, ist sie ei­gent­lich schon nicht mehr voll zu­rech­nungs­fä­hig.

      Der Kri­mi­nal­as­sis­tent scheint Ähn­li­ches zu den­ken. Mit ei­nem kur­z­en »Dan­ke! Ich weiß jetzt vor­läu­fig ge­nug«, un­ter­bricht er ihre Aus­sa­gen. »Zei­gen Sie mir jetzt noch, Fräu­lein, wo die Kar­te auf dem Flur ge­le­gen hat. Aber bit­te mög­lichst ge­nau!«

      Das Fräu­lein, die Hil­fe, legt die Kar­te auf eine Stel­le, die sie vom Brief­kas­ten­schlitz, wie es scheint, un­mög­lich er­rei­chen kann. Aber der As­sis­tent pro­biert, vom Wacht­meis­ter un­ter­stützt, so lan­ge das Ein­wer­fen der Kar­te, bis sie na­he­zu auf dem von der Hil­fe be­zeich­ne­ten Platz zu lie­gen kommt. Na­he­zu, etwa zehn Zen­ti­me­ter feh­len …

      »Da könn­te sie doch auch ge­le­gen ha­ben, Fräu­lein?«, fragt der As­sis­tent.

      Die Sprech­stun­den­hil­fe ist sicht­lich ent­rüs­tet, dass dem As­sis­ten­ten dies Ex­pe­ri­ment ge­glückt ist. Sie er­klärt mit Ent­schie­den­heit: »Nein, so nah an der Tür kann die Kar­te un­mög­lich ge­le­gen ha­ben! Eher noch wei­ter in den Flur hin­ein, als ich vor­hin zeig­te. Ich glau­be jetzt, sie lag hier di­rekt bei dem Stuhl.« Und sie zeigt einen Fleck, der noch einen hal­b­en Me­ter wei­ter vom Ein­wurf ent­fernt liegt. »Ich bin fast si­cher, dass ich ge­gen die­sen Stuhl beim Auf­he­ben ge­sto­ßen habe.«

      »Soso«, sagt der As­sis­tent und mus­tert kühl die Zor­ni­ge. Im In­nern macht er einen Strich durch alle ihre Aus­sa­gen. Die ist ja hys­te­risch, denkt er. Der fehlt na­tür­lich ein Mann. Na ja, wo alle im Fel­de sind, und sehr ver­lo­ckend sieht sie auch nicht aus.

      Er wen­det sich laut an den Arzt: »Ich möch­te jetzt wie ein be­lie­bi­ger Pa­ti­ent drei Mi­nu­ten im War­te­zim­mer sit­zen und mir den be­schul­dig­ten Herrn erst ein­mal so an­se­hen, ohne dass er weiß, wer ich bin. Das lässt sich doch ma­chen?«

      »Na­tür­lich lässt sich das ma­chen. Fräu­lein Kie­sow wird Ih­nen sa­gen, wo er sitzt.«

      »Steht!«, er­klärt die Hil­fe är­ger­lich. »So ei­ner setzt sich doch nicht! Der tritt lie­ber den an­de­ren auf den Fü­ßen her­um! Dem lässt sein schlech­tes Ge­wis­sen doch kei­ne Ruhe! Die­ser Schlei­cher …«

      »Also, wo steht er«, un­ter­bricht sie der As­sis­tent wie­der und nicht sehr höf­lich.

      »Vor­hin stand er beim Spie­gel am Fens­ter«, ant­wor­tet sie ihm ge­kränkt. »Aber ich kann na­tür­lich nicht sa­gen, wo er jetzt steht, so un­ru­hig, wie der ist!«

      »Ich wer­de ihn schon fin­den«, meint der As­sis­tent Schrö­der. »Sie ha­ben ihn mir ja be­schrie­ben.«

      Und er geht ins War­te­zim­mer.

      Dort herrscht ei­ni­ge Er­re­gung. Seit über zwan­zig Mi­nu­ten ist kein Pa­ti­ent zum Arzt ge­ru­fen wor­den – wie lan­ge sol­len sie hier noch sit­zen? Sie ha­ben wahr­haf­tig an­de­res zu tun! Wahr­schein­lich fer­tigt der Dok­tor vor­ne gut zah­len­de Pri­vat­pa­ti­en­ten


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