Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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Quan­gel bei dem Klin­geln lei­se an die Fl­ur­tür ge­schli­chen und hat­te nach den Be­su­chern Aus­schau durch das Guck­loch ge­hal­ten. Un­ter­des hat­te Otto Quan­gel das Schreib­zeug fort­ge­packt und die an­ge­fan­ge­ne Kar­te in ein Buch ge­legt. Es stan­den auch hier erst die Wor­te: »Füh­rer, be­fiehl – wir fol­gen! Ja­wohl, wir fol­gen, wir sind eine Her­de Scha­fe ge­wor­den, die un­ser Füh­rer auf jede Schlacht­bank trei­ben darf. Wir ha­ben das Den­ken auf­ge­ge­ben …«

      Die Kar­te mit die­sen Wor­ten hat­te Otto Quan­gel in ein Ra­dio­bas­tel­buch sei­nes ge­fal­le­nen Soh­nes ge­legt, und als nun Anna Quan­gel mit den bei­den Be­su­chern, ei­nem klei­nen Buck­li­gen und ei­ner dunklen, lan­gen, mü­den Frau, ein­trat, saß Otto bei sei­ner Schnit­ze­rei und bos­sel­te an der Büs­te des Jun­gen, die schon ziem­lich weit vor­ge­schrit­ten war und auch nach An­sicht Anna Quan­gels im­mer ähn­li­cher wur­de. Es er­wies sich, dass der klei­ne Buck­li­ge ein Bru­der An­nas war; die Ge­schwis­ter hat­ten sich fast drei­ßig Jah­re nicht mehr ge­se­hen. Der klei­ne Bu­ckel hat­te stets in Ra­the­now bei ei­ner op­ti­schen Fa­brik ge­ar­bei­tet und war erst vor kur­z­em nach Ber­lin ge­holt wor­den, um als Spe­zia­list in ei­ner Fa­brik zu ar­bei­ten, die ir­gend­wel­ches Gerät für Un­ter­see­boo­te her­stell­te. Die müde, dunkle Frau war An­nas noch nie ge­se­he­ne Schwä­ge­rin. Otto Quan­gel hat­te die­se bei­den Ver­wand­ten bis­her noch nicht ken­nen­ge­lernt.

      An die­sem Sonn­tag wur­de es mit der wei­te­ren Schrei­be­rei nichts, die be­gon­ne­ne Kar­te blieb un­voll­en­det in dem Ra­dio­bas­tel­buch Ot­to­chens lie­gen. So sehr Quan­gels auch sonst ge­gen alle Be­su­che, ge­gen Freund­schaft und Ver­wandt­schaft ein­ge­stellt wa­ren, um der Ruhe wil­len, in der sie le­ben woll­ten, die­ser da so un­ver­mu­tet her­ein­ge­schnei­te Bru­der und sei­ne Frau miss­fie­len ih­nen nicht. Heff­kes wa­ren in ih­rer Art auch stil­le Leu­te, ir­gend­ei­ner re­li­gi­ösen Sek­te an­ge­hö­rend, die, nach ei­ner An­deu­tung zu schlie­ßen, von den Na­zis ver­folgt wur­de. Aber sie spra­chen kaum da­von, wie über­haupt al­les Po­li­ti­sche ängst­lich ver­mie­den wur­de.

      Aber Quan­gel hör­te stau­nend, wie die bei­den, Anna und ihr Bru­der Ul­rich Heff­ke, Kind­heits­er­in­ne­run­gen aus­tausch­ten. Zum ers­ten Mal hör­te er es, dass Anna auch ein­mal ein Kind ge­we­sen war, ein Kind mit Über­mut, Un­ar­ten und Strei­chen. Er hat­te sei­ne Frau erst ken­nen­ge­lernt, als sie schon ein äl­te­res Mäd­chen ge­we­sen war; er hat­te nie dar­an ge­dacht, dass sie ein­mal ganz an­ders aus­ge­se­hen hat­te, vor ih­rem arg ge­plag­ten, freud­lo­sen Dienst­mäd­chen­da­sein, das ihr so viel von ih­rer Kraft und ih­rer Hoff­nung ge­nom­men hat­te.

      Nun sah er, wäh­rend die Ge­schwis­ter mit­ein­an­der plau­der­ten, das klei­ne, arme mär­ki­sche Dorf vor sich; er hör­te, dass sie die Gän­se hat­te hü­ten müs­sen, dass sie sich vor der ver­hass­ten Ar­beit des Kar­tof­fel­bud­delns stets ver­steckt und vie­le Schlä­ge des­we­gen be­kom­men hat­te, und er er­fuhr, dass sie im Dor­fe recht be­liebt ge­we­sen war, weil sie sich, trot­zig und cou­ra­giert, ge­gen al­les auf­ge­lehnt hat­te, was ihr nach Un­ge­rech­tig­keit schmeck­te. Hat­te sie doch so­gar ei­nem un­ge­rech­ten Schul­leh­rer drei­mal hin­ter­ein­an­der mit ei­nem Schnee­ball den Hut vom Kop­fe ge­wor­fen – und sie war nie als die Tä­te­rin ent­deckt wor­den. Nur sie und Ul­rich hat­ten da­von ge­wusst, Ul­rich aber petz­te nie.

      Nein, dies war kein un­an­ge­neh­mer Be­such, ob­wohl zwei Kar­ten we­ni­ger als sonst ge­schrie­ben wur­den. Quan­gels mein­ten es auch ganz auf­rich­tig, als sie den Heff­kes beim Ab­schied einen Ge­gen­be­such ver­spra­chen. Sie hiel­ten auch das Ver­spre­chen. Etwa fünf oder sechs Wo­chen spä­ter such­ten sie die Heff­kes in ei­ner klei­nen Not­woh­nung auf, die ih­nen im Wes­ten in der Nähe des Nol­len­dorf­plat­zes frei ge­macht wor­den war. Die Quan­gels be­nutz­ten die­sen Be­such, um end­lich auch mal im Wes­ten eine Kar­te ab­zu­le­gen; ob­wohl es Sonn­tag und das Bü­ro­haus we­nig be­lebt war, ging al­les gut.

      Von da an folg­ten die ge­gen­sei­ti­gen Be­su­che sich in etwa sechs­wö­chi­gem Ab­stand. Sie wa­ren nicht wei­ter auf­re­gend, aber sie brach­ten doch ein we­nig an­de­re Luft in das Le­ben der Quan­gels. Meist sa­ßen Otto und sei­ne Schwä­ge­rin schwei­gend am Tisch und lausch­ten auf das lei­se Ge­spräch der bei­den Ge­schwis­ter, die nicht müde wur­den, von ih­rer Kind­heit zu plau­dern. Es tat Quan­gel gut, auch die­se an­de­re Anna ken­nen­zu­ler­nen; frei­lich fand er nie eine Brücke zwi­schen der Frau, die heu­te an sei­ner Sei­te leb­te, und je­nem Mäd­chen, das die Land­ar­beit ver­stand, mut­wil­li­ge Strei­che ver­üb­te und das trotz­dem als bes­te Schü­le­rin der klei­nen Land­schu­le galt.

      Sie er­fuh­ren, dass An­nas El­tern noch im­mer in ih­rem Ge­burts­ort leb­ten, sehr alte Leu­te – der Schwa­ger er­wähn­te bei­läu­fig, dass er den El­tern mo­nat­lich zehn Mark sand­te. Anna Quan­gel war schon drauf und dran, dem Bru­der zu sa­gen, dass sie das von nun an auch tun wür­den, aber sie fing noch zur rech­ten Zeit einen war­nen­den Blick ih­res Man­nes auf und schwieg.

      Erst auf dem Heim­weg sag­te er dann: »Nein, bes­ser nicht, Anna. Wozu solch alte Leu­te ver­wöh­nen? Sie ha­ben doch ihre Ren­te, und wenn der Schwa­ger dazu noch alle Mo­na­te zehn Mark schickt, ist das ge­nug.«

      »Wir ha­ben doch so viel Geld auf der Spar­kas­se!«, bat Anna. »Wir wer­den es nie auf­brau­chen. Frü­her ha­ben wir ge­dacht, es wäre mal für Ot­to­chen, aber jetzt … Lass es uns tun, Otto! Und wenn es nur fünf Mark sind alle Mo­na­te!«

      Un­ge­rührt ant­wor­te­te Otto Quan­gel: »Jetzt, wo wir in der großen Sa­che drin sind, wis­sen wir nicht, wozu wir un­ser Geld ei­nes Ta­ges noch brau­chen wer­den. Vi­el­leicht wer­den wir jede ein­zel­ne Mark ge­brau­chen, Anna. Und die al­ten Leu­te ha­ben bis­her auch ohne uns ge­lebt, warum nicht wei­ter so?«

      Sie schwieg, ein we­nig ge­kränkt, viel­leicht nicht so sehr in ih­rer Lie­be zu den El­tern, denn sie hat­te kaum je an die al­ten Leu­te ge­dacht und ih­nen nur ein­mal im Jah­re aus Pf­licht­ge­fühl zu Weih­nach­ten einen Brief ge­schrie­ben. Aber sie kam sich vor dem Bru­der et­was bla­miert und schä­big vor. Der Bru­der soll­te doch nicht den­ken, sie könn­ten nicht das, was er konn­te.

      Anna sag­te hart­nä­ckig: »Der Ul­rich wird den­ken, wir kön­nen’s nicht, Otto. Er wird von dei­ner Ar­beit ge­ring den­ken, dass sie nur ganz we­nig ein­bringt.«

      »Es ist doch ganz egal, was an­de­re von mir den­ken«, ver­setz­te Quan­gel. »Ich hole nun ein­mal für so was kein Geld von der Kas­se.«

      Anna fühl­te, die­ser letz­te Satz war un­um­stöß­lich. Sie schwieg, sie füg­te sich wie im­mer, wenn solch ein Satz von Otto ge­spro­chen wur­de, aber ein biss­chen ge­kränkt war sie doch, dass der Mann nie Rück­sicht auf ihre Ge­füh­le nahm. Doch ver­gaß Anna Quan­gel die­se Krän­kung rasch bei der Wei­ter­ar­beit am großen Werk.

      22. Ein halbes Jahr danach: Kommissar Escherich

      Ein hal­b­es Jahr nach Empfang der ers­ten Kar­te stand der Kom­missar Esche­rich, sei­nen sand­far­be­nen Schnurr­bart strei­chend, vor der Kar­te Ber­lins, auf der er mit ro­ten Fähn­chen die Fund­punk­te von Quan­gels Kar­ten mar­kiert hat­te. Es steck­ten jetzt vierund­vier­zig sol­cher Fähn­chen auf dem Blatt; von den achtund­vier­zig Kar­ten, die Quan­gels in die­sem hal­b­en Jahr ge­schrie­ben und aus­ge­tra­gen hat­ten, wa­ren nur vier


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