Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

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Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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kurz nach­ein­an­der, und sie muss den 43., den 44., den 45. Pa­ti­en­ten emp­fan­gen, sie hat Per­so­na­li­en auf­zu­neh­men, Kar­to­thek­kar­ten aus­zu­fül­len, Kran­ken­schei­ne zu stem­peln.

      So geht das vom frü­hen Mor­gen bis in die spä­te Nacht. Sie ist halb tot, der Arzt ist halb tot, und nie ver­lässt sie mehr die­ser un­se­li­ge Zu­stand dau­ern­der Ge­reizt­heit, in dem sie nun schon Wo­chen und Wo­chen ist. In die­sem Zu­stand hat sie einen wah­ren Hass auf die­sen im­mer wei­ter flie­ßen­den Strom von Pa­ti­en­ten ge­wor­fen, die sie nie mehr zur Ruhe kom­men las­sen, die schon mor­gens um acht Uhr, wenn sie kommt, ge­dul­dig an der Tür ste­hen und die noch abends um zehn im War­te­zim­mer her­um­ho­cken, es mit ih­ren üb­len Gerü­chen er­fül­lend: al­les Drücke­ber­ger von der Ar­beit, Drücke­ber­ger von der Front, Men­schen, die sich auf eine ärzt­li­che Be­schei­ni­gung mehr Le­bens­mit­tel, bes­se­re Le­bens­mit­tel er­schlei­chen wol­len. Al­les Leu­te, die sich von ih­ren Pf­lich­ten drücken wol­len, sie aber kann das nicht. Sie muss hier aus­hal­ten, darf nicht krank sein (was fin­ge denn der Dok­tor ohne sie an?), sie muss noch freund­lich sein zu die­sen Heuch­lern, die al­les schmut­zig ma­chen, voll­schlei­men, voll­kot­zen! Auf der Toi­let­te liegt im­mer al­les voll Zi­ga­ret­ten­asche.

      Da­bei fällt ihr der klei­ne Schlei­cher ein, dem sie vor­hin die Toi­let­te hat zei­gen müs­sen. Si­cher sitzt der noch im­mer da und qualmt Zi­ga­ret­ten. Sie springt auf, rennt hin­aus, rüt­telt an der Tür.

      »Be­setzt!«, ruft es von drin­nen.

      »Wol­len Sie wohl ma­chen, dass Sie da run­ter­kom­men!«, fängt sie zor­nig zu schel­ten an. »Den­ken Sie, Sie kön­nen da Stun­den und Stun­den sit­zen? An­de­re Leu­te möch­ten auch die Toi­let­te be­nut­zen!«

      Sie wirft dem an ihr vor­bei­schlei­chen­den Klu­ge zor­nig die Wor­te nach: »Na­tür­lich al­les wie­der voll­ge­qualmt! Ich wer­de dem Herrn Dok­tor er­zäh­len, wie krank Sie sind! Sie sol­len mal was er­le­ben!«

      Ent­mu­tigt lehnt Enno Klu­ge im Sprech­zim­mer ge­gen die Wand – sein Stuhl ist un­ter­des auch be­setzt wor­den. Der Arzt ist in­zwi­schen bis Num­mer 22 ge­kom­men. Wahr­schein­lich ganz sinn­los, hier noch wei­ter zu war­ten. Das Biest da drau­ßen ist im­stan­de, den Arzt auf­zu­het­zen, dass er ihn wirk­lich nicht krank­schreibt. Und was dann? Dann funkt es drau­ßen in der Fa­brik! Er fehlt nun schon mal wie­der den vier­ten Tag; die sind im­stan­de und schi­cken ihn wirk­lich noch in eine Straf­kom­pa­nie oder in ein KZ – im­stan­de sind die Brü­der dazu! Ja, er muss heu­te noch einen Kran­ken­schein krie­gen, und es ist am schlaues­ten, er war­tet hier wei­ter, da er nun schon so lan­ge ge­war­tet hat. Bei ei­nem an­de­ren Arzt ist es eben­so voll, er muss bis in die Nacht sit­zen, und von die­sem hier hat er we­nigs­tens ge­hört, dass er leicht krank­schreibt. Wird er heu­te eben mal nicht auf Pfer­de wet­ten, muss es eben heu­te mal ohne den Enno ge­hen, hilft nichts …

      Er lehnt hüs­telnd ge­gen die Wand, ein schwäch­li­ches Et­was. Bes­ser ein Gar­nichts. Von je­ner Abrei­bung durch den SS-Mann Per­si­cke hat er sich nie ganz er­ho­len kön­nen. Ja­wohl, mit der Ar­beit war es nach ein paar Ta­gen bes­ser ge­wor­den, ob­wohl sei­ne Hän­de nicht wie­der die alte Ge­schick­lich­keit er­lang­ten. Es reich­te jetzt gra­de zu ei­nem Durch­schnitts­ar­bei­ter. Nie wie­der wür­de er die alte Hand­fer­tig­keit er­lan­gen, ein an­ge­se­he­ner Mann in sei­nem Fach wer­den.

      Vi­el­leicht war es das, was ihm die Ar­beit so gleich­gül­tig mach­te, viel­leicht lag es aber auch dar­an, dass er auf die Län­ge über­haupt nicht ger­ne mehr ar­bei­te­te. Er sah den Sinn und den Zweck der Ar­beit nicht so recht ein. Wozu ei­gent­lich sich so an­stren­gen, wenn man auch ohne Ar­beit aus­rei­chend le­ben konn­te! Etwa für den Krieg? Die soll­ten ih­ren Scheiß­krieg gut und ger­ne al­lei­ne füh­ren, ihn in­ter­es­sier­te der nicht. Vi­el­leicht schick­ten die mal ihre gan­zen fet­ten Bon­zen an die Front, dann wür­de der Krieg schnell alle sein!

      Nein, es war aber auch nicht die Fra­ge nach dem Sinn sei­ner Ar­beit, die ihm alle Tä­tig­keit ver­hasst mach­te. Es war der Um­stand, dass Enno zur­zeit ohne Ar­beit le­ben konn­te. Ja, er war schwach ge­we­sen, er ge­stand es sich jetzt ein, er war wie­der zu den Wei­bern ge­gan­gen, erst zu Tut­ti, dann zu Lot­te, und die wa­ren auch ganz be­reit ge­we­sen, die­sen klei­nen, an­schmieg­sa­men Mann eine Wei­le durch­zu­schlep­pen. Und so­bald man sich mit den Wei­bern ein­ließ, war es mit je­der ge­re­gel­ten Ar­beit aus. Schon mor­gens schimpf­ten sie, wenn er um sechs Uhr sei­nen Kaf­fee und das Früh­stück ver­lang­te, was das wohl hei­ßen soll­te? Um die­se Zeit schlief je­der Mensch, und ob er es denn nö­tig habe? Er sol­le doch ru­hig wie­der ins war­me Bett krie­chen!

      Nun, ein- oder zwei­mal be­stand man ein sol­ches Ge­fecht sieg­reich, aber, wenn man ein Enno Klu­ge war, kein drit­tes Mal. Man gab nach, kroch zu der Frau in die Bet­ten und schlief noch ein oder zwei oder so­gar noch drei Stun­den.

      War es so spät, ging er über­haupt nicht mehr in die Fa­brik, son­dern mach­te den Tag blau. Oder war es noch frü­her, kam man eben ein biss­chen zu spät zur Ar­beit, mit ir­gend­ei­ner lah­men Ent­schul­di­gung, wur­de an­ge­schnauzt (aber das war man ja schon lan­ge ge­wohnt, da hör­te man gar nicht mehr hin), tat ein paar Stun­den was und ging heim, wie­der vom Ge­schimp­fe emp­fan­gen: Wozu man denn einen Mann im Haus hiel­te, wenn er den gan­zen Tag fort war? We­gen der paar Mark! Die wä­ren ge­wiss leich­ter zu ver­die­nen! Nein, wenn es Ar­beit sein muss­te, wäre er bes­ser in sei­nem en­gen Ho­tel­zim­mer­chen ge­blie­ben, Wei­ber und Ar­beit, das ließ sich nicht ver­ei­ni­gen. Bei ei­ner ja, bei der Eva – und na­tür­lich hat­te Enno Klu­ge auch wie­der einen Ver­such ge­macht, bei sei­ner Frau, der Brief­be­stel­le­rin, un­ter­zu­krie­chen. Aber da er­fuhr er von der Frau Gesch, dass die Eva ver­reist war. Die Gesch hat­te einen Brief von ihr ge­kriegt, sie saß ir­gend­wo im Rup­pin­schen bei Ver­wand­ten. Ja­wohl, sie, die Gesch, hat­te jetzt die Schlüs­sel zu der Woh­nung, aber sie dach­te nicht dar­an, sie dem Enno Klu­ge aus­zu­hän­di­gen. Wer schick­te re­gel­mä­ßig die Mie­te: er oder sei­ne Frau? Nun also, ge­hör­te die Woh­nung doch ihr, nicht ihm! Sie hat­te sich sei­net­we­gen schon ge­nug Un­ge­le­gen­hei­ten ge­macht, sie dach­te gar nicht dar­an, ihm die Woh­nung frei­zu­ge­ben.

      Üb­ri­gens, wenn er durch­aus was für sei­ne Frau tun wol­le, so soll­te er doch mal auf die Post ge­hen. Die hat­ten schon ein paar­mal nach Frau Klu­ge ge­schickt, und vor kur­z­em war auch eine Vor­la­dung vor ir­gend­ein Par­t­ei­ge­richt ge­kom­men; die Gesch hat­te sie ein­fach mit dem Ver­merk »Emp­fän­ger un­be­kannt ver­reist« zu­rück­ge­hen las­sen. Aber das auf der Post soll­te er ru­hig mal re­geln. Sei­ne Frau hat­te da si­cher noch An­sprü­che.

      Das mit den An­sprü­chen hat­te ihn ge­zwickt; schließ­lich konn­te er sich als recht­li­cher Ehe­mann aus­wei­sen, Evas An­sprü­che wa­ren auch sei­ne An­sprü­che. Aber der Weg er­wies sich als ein Fehl­weg; auf der Post nah­men sie ihn mäch­tig in die Zan­ge. Die Eva muss­te ir­gend­was mit der Par­tei an­ge­stellt ha­ben, die wa­ren wü­tend auf sie! Er hat­te es gar nicht mehr ei­lig, sich als recht­li­cher Ehe­mann Evas aus­zu­wei­sen – im Ge­gen­teil, er gab sich die größ­te Mühe, nach­zu­wei­sen, dass er schon län­ger von der Eva ge­trennt leb­te und kei­ne Ah­nung von ih­rem Tun und Las­sen hat­te.

      Schließ­lich lie­ßen sie ihn lau­fen. Was war aus sol­chem klei­nen Männ­chen auch her­aus­zu­ho­len, das im­mer be­reit war, gleich los­zu­heu­len, und das bei je­dem An­pfiff zu zit­tern an­fing? Also, er konn­te ge­hen,


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