Schopenhauer. Kuno Fischer

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Schopenhauer - Kuno  Fischer


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Umfang und Inhalt bis an sein Ende fortgeführt hat. Da wurden Erlebnisse, Selbstbetrachtungen, Ideen, philosophische, zur Aufnahme in die Werke bestimmte Materien niedergeschrieben, sodass in diesen Büchern gleichsam die »Vorratskammern« für neue Auflagen und Schriften angelegt waren.

      Die erste dieser Sammlungen, im September 1818 angelegt, hieß das »Reisebuch«; in den Anfang der Berliner Zeit gehören der »Foliant« (Januar 1821) und »Εἰς ἑαυτόν«, jene Selbstbetrachtungen, die Schopenhauer nicht bloß in zwei späteren Sammelbüchern, den »Cogitata« und dem »Cholerabuch«, sondern auch in dem Handexemplar eines seiner Werke zitiert hat, im Hinblick auf Stellen, die in eine neue Auflage der »Parerga« aufgenommen werden sollten.

      Aus Anlass der zweiten italienischen Reise im Mai 1822 entstand die »Brieftasche« und während des letzten Aufenthaltes in Dresden der »Quartant« (November 1824). Unter dem Eindruck seines vieljährigen und vielfältigen Missgeschicks nannte er das im März 1828 angelegte Buch »Adversaria«. Das Motto hieß: »Vitam impendere vero«. Im Februar 1830 begann er die »Cogitata« mit demselben Motto. Hier hat er jenen Warnungstraum erzählt, der ihn bewog, Berlin zu verlassen. Die »Adversaria« und »Cogitata« fallen in das Ende der Berliner Zeit.

      Den 6. September 1831 begann er das »Cholerabuch«, so genannt, weil »geschrieben auf der Flucht vor der Cholera«. Ein Jahr später (im September 1832) wurden in Mannheim die »Pandektä« angelegt. Nach der Erneuerung seiner schriftstellerischen Tätigkeit wurden im April 1837 die »Spicilegia« (Ährenlese), sein neuntes Manuskriptbuch, nach Vollendung seines letzten Werks fünfzehn Jahre später (im April 1852) die »Senilia« angefangen, so genannt, weil sie in das Greisenalter des Philosophen gehören (1852 – 1860). Die Spicilegia und Senilia fallen recht eigentlich in die Frankfurter Periode.

      1. Pläne

      Schon zehn Jahre nach der Herausgabe des Hauptwerkes trug sich Schopenhauer mit dem Wunsch und Plan einer neuen zu vermehrenden Auflage, die in der Stille herangereift war; sie sollte den Manen des Vaters (»Piis patris manibus«) gewidmet sein, und er hat auf dieses Monument seiner kindlichen Liebe so viel künstlerische Sorgfalt verwendet, dass er die Dedikation dreimal umgeschrieben und erst in den Pandektä »einfach und kurz« festgestellt hat (1834).173

      Auch die Vorrede zu der neuen im Plan befindlichen Auflage stand schon in den »Cogitata« (1833). Dann gedachte er die Vermehrungen in die Form »ergänzender Betrachtungen« zu fassen und in einem Supplementband dem Hauptwerke beizufügen. In den »Pandektä« findet sich der Entwurf zur Vorrede (1834).

      Alle diese Pläne stießen auf die unüberwindlichen Hindernisse in dem beharrlichen Misserfolg des Hauptwerks. Wir kennen die Antwort, die ihm von Seiten der Verlagshandlung im November 1828 erteilt worden war. Als er jetzt nach sieben Jahren wieder anfragte, lautete die Antwort noch deutlicher und trostloser. Es sei in neuerer Zeit leider gar keine Nachfrage nach dem Werk gewesen; man könne ihm nicht verhehlen, dass man die Vorräte des Buchs, um wenigstens einigen Nutzen daraus zu ziehen, großenteils zu Makulatur habe machen lassen und nur noch eine kleine Anzahl zurückbehalten habe (1835).

      Wollte er dennoch seine schriftstellerische Tätigkeit erneuern, so blieb ihm nichts übrig, als eine neue, von dem Hauptwerk unabhängige Schrift zu verfassen, den Plan aber einer zweiten Auflage oder eines nachträglichen Buchs ergänzender Betrachtungen, wenn nicht aufzugeben, doch auf unbestimmte Zeit zu vertagen.

      Er ging sogleich ans Werk. Seine Absicht war, seine Lehre in nuce vorzutragen, den Kern derselben kürzer, bündiger, einleuchtender darzustellen, als es bisher geschehen sei und in einer anderen Schrift jemals geschehen könne. Die Erfahrungswissenschaften im Gegensatz zu der bisherigen Spekulation kamen ihm günstig entgegen und boten eine Reihe willkommener Anknüpfungspunkte. Er fand, dass die Naturwissenschaften mit Begriffen, wie Lebenskraft, Bildungstrieb, Grundkräften u. s. f., lauter unbekannten Größen, rechneten, die, bei Licht besehen, nichts anderes seien als Wille: der Wille in der Natur. In einem seiner glücklichsten Bilder verglich er Metaphysik und Physik mit Bergleuten, die im Schoß der Erde von weit entfernten Punkten aus Stollen graben und zusammenstoßen müssen, wenn sie richtig arbeiten. So verhalte es sich mit seiner Metaphysik und der induktiven Naturforschung der Gegenwart: sie kommen einander immer näher, schon höre man die gegenseitigen Hammerschläge. Das Büchlein hieß: »Über den Willen in der Natur. Eine Erörterung der Bestätigungen, welche die Philosophie des Verfassers seit ihrem Auftreten durch die empirischen Wissenschaften erhalten hat.«174

      In der »Einleitung« macht er seinem Grimm wider die Philosophie der Gegenwart Luft: hier hat er sich zum ersten Mal gegen Hegel, die Philosophieprofessoren und die Universitätsphilosophie in Schmähungen ergossen, die fortan das ständige Thema seiner polemischen Bravourarien ausmachen sollten. Er tröste sich mit der Zeit, welche die Wahrheit ans Licht und zu Ehren bringen werde. Schon in dem »Prooemium« seiner lateinischen Farbenlehre hieß es: »Tempo è galantuomo«. Auf das Titelblatt dieser neuen Schrift setzte er Worte des gefesselten Prometheus des Äschylus, der über die Missachtung seiner Lehren und Werke klagt: »ἀλλ᾽ ἐϰδιδάσϰει πάνϑ᾽ ὁ γηράσϰων χρόνος«.

      Während Schopenhauer sein Büchlein über den Willen in der Natur schrieb, erschien das Leben Jesu von Dav. Fr. Strauß (1835), ein Werk, welches bekanntlich nicht bloß in der gelehrten, sondern in der ganzen gebildeten Welt eine ungeheure Sensation hervorrief und auf dem Gebiet der biblischen Theologie und des Schriftglaubens eine Epoche gemacht hat, die in ihren Folgen noch heute fortwirkt. Gleichzeitig erschien in der gleichen Richtung »Die Religion des Alten Testamentes« von Wilhelm Vatke in Berlin; das Strauß’sche Werk, in zwei starken Bänden, erlebte in vier Jahren vier Auflagen. Es folgten Bruno Bauer mit seiner »Kritik der Synoptiker«, Ludwig Feuerbach mit seinem »Wesen des Christentums« u. s. f. Die Welt war von religionsphilosophischen und religionshistorischen Fragen, die zu den interessantesten und wichtigsten der Menschheit gehören, und von den Parteikämpfen für und wider erfüllt.

      Von allen diesen Erschütterungen hat Schopenhauer in seiner Frankfurter Klause kaum etwas gespürt. Beigetragen oder mitgewirkt dazu hat er nichts. Kann er sich wundern, dass er ungehört blieb? In seinen späteren Schriften finden sich einige Stellen, aus denen hervorgeht, dass er von Strauß’ Leben Jesu Kenntnis genommen und dieser Art der Bibelkritik Verbreitung in England gewünscht, dass er die Anwendung der mythologischen Erklärungsart auf die Evangelien gebilligt und in Ansehung der asketischen Grundsätze der Ehelosigkeit und Armut, welche aus dem evangelischen Abbild der Lehre Jesu erkennbar seien, sich auf die kritischen Untersuchungen und Urteile von Strauß berufen hat.

      Wusste er nicht, dass Strauß, der nach Berlin gekommen war, hauptsächlich, um Hegel zu hören, ein Schüler und Verehrer der Hegel’schen Philosophie gewesen und auf seine Art stets geblieben ist? Auch Vatke war Hegelianer. Auch Straußens Freund und Schulgenosse, der Ästhetiker Fr. Th. Vischer, war Hegelianer; auch ihr Lehrer Ferdinand Christian Bauer, der Begründer der Tübinger Schule und Theologie, war von dem Einfluss der Hegel’schen Philosophie ergriffen. Wer von den wirksamsten Denkern und Schriftstellern jener Zeit war es nicht?

      Schopenhauer aber, als ob er wie der Vogel Strauß den Kopf in den Sand gesteckt hielt und von allem, was geschah, nichts sah und hörte, nannte in der oben erwähnten Einleitung die Hegelianer ohne Unterschied »die ergötzlichen Adepten der Hegel’schen Mystifikation«, und die hegelsche Lehre »die Philosophie des absoluten Unsinns, wovon drei Viertel bar und ein Viertel in aberwitzigen Einfällen« bestehe; er verglich sie »dem Tintenfisch in der Wolke mit der Umschrift: mea caligine tutus!« Kann man sich wundern, dass diese hohlen und leeren Worte, so farbig sie waren, damals wie Seifenblasen zerflossen und erst auf ein nachlebendes Geschlecht, das von allen diesen Dingen nichts mehr wusste und sich mit ein paar effektvollen Phrasen sehr gern von sehr schwierigen Studien loskaufte, etwas von dem gewünschten Eindruck hervorbrachten!


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