Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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»Meine Kur wird ihm schon helfen, sie hilft für alle Krankheiten.«
»Welche Kur willst du mit ihm machen?« fragte Hedwig; »weißt du auch sicher, daß sie hilft?«
»Kaltwasserkur, die hilft ganz sicher, da habe ich schon so viel darüber sprechen gehört. Jetzt bringst du den Vogel hierher, komm, gleich zum Wasser.«
Die Kinder traten an den nahen Brunnen heran. Voll strömte das klare, kalte Bergwasser aus der weiten Röhre in den sauber gehaltenen, hölzernen Trog.
»Nun mußt du den Vogel mitten unter die Röhre halten«, ordnete der kundige Ratgeber an. Hedwig gehorchte. »So, noch ein wenig länger, daß der Vogel ganz durchgewässert wird. Nun ist's genug. Nun gehen wir und legen ihn in die warme Sonne, da wird er ganz durchwärmt und getrocknet, dann ist er gesund.«
Die Kinder gingen dem Garten zu. Da lag der Sonnenschein blendend heiß auf dem Mäuerchen am Ende des Kiesweges. Hedwig ging hinzu und legte den Vogel sorgfältig auf den warmen Stein nieder. Das Tierchen zuckte ein paarmal, dann streckte es die Beinchen lang aus und lag ganz still – es war tot.
»Oh! oh!« rief Hedwig, »wir haben den Vogel getötet!« Sie brach in lautes Schluchzen aus.
»Nein, nein, nur nicht weinen«, bat der Junge ganz geängstigt, »nur nicht weinen.« Er riß sein Tuch aus der Tasche und trocknete emsig die Tränen von des Mädchens Wangen und Augen, dabei in bittendem Tone wiederholend: »Nur nicht weinen! Tue mir nur den Gefallen. So, komm, jetzt ist's gut!« Noch einmal trocknete er die Tränen weg. »Siehst du, wenn du weinst, dann kann ich nicht mehr schlucken; gleich kommt's mir in den Hals und würgt mich abscheulich. Komm, nun müssen wir auch an das Leichenbegängnis denken. Nein, nein, fang nicht noch einmal an.« Hedwig hatte die letzten Tränen hinuntergewürgt. Die ängstliche Freundlichkeit des guten Kameraden ging ihr zu Herzen. »Ich weine ja nicht mehr«, schluchzte sie auf. »Was meinst du mit dem Leichenbegängnis?«
»Das will ich gleich alles sagen«, rief der Junge, indem er sichtlich erleichtert sein Tuch wieder in die Tasche steckte, »Nun müssen wir einen schönen Ort aufsuchen, da schaufle ich ein Grab auf, und der Vogel wird beerdigt. Du und ich, wir machen das Leichenbegängnis. Auf der Grabstätte singen wir ein schönes Lied, gleich fällt mir eins ein, so fängt's an: ›Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod.‹ Dann kommt ein Monument auf das Grab, da setzen wir eine Inschrift darauf zum ewigen Andenken an den Vogel.«
Die Sache gefiel Hedwig außerordentlich wohl.
»Ich weiß schon den schönsten Ort, dort unter der Vogelesche«, rief sie, »aber wart noch.« Damit rannte sie fort ins Haus hinein. Gleich war sie wieder da, eine Schachtel mit schön bemaltem Deckel in der Hand haltend. Der Junge besah sie.
»Das ist ein hübscher Deckel«, sagte er bewundernd, »sieh, wie der Jäger und die Hasen so nett gemalt sind. Und was mir noch gefällt, das find die roten Kornblumen zwischen den gelben Ähren. Was willst du mit der Schachtel?«
Hedwig wollte darin den Vogel begraben. Die schöne Schachtel lag ihr sehr am Herzen, die roten Kornblumen hatten sie immer besonders entzückt. Eben darum hatte sie diese gewählt, denn sie hatte ein tiefes Bedürfnis, dem getöteten Vöglein etwas Gutes zu tun, ein Opfer zu bringen. Das Tierchen wurde in die Schachtel gebettet auf weiches Moos, mit Blumen ringsum. Unter der Vogelesche grub der Junge ein tiefes Loch und legte die Schachtel hinein; dann schaufelte er voller Eifer die ausgegrabene Erde darauf. Nachdenklich stand Hedwig neben ihm und schaute zu.
»Jetzt ist der Vogel schon im Paradies«, sagte sie tief aufatmend, als der Junge einen Augenblick inne hielt, um Atem zu schöpfen.
»Wenn er seine Pflicht getan hat, sonst nicht«, versetzte dieser bestimmt, die Arbeit aufnehmend.
»Welche Pflicht; was meinst du?«
»Seine Vogelpflicht, wie er noch im Walde war: Futter schaffen für seine Familie, die Jungen gut abrichten auf das Ungeziefer und sein Nest in Ordnung halten. Siehst du, das ist so: Wenn einer seine Pflicht tut auf der Erde, so kommt er nachher in den Himmel; wenn er sie nicht tut, so fährt er in die Hölle.«
»Du bist recht bös und grausam«, rief Hedwig ganz entrüstet aus, »Erst haben wir den Vogel getötet in der Kaltwasserkur, und nun sagst du noch, er könne in die Hölle kommen.«
»Ich bin nicht schuld, wenn er ein pflichtvergessener Vogel war; da muß er seine Strafe haben, das ist nun einmal so, und da hilft nichts.«
Einen Augenblick stand Hedwig schweigend da. Plötzlich wandte sie sich und lief dem Hause zu.
»Doch, etwas kann ihm helfen, das weiß ich!« rief sie im Laufen zurück. Bald kam sie wieder daher gerannt. Das kleine Grab war unterdessen zugedeckt worden.
»Du mußt wieder alle Erde wegschaufeln, ich muß durchaus die Schachtel noch einmal aufmachen«, sagte Hedwig ernsthaft.
»Nie, in meinem Leben nicht, das tut man niemals mit Gräbern«, entgegnete der Junge mit strammer Haltung. »Komm, nun müssen wir singen.«
»Nein, nein«, bat Hedwig ängstlich, »ich will tun, was du nur willst, aber erst mach noch einmal die Erde weg, oder gib mir die Schaufel.«
»Was willst du denn tun?«
»Ich muß dem Vogel etwas mitgeben.«
»Mitgeben! Was kann man einem toten Vogel mitgeben?« sagte der Junge etwas verächtlich, doch war seine Neugierde wach geworden.
»Nur das, sieh!« Das Mädchen hielt ein kleines, zusammengerolltes Papier hin.
»Was ist drin? Zeig mal her.«
Aber Hedwig zog ihre Hand schnell zurück. »Nein, das sollst du nicht wissen, du würdest nur lachen, und es ist nicht zum Lachen.«
»Ich will nicht lachen, gib nur her«, drängte der Knabe. Das Mädchen zögerte.
»Ich wollte dir's wohl geben, wenn du mir versprechen würdest –«
Jetzt stieß der Junge seine Schaufel in die Erde, stellte sich vor das Mädchen hin und sagte mit grimmigernster Miene:
»Hör, nun will ich ein Wort sagen, und wenn ich etwas mit diesem Wort verspreche, so muß ich es halten; jetzt paß 'mal auf, Haha! auf mein Ehrenwort, ich will nicht lachen!«
Hedwig sah, daß es dem Jungen bitter ernst war. Sie übergab ihm das kleine Papier. Es war vielfach zusammengefaltet. Nun lag es offen; es fiel aber nichts heraus, wie der Knabe erwartet hatte. Drinnen stand mit großer Kinderschrift geschrieben: »Lieber Gott, sei du dem armen Vogel gnädig und nimm ihn in den Himmel.«
Der Junge hielt Wort. Mit unbeweglich ernstem Gesicht schaufelte er die Erde wieder weg und reichte die Schachtel dem Mädchen hin, das sein wieder gefaltetes Papier dem Vögelchen in den Schnabel steckte. Dann wurde die Schachtel in die Erde zurückgelegt und das Grab geschlossen. In diesem Augenblick wurden die Kinder ins Haus hineingerufen. Hand in Hand verließen sie die kleine Grabstätte und wanderten durch den Garten.
»Ich will auch noch Blumen darauf pflanzen«, sagte Hedwig, als sie an den Beeten vorbeigingen, »und wenn du wieder kommst, dann ist das Grab wie ein Garten.«
»Und ich will ein Monument aus Stein hauen lassen und mitbringen, das kommt mitten in die Blumen hinein. Bis dahin können wir uns noch besinnen, was darauf stehen soll, oder wollen wir es gleich ausmachen?«
Die Kinder waren an der Türe des Wohnzimmers angekommen, die sich eben öffnete. Man hatte auf sie gewartet, um zu Tische zu gehen. Die Frage blieb unbeantwortet. Die Kinder wurden gleich auf ihre Plätze gebracht; da hatten sie sich still zu verhalten, das wußten sie. Als man vom Tische aufstand, fuhr der Wagen vor, es war die festgesetzte Zeit zur Abreise. Auf allen Seiten wurde Abschied genommen. Der Junge hatte oftmals die Hand zu geben, ehe er an seine Gefährtin kam.
»Komm bald wieder«, sagte diese, als sie sich die Hände reichten.
»Ja, ja!« versicherte der Junge, »vergiß auch meinen Namen nicht, Haha, Haha!« lachte er hinzu.