Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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jeden Tag kann ich es erwarten.«

      »Wenn ich das nächste Mal zu dir komme, will ich dir auch etwas erzählen; willst du?« Hedwig hielt der Kleinen ihre Hand zum Abschied hin.

      »O ja, ich will wohl!« entgegnete das Kind und hielt die dargebotene Hand fest, wie um erst seiner Sache sicher zu werden, bevor es sie wieder losgab. »Wann kann die Geschichte kommen?«

      Hedwig versprach, schon den folgenden Tag die Geschichte zu bringen, dann ging sie. Wie sie noch einmal zurückschaute, sah sie das Kind vorgebeugt, seine klugen Augen unbeweglich auf ihre Füße gerichtet.

      Als Hedwig hinter den Nußbäumen hin nach dem Pensionshause zurückging, mußte sie sich fragen, wie es möglich war, daß das Kind seine Geschichte dergestalt in die Wirklichkeit übersetzt hatte, daß sie von Tag zu Tag in seinem eigenen Leben fortspielte. Freilich, es war die einzige, die es je erzählen gehört hatte. Dazu, wie wenig kam es in Berührung mit der übrigen Welt durch seine Unbeweglichkeit, und lebendig angelegt, wie es war, wie stark mußten alle Eindrücke seine Seele erfassen und in dieser Abgeschlossenheit darin fortwirken.

      Eben schlug es zwei Uhr, als Hedwig durch den Speisesaal nach ihrem Zimmer hinauf eilen wollte, sich bereit zu machen, denn die Tischglocke mußte gleich ertönen. Im Saal hielt sie das Zimmermädchen an, ein großes Buch ihr hinhaltend: der Herr des Hauses ließe sie bitten, ihren Namen einzutragen, was alle Gäste zu tun hätten, die längere Zeit dablieben. Hedwig tat, wie sie geheißen ward. Dann überflog sie die Namen der Fremden, die da standen, sie kannte nicht einen. Es waren Deutsche, Engländer, Franzosen, auch einige Schweizernamen da. Und hier? Was? Baron O. v. K.

      Diesen Namen kannte sie, hatte sie wenigstens einmal so gut gekannt. Sollte es ihr ehemaliger Freund sein? Freilich, ein anderer konnte ja auch denselben Namen tragen. Wenn sie ihn nur sehen könnte, sie müßte ihn gleich erkennen, das war ihr gewiß. Ein sonnensüßer Frühlingstag stieg vor ihr auf, wie sie den Namen wiederholte und mit ihm die tief gegrabenen Eindrücke einer längst vergangenen Zeit. Sollte der alte Freund wirklich noch einmal zum Vorschein kommen? Und wenn er es war, was dann? Er wußte vielleicht nichts mehr von jenem lang vergangenen Tag der Kindheit. Wie oft schon hatte Hedwig erfahren, daß andern die Erlebnisse aus den Kinderjahren gänzlich entschwunden waren, die noch so lebendig vor ihr standen, daß ihr ein Vergessen unbegreiflich war. Es konnte ja so bei ihm sein wie bei andern. Sie wollte auch keine Annäherung suchen; aber ob sie ihn erkennen könnte, das mußte sie versuchen. Kaum hatte sie ihr Zimmer betreten, als auch schon der Ruf der Glocke erscholl und sich nach und nach die zahlreiche Gesellschaft an den zwei langen Tischen versammelte. Bald ertönte ein lautes Gewirre von allerlei Sprachen im Saal, und jeder war mit sich selbst und seiner Nachbarschaft so beschäftigt, daß Hedwig unbemerkt ihre Augen herumgehen lassen konnte, ob sie einen alten Bekannten erkennen möchten. Aber wenn sie auch hier und da auf einen blonden oder hellbraunen Kopf einen Augenblick geheftet blieben, sie gingen gleich wieder weiter; so konnte er nicht geworden sein. Aber der eine von jenen dreien, die nebeneinander saßen, alle drei hohe stattliche Figuren, hatte der nicht einen ganz bekannten Blick? Jetzt lachte er auf – das war O, v. K. und kein anderer! das waren die offenen, blauen Kinderaugen noch, das waren die immer noch etwas struppigen, blonden Haare, das war sein volles Lachen, das sie kannte.

      Hedwig war überzeugt, daß dieser Herr der Baron O. v. K. war. Aber hatte sie nicht diesen Kopf schon irgendwo gesehen, lange nach der Kinderzeit, so wie er jetzt war? Jetzt fiel es ihr ein: es war einer von denen, die heute auf der Mauer erschienen waren; es war der, welcher herunterdeklamiert hatte. Wie merkwürdig jung der Kopf geblieben war! Das war wohl mit dem ganzen Wesen des Barons der Fall, nach der heutigen ersten Begegnung zu schließen.

      Man stand von der Tafel auf. Die meisten der Gäste gingen der Veranda und dem Garten zu, wo sie sich durch die Wege zu den Ruhebänken und unter die alten Nußbäume hin verloren. Hedwig stand an einen Pfeiler der Veranda gelehnt und schaute nach dem grünen Wiesengrunde hinaus, auf dem die Abendsonne lag. Erst nach einiger Zeit bemerkte sie, daß nicht weit von ihr auf dem Gartenwege die drei Gestalten mit den ihr bekannten Köpfen standen und, in gedämpftem, aber eifrigem Gespräch begriffen, von Zeit zu Zeit die Köpfe noch näher zusammensteckend, dann wieder sich umwendend, nach ihr hinblickten, um nachher Rede und Gegenrede noch eifriger aufzunehmen. Hedwig verließ den Platz und ging über die Veranda der Saaltüre zu. In dem Augenblicke kamen die drei Herren direkt auf Hedwig zu, als wären sie an dieselbe abgesandt worden. Mit Höflichkeit verneigten sie sich. Der vorderste trat näher heran – es war Baron O. v. K.; Hedwig zweifelte keinen Augenblick mehr.

      »Gnädige Frau«, begann er, in demütiger Haltung vor ihr stehend, »wir kommen, Sie um Verzeihung zu bitten für einen unpassenden Scherz, den wir uns heute in Ihrer Nähe erlaubt haben. Eben haben wir Sie wiedererkannt, und da einer meiner Freunde Sie deutsch sprechen hörte, wußten wir, daß Sie uns verstanden haben mußten. Wir dürfen aber wohl hoffen, daß Sie unseren unzeitigen Spaß nicht als persönliche Beleidigung aufgefaßt haben und uns Ihre Vergebung nicht verweigern werden. Darf ich Ihnen meine Karte« – damit überreichte er diese der vor ihm Stehenden; sie las: Baron O. v. K.

      »Der harmlose Scherz bedarf ja keiner Vergebung«, erwiderte Hedwig; »doch möchte ich fast wünschen, es wäre so, um mich einem alten Bekannten in dem günstigen Augenblick des Gefälligseins in Erinnerung zu rufen.«

      Der Baron machte seine blauen Augen erstaunlich weit auf und schaute Hedwig so stramm an wie damals, als er an den Birnbaum gelehnt stand und sie nichts zu sagen wußte.

      »Sie können mich nicht mehr erkennen, es ist zu lange her, seit wir uns gesehen haben; auch wenn ich Ihnen meine Karte gäbe, so fänden Sie keinen bekannten Namen darauf; damals, als wir uns kannten, hieß ich H. H.«

      Einen Augenblick noch blieb der stramme Blick auf Hedwig geheftet; der Baron war sichtlich im dunkeln. Jetzt plötzlich schoß es wie ein helles Lachen in seine Augen.

      »Was? Nicht möglich! Wahrhaftig! Haha! Haha? Hahaha! Köstlich! köstlich!«

      Der Baron hatte die Hand, die Hedwig ihm zum Gruß geboten, ergriffen und schüttelte sie fortwährend.

      »Nein, die Erinnerung ist herrlich! Und haben Sie auch den Vogel Kakadu noch im Sinn?«

      Ein überwältigendes Gelächter kam den Baron nochmals an. »K. muß an zeitweiligem Wahnsinn leiden«, bemerkte jetzt einer der Freunde, die bisher in Erstaunen dagestanden hatten. Der Baron wandte sich zu ihm.

      »So schlimm steht es nicht; daß ich aber vor lauter Freude über eine alte Erinnerung nicht aller Höflichkeit vergesse – –«

      Hier stellte er den Freunden Hedwig als seine älteste Freundin vor, mit ihrem Namen mußte sie freilich selbst nachhelfen. Die Herren wurden ihr als Freunde und Vettern bekannt gemacht, die dem Baron einen flüchtigen Besuch vergönnt hatten, ihn aber schon wieder folgenden Tages verlassen wollten, um ihre Schweizerreise fortzusetzen. – Die Gesellschaft hatte sich nach und nach wieder zum Hause zurückbegeben und war durch die verschiedenen Türen hinein verschwunden. Die Abendluft wurde kühler. Drinnen im Saal ertönte Musik; Hedwig schlug vor, diese anzuhören. Die kleine Gruppe trat in den Saal, wo sich an verschiedenen Tischen je die Bekannten zusammengesetzt hatten. Nahe der Türe waren noch freie Plätze, wo die Eintretenden sich niederlassen konnten. In ihrer Nähe saß eine einzelne Dame, die Hedwig schon mehrmals bemerkt hatte, wie sie, gleich ihr selbst, allein umhergewandert war, oder an einem einsamen Platze sich niedergelassen hatte. Jetzt saß sie in ihrer Ecke, unverwandt auf ihre Arbeit niedergebeugt, und schien sich durchaus um keinen Anwesenden zu kümmern. Es wurde längere Zeit fortmusiziert. Ein junges Mädchen sang hübsche, bekannte Weisen. Jedermann war angesprochen davon und sprach leiser oder lauter seine Freude darüber aus. Nur die Dame erhob nicht ein Mal ihre Augen, noch gab sie ein Zeichen der Teilnahme von sich. Hedwig mußte immer wieder nach ihr blicken. Wie von einer drängenden Gewalt getrieben, fuhr die Nadel immer rascher dahin, und es war, als zitterte die Hand vor Hast, noch mehr, noch eiliger fortzuarbeiten. Es wurde Hedwig ganz eigen zu Mute, fast unheimlich; sie konnte ihre Augen nicht mehr von den rastlosen Händen abwenden, sie konnte auch unbemerkt darauf hinsehen, nicht ein Mal hob die Dame ihren Blick empor.

      Als man sich später aus dem Saal entfernte und gegenseitig verabschiedete,


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