Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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Hedwig nochmals heran; »mach, daß das Monument recht prächtig ausfällt«, rief sie in die Kutsche hinein. Allgemeine Heiterkeit bemächtigte sich zum Schluß der ganzen Gesellschaft; niemand hatte geahnt, daß die beiden, so kurze Zeit erst befreundeten kleinen Wesen sich schon in gemeinsame bauliche Unternehmungen eingelassen hatten.

       Inhaltsverzeichnis

      Eine lange Reihe von Jahren war dahingegangen. Das Kind Hedwig war eine Frau geworden. Mit einem empfänglichen Gemüt für Freud' und Leid begabt, hatte sie beides in all den Jahren reichlich erfahren, so reichlich, daß ihr war, sie habe schon viel länger gelebt als ihre Altersgenossen, mit denen sie verkehrte.

      Seit jener Zeit, da sie um ihren Vogel geweint, hatte sie noch anderes zu Grabe tragen müssen, das ihr noch mehr am Herzen gelegen als das Tierchen, das draußen unter der Vogelesche lag. Es stand kein Monument auf jener Stelle. Wochen und Monate lang hatte vor Zeiten Hedwig nach ihrem Freunde ausgeschaut, ob er nicht den Weg herauf komme und hinter ihm her ein wundervolles Monument auf einem ungeheuren Wagen. Aber er kam nie. Die Apfelbäume hatten ihre Früchte gebracht, der weiße Schnee war darauf gefallen, sie hatten wieder geblüht und hatten wieder entblättert dagestanden. Und immer wieder, durch die vollen und die leeren Zweige hatte Hedwig nach den Pferden ausgeschaut, die dort unten erscheinen sollten: aber sie kamen nicht.

      Der Besuch der Baronin v. K. in Hedwigs Familie war durch die gemeinsamen Freunde herbeigeführt worden; dabei blieben die Beziehungen stehen und hatten keine weitere Berührung zwischen den beiden Familien zur Folge. Dafür hatte Hedwig kein Verständnis. Der junge K. war ihr Freund geworden, er mußte wiederkommen, wie er versprochen hatte. Lange freute sie sich auf seine Wiederkehr; dann grämte sie sich, daß er immer nicht kam; dann vergaß sie Gram und Freude über neuem Gras und neuen Blumen, die darüber wuchsen und abfielen, und so wurden Jahre daraus, und ein gutes Stück vom Leben lag schon hinter ihr.

      Eben war Hedwig aus einer Krankheit erstanden, die sie den ganzen heißen Sommer lang in die Stille des Zimmers gebannt hatte. Schon röteten sich die Blätter im Walde, und die Morgen- und Abendnebel zogen um die heimatlichen Fluren der Genesenden, als ihr der Arzt verordnete, die Herbstwochen in einer sonnigeren Luft zuzubringen, im milden Rhonetal, wo, von Bergen rings umschlossen, ein grünes Plätzchen Erde liegt, geschützt vor allen Winden, geschmückt mit Weinlaub und Kastanienwald bis an den Fuß der grauen Felshörner hinan, deren Schneegipfel hoch ins Himmelblau ragen.

      Hedwig war in dem ihr empfohlenen Pensionshause angekommen. Diejenigen ihrer Bekannten, die von dem Orte wußten, hatten ihr das Haus als eine der kleineren Pensionen geschildert, die reichlich an den Ufern des sonnigen Leman bis weit hinauf ins Rhonetal ausgesäet sind. So hoffte Hedwig mit wenigen Personen sich da zusammenzufinden, sie traf aber gegen sechzig Gäste an. Im ersten Augenblick war ihr sehr unbehaglich dabei zu Mute; aber bald besann sie sich und fand, daß der einzelne in der Schar sich eher verlieren könne als unter wenigen, und diese Aussicht war ihr lieb, denn ihr Wunsch war, für sich zu bleiben, in der Stille das schöne Land zu durchstreifen und alle lieblichen Wege zu entdecken, die durch diese Wälder und Gründe und über die grünen Hügel hin führen mußten. Hier, wo keiner nach ihr fragte, konnte sie auch so ungestört ihrem Hang zum Sinnen und Träumen folgen. Hedwig hatte von einer Bekannten einen Gruß mitgebracht an eine Frau v. L., die sich im Pensionshause befinden mußte. Es war eine freundliche Fürsorge der Bekannten für Hedwig, daß diese jemanden finden sollte, zu dem sie sich halten konnte, um sich nicht verlassen zu fühlen unter all den fremden Gestalten. Aber Hedwig ließ Tag um Tag dahingehen, ohne den Empfehlungsbrief abzugeben; sie empfand gar kein Verlangen, Frau v. L. aus all den Gästen herauszusuchen und sie anzureden, und da dies ja nur zu ihrem eigenen Besten geschehen sollte, konnte sie es gut unterlassen.

      Es waren liebliche Herbsttage. Jeden Morgen, wenn Hedwig auf die sonnenbeschienene Veranda am Hause hinaustrat, kam sie die Sehnsucht an, auszuziehen zu dem noch dichtbelaubten Kastanienwald hinüber, der die alte Schloßmine umkränzt, oder hinauf, den Rebenhügel entlang, bis zu der Bank am Waldessaum, wo wieder die reichbelaubten Kastanienbäume ihre Kronen im Blau des Himmels wiegen und der schmale Weg sich immer weiter schlängelt durch Mooslager und duftende Waldgründe bis hinauf zum Signal der Berghöhe.

      Nachsinnend, welchen Weg sie einschlagen wollte, stand Hedwig am fünften Tage nach ihrer Ankunft in der Veranda und wollte eben ihre Wanderung beginnen, als eine ältere Dame mit kurzen, trippelnden Schritten ihr nahte und sich ihr als Frau v. L. zu erkennen gab.

      Durch einen Brief der gemeinsamen Bekannten von Hedwigs Anwesenheit in Kenntnis gesetzt, hatte die Dame diese sofort herausgefunden aus der Menge und wollte sich ihr, wie sie sagte, gerne freundlich bezeigen. In der Art und Weise der Frau v. L. lag etwas Huldvolles, fast Gnädiges; ein gütiges Lächeln lag auf ihrem Gesichte, wenn sie sprach. Eine schwarze Hülle, halb Tuch, halb Schleier, hing ihr um den Kopf und sah etwas tragisch aus. Die glatt gestrichenen Haare darunter waren noch ganz ohne Grau, doch machte das Gesicht und die ganze Erscheinung eher den Eindruck von vorgerückterem Alter. Die spitze Nase gab dem Ausdruck des ganzen Wesens etwas Scharfes. Die Stimme der Frau hatte einen bestimmten, fast harten Ton, aber sie sagte eher liebevolle Worte: »Und warum haben Sie sich nicht gleich an mich gewandt, meine Werteste? Wie sehr hatte ich mich gefreut, etwas für Sie tun zu können.«

      Hedwig war beschämt von der Freundlichkeit, die sie so wenig verdient hatte. Sie wollte etwas ähnlich Freundliches darauf antworten, aber sie brachte nichts heraus, die Worte blieben ihr im Halse stecken. Noch einmal machte sie eine Anstrengung, aber es ging nicht. In der Art und Weise der Frau v. L. war etwas so Befremdendes für Hedwig, daß sie sich nicht darin zurechtfinden konnte. Sie war fast unangenehm von dieser Art von Freundlichkeit berührt; aber gleich nachher warf sie sich's innerlich vor: wie konnte sie so undankbar gegen ein wohlwollendes Entgegenkommen sein? Sie dankte Frau v. L. für ihre Zuvorkommenheit und sagte der Wahrheit gemäß, sie habe gern diese ersten Tage dazu benutzt, sich auf den schönen Wegen umzusehen und ringsum Feld und Wald kennen zu lernen, wobei sie sich nie einsam fühle; auch sei ihr das Alleinsein nie zur Last.

      Frau v. L. erwiderte, es sollte doch jeder fühlenden Seele lieber sein, sich mit Gleichgesinnten zusammenzufinden, als allein zu bleiben; es wäre auch jedem von größerem Gewinn; es würde ihr daher Freude machen, Hedwig hier und da auf ihrem Zimmer zu empfangen zu einem für beide wohltätigen Gedankenaustausch. Auch könnten sie gemeinsame Spaziergänge unternehmen, um sich dabei an guten Gesprächen zu erfreuen und zu erheben. Es war alles wie mit Vorwurf gesprochen, obschon er in keinem Worte ausgedrückt war. Es war aber doch nur Wohlmeinenheit und die beste Absicht, die Frau v. L. zu diesen Vorschlägen treiben konnte; warum konnte nur Hedwig keine Freude daran haben, warum konnte sie nicht mit Herzlichkeit auf das Anerbieten eingehen und sich der Frau anschließen? War es diese deutlich zu Tage tretende, wenn auch noch so gute Absicht? War es der Mangel alles Einnehmenden im Wesen, wie in der Erscheinung dieser Frau; war es das Zwiespältige, das in einer unverkennbaren Schärfe des Tones und den freundlichen Worten, die sie sprach, lag, was auf Hedwig einen erkältenden Eindruck ausübte, während sie sich alle Mühe gab, sich innerlich der Frau v. L. zu nähern? Hedwig war nicht im stande, auf die gemachten Vorschläge einzugehen; sie antwortete ausweichend, sie tue wohl besser, für sich zu bleiben, ihr seien lange und häufige Gänge vorgeschrieben, die für andere leicht ermüdend wären.

      »Sie haben wohl schon andere Bekannte unter der Menge gefunden«, sagte Frau v. L., diesmal mit unvermischt herbem Tone; »jeder sucht sich seinen Umgang nach seinem Herzen.«

      »Ich kenne keinen Menschen hier«, entgegnete Hedwig, »habe auch nichts getan, irgend welche Bekanntschaften zu machen, ich war am liebsten allein.« »Wie dem auch sei«, bemerkte Frau v. L., in einen milden, resignierten Ton übergehend, »Sie werden in mir immer eine teilnehmende Freundin finden, wenn Sie je das Bedürfnis nach einem tieferen Umgang empfinden sollten.« Nach diesen Worten entfernte sich die Dame mit den kurzen, trippelnden Schlitten, die ihr eigen waren. –

      Diese erste Begegnung mit einem der Kurgäste machte Hedwig keinen Mut zu anderen Anknüpfungen, sie wollte bei ihren einsamen Wanderungen verbleiben. Sie ging durch den Garten dem hölzernen Pförtchen zu und


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