Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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den Baron fragend an: »Ist sie wirklich eine Römerin?«

      Er lachte. »Das weiß ich nicht, sie könnte es aber sein.«

      »So wissen Sie gar nicht, wer sie ist?« rief Hedwig enttäuscht aus. »Schon gestern Abend mußte ich immer wieder nach dem edlen Angesichte sehen, das, von aller Umgebung abgekehrt, auf eine innere Welt gerichtet schien. Sie ist die einzige Persönlichkeit unter der Menge, die ein Interesse, und dazu ein tiefes Interesse, in mir erweckt hat.«

      »In mir auch«, sagte der Baron.

      »Wissen Sie denn aber gar nichts von ihr?« fragte Hedwig wieder. »Sie sind doch schon längere Zeit mit ihr hier zusammen gewesen?«

      »Was ich von ihr weiß, ist, daß kein Mensch sie kennt, daß sie mit niemand spricht, daß sie immer allein ihre Gänge macht, sich allein in einer Ecke des Saales hält, keinen Menschen an sich kommen läßt und nicht einmal um sich schaut. Im Fremdenbuch steht sie mit einem englischen, eigentlich schottischen Namen eingeschrieben. Sie kann aber keine Engländerin sein, ich hörte sie mit dem deutschen Zimmermädchen verkehren, seither halte ich sie für eine Deutsche, sie spricht durchaus kein erlerntes Deutsch.« –

       Der Baron hatte eine Menge Pläne gemacht, die Umgebungen des lieblichen Tales zwischen den Felsenhöhen, wo er einige Zeit zu verweilen gedachte, durch viele Streifzüge kennen zu lernen. Er schlug deren mehrere vor für die nächsten Tage; seine alte Freundin sollte mit dabei sein; vielleicht würden auch noch andere Gäste des Hauses daran teilnehmen. Hedwig fand die vorliegenden Touren teilweise sehr zweifelhaft ausgedacht. Sie meinte, erst müßte man darüber den Hausherrn zu Rate ziehen, der die Gegend kenne, was der Baron richtig fand und gleich auszuführen vorschlug, damit die schönen Tage nicht unbenutzt vorübergingen. Die Freunde begaben sich gleich zusammen nach den Zimmern des Hausherrn, wohin man vom Garten her einige Tritte in die Erde hineinzusteigen hatte.

      »Diese Lokalität nenne ich das Familienloch«, sagte der Baron im Einfahren.

      Im ersten Zimmer stand die Hauswirtin, selbst auf den Herrn wartend, der im innern Raum, dessen Türe offen stand, einer Dame Bescheid erteilte. Die Eintretenden wollten sich gleich wieder entfernen; die Frau bat sie jedoch, einen Augenblick zu warten, es handle sich nur um eine Zimmerangelegenheit, die auch gleich erledigt sein werde.

       Eine tiefe, klangvolle Frauenstimme sprach in perfektem Französisch zu dem Herrn, so leicht und schnell, daß in wenigen Minuten alles abgetan war. Die Sprechenden traten heraus, die Dame war die Römerin. Sie verneigte sich etwas majestätisch und ging weg. Der Hausherr gab die erwünschten Anweisungen und brachte auch noch einige neue, lohnende Ausflüge in Anregung. Als die beiden dem Familienloch entstiegen, bemerkte Hedwig: »Nun werden Sie Ihre Römerin kaum mehr für eine Deutsche halten, nachdem Sie ihr Französisch gehört haben.«

      »Mir steht der Verstand still«, erwiderte der Baron. »Dieses Wesen muß drei Muttersprachen haben; wie das zuging, ist nicht auszudenken.«

      Hedwig fragte ihn dann, mit wem er eigentlich alle seine Partieen zu machen gedenke.

      »Erstens wären Sie dabei«, erklärte er; »dann habe ich einige Anknüpfungen unter den Gästen gemacht, mit mehreren Herren aus Hamburg, mit einem Sachsen, einem Herrn aus Danzig und seiner Schwester, mit zwei Damen aus Irland und drei Amerikanern samt Frau und Kind.«

      »So ziemlich mit der ganzen Pension«, sagte Hedwig lachend. Vor der Hand, meinte sie, wolle sie lieber nicht an den Partieen teilnehmen. Zunächst wünsche sie, die nähere Umgebung sich recht anzusehen, auch kenne sie ja von all den Leuten niemand.

      »So werden Sie gerade alle kennen lernen und sich darüber freuen«, entgegnete der Baron lebhaft. »Auf dem Kirchhof lernt man die Menschen nicht kennen, und das schöne, reiche Menschenleben ist nicht so jammervoll, daß uns nur auf der Stätte wohl sein könnte, wo es aufhört.«

      »Gewiß nicht, wenn das Leben dort aufhörte. Aus einem Gottesacker wird mir weniger um des Aufhörens als um des Anfangens willen wohl, weil da, wo das jammervolle Vergängliche zu Ende geht, das ewig Bleibende in Fröhlichkeit auferstehen wird.«

      »Da sind wir wieder«, rief der Baron mit komischem Schrecken. »Schon in früher Jugend haben Sie mich in religiöse Streitfragen verwickelt. Erinnern Sie sich jener, die wir am Grabe des Vogels zu erledigen hatten?«

      Hedwig erinnerte sich wohl daran.

      »Ihre Bittschrift an den lieben Gott hat mir aber damals Eindruck gemacht, das kann ich Ihnen sagen; ich mußte noch lange nachher darüber nachdenken.«

      Hier wurden die beiden, die im Gespräch im Garten still gestanden, durch einen ungeheuren Lärm unterbrochen. Eine Schar efeu- und distelnbedeckter Menschen kam den Weg entlang und drängte sich mit Mühe durch das enge Pförtchen in den Garten hinein. Es waren die drei Amerikaner mit Frau und Kind, die beutebeladen von einem ihrer Streifzüge zurückkehrten. Unter dem Buschwerk hervor rief es von allen Seiten den Baron an und forderte ihn zur Bewunderung der Girlandenfülle auf. Er ging lachend dem wandelnden Wald entgegen, Hedwig trat in das Haus ein.

       Inhaltsverzeichnis

      Die sonnigen Herbsttage kamen und gingen wolkenlos. Lag auch zuweilen ein leichter Morgennebel um die Berge, trat nur erst die Sonne recht heraus, so war er spurlos verschwunden, und das leuchtende Blau lag über den dunkeln Felsenzacken, und südliche, warme Farben schimmerten über den herbstlich geröteten Kastanienwäldern.

      Hedwig hatte auf ihren Gängen eine Bank entdeckt, die, an den Abhang gelehnt, über dem der Waldessaum sich hinzieht, weit hinab ins grüne Tal, hinauf zum schneeigen Gipfel der nahen Tent du Midi und hinüber auf die leuchtende Kette der fernen Gletscher schaut und so in einem Blick die mannigfaltige Herrlichkeit des Landes umfassen und genießen läßt. Jeden Abend stieg Hedwig jetzt den sonnigen Weg, den Rebenhügeln entlang, hinauf, bis zu der einsamen Bank. Da ließ sie sich nieder und erwartete den Sonnenuntergang. Dann legte sich das Abendlicht golden auf den grünen Talgrund; die Fenster des grauen Kirchleins funkelten weithin wie lichtes Gold; Tal, Wald und Hügel schwammen in Duft und Gold, und alle dunkeln Felsenhöhen stammten wie Purpur, bis hinter den Savoyerbergen die letzte Abendglut erlosch.

      Die Römerin mußte, gleichwie Hedwig, eine besondere Vorliebe für die rebenumkränzte Waldhöhe gefaßt haben. Täglich trafen sich die beiden auf dem Wege am Hügel hinauf, oder Hedwig saß schon auf ihrer Bank, wenn die Fremde heraufkam und vorbeiging. Sie setzte sich nie auf die Bank, auch wenn sie die erste oben war; sie ging daran vorüber und weiter in den Wald hinein. Auch sie hatte wohl ein bestimmtes Ziel, wohin ihr Weg sie täglich führte. Sie ging immer allein, tief in ihre Gedanken versunken.

      Des Morgens, wenn die Kurpflichten erfüllt waren, wanderte Hedwig gewöhnlich zu dem lahmen Kinde hinauf, das an schönen Tagen immer ganz verlassen unter seinem Baume saß und etwas erwartete. –

      Die projektierten Partieen hatten begonnen. Jeden Morgen zog ein Teil der Gesellschaft zu Wagen ins Land hinaus; der Baron war immer dabei. Am Abend, wenn alle heimgekehrt waren, fand man sich im Saal zusammen, in allerlei Gruppen verteilt. Auch da war der Baron eine Hauptperson. Immer heiter, immer angeregt und gesprächig, ward er täglich reicher an Freunden und von allen Seiten in Anspruch genommen. Hedwig setzte sich immer so, daß sie irgendwie die Römerin in Sicht bekam, die ihre Gedanken täglich mehr beschäftigte und die allabendlich gesenkten Auges ununterbrochen an ihrer Arbeit fortfieberte. Der letzte Tag des milden Septembermonats war in besonderer Klarheit ungebrochen. Die schöne Morgenluft hatte Hedwig früher als gewöhnlich hinausgelockt. Obschon sie nicht erwartete, ihre kleine Bekannte schon zu sehen, schlug sie doch den Weg ein, der an ihrem Häuschen vorbeiführte, es war immer ihr erster Gang. Unerwarteterweise traf sie die lahme Juliette schon unter ihrem Baume sitzend, denn in aller Frühe waren heute die Eltern mit den Kleinen weggegangen. Das Kind saß bleich und fröstelnd in die Ecke des Sessels geduckt. Es mußte einer seiner schlimmen Tage sein, da der schwache Rücken von herben Schmerzen gefoltert war. Als Hedwig sich nahte, zeigte das Kind mit seinen mageren Händchen gegen Westen hin, es kannte präzis die


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