Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Читать онлайн книгу.gelben Herbstblättern bestreut war. Durch die hohe Weißdornhecke drüben schimmerte es weiß herüber, es mußte die Mauer sein, die rings um den Gottesacker führte. Ob man hineingehen könnte? fragte sich Hedwig. Überall suchte sie gern diese Stätte auf, wo es wie Friedensluft um all' die Hügel weht, da die ruhelosen Herzen ausruhen und aller Aufruhr stille wird. Das Tor war geschlossen; aber weiterhin die kleine Pforte stand halb offen, Hedwig ging hinein. Es sah ziemlich verwildert aus auf den Gräbern, aber der Sonnenschein lag lieblich auf dem grünen Rasen, und da und dort blühten noch ein paar späte Rosen am halb entblätterten Strauch. Hedwig setzte sich auf den trockenen kurzen Rasen, der ein Grab bedeckte, das keinen Namen trug. Völlig still und von allem Erdenverkehr abgetrennt lag die Stätte, kein lebendes Wesen war über die hohe Mauer hin mehr sichtbar, nur die beschneiten Felsenhäupter und die dunkeln Wipfel des fernen Waldes schauten groß und schweigend hinein. Hedwig hatte, in ihre Gedanken versunken, lange dagesessen, als sie von lauten Stimmen aufgeweckt wurde, die sich dem Friedhof nahten.
»Da drinnen geistet's«, schallte es jetzt über die Mauer.
»Ah!« ertönte eine andere, helle Männerstimme, »laß 'mal sehen! Wahrhaftig! das ist die weiße Dame!« Und einen tiefen, schauererfüllten Ton annehmend, fuhr sie fort:
»Die weiße Dame, mich ängstet sie.
Funkelnden Blickes gespenstet sie.«
Hedwig schaute auf. Über der Mauer waren drei Köpfe sichtbar, weiter gar nichts, ganz so, als lägen sie auf der Mauer und hingen mit nichts weiter zusammen.
»Sie hat uns gehört«, sagte jetzt einer der Köpfe.
»Gehört!« höhnte der zweite. »Kein Mensch spricht deutsch hier herum, und die fremden Gäste gehen nicht auf die Kirchhöfe.« Die Köpfe verschwanden. Ein Heller Gesang ertönte, erst nah, dann weiter weg:
»Die weiße Dame kann uns hören« – –
Nun erlosch der Ton.
Hedwig stand auf; sie hatte ja eigentlich den Ruinenhügel besteigen wollen. Sie ging unter den Walnußbäumen hin dem Wiesengrunde zu, wo die letzten unscheinbaren Häuser des Fleckens sich nach und nach verlieren. Beim letzten Häuschen stand ein alter Kirschbaum, der seine Äste weit ausbreitete; Hedwig kam nahe daran vorbei.
Unter dem Baume, an den Stamm gelehnt, stand eine Art von Lehnstuhl, darauf saß eine kleine Figur, von der nur Kopf und Arme zu sehen waren, der übrige Körper war bis hoch hinauf mit einer weiten, grauen Decke zugedeckt.
Hedwig trat näher, sie dachte, eine Kranke oder eine gebrechliche Alte suche hier Erholung an der frischen Luft. Es war ein Kind, das in dem Sessel saß. Ringsum war alles still und leer, kein Mensch war zu sehen noch zu hören. Hedwig trat zu dem Kinde heran. Mit den mageren Händchen zupfte es emsig Wolle; das blasse Gesichtchen hatte einen leidenden, fast alten Ausdruck.
»Bist du krank, Kind?« fragte Hedwig.
»O nein«, antwortete das Kind, indem es mit zwei eigentümlich forschenden Augen zu Hedwig aufschaute und sie eine Weile nachdenklich auf dieser ruhen ließ. Es legte nun seine Wolle beiseite und wartete sichtlich auf die Folge des Gesprächs. Hedwig fragte nach der Mutter und den Geschwistern und warum es denn ganz allein da sitze. Sie seien alle im Felde und kämen erst zum Mittag und manchmal auch erst am Abend wieder, berichtete die Kleine.
»Du mußt aber doch krank sein«, sagte Hedwig, »du würdest wohl sonst auch mit ihnen gehen.«
»O nein, ich bin nicht krank«, entgegnete das Kind; »aber ich sitze immer hier, nur nicht im Winter. Es ist so, weil ich nicht bin wie die andern; ich kann nicht gehen.«
Hedwig schaute nach des Kindes Füßen; sie waren beide völlig wie Lappen, ganz ohne Knochen, das Kind mußte so geboren sein, das konnte keine Krankheit verursacht haben.
»So konntest du nie gehen, nie auf deinen Beinchen stehen?« fragte Hedwig teilnehmend.
»Nein, nie, und ich habe so oft zugeschaut, wie sie's machen.« Das Kind wurde ganz eifrig. »Mariette und Annette und Battiste und François, alle machen nur so mit den Beinen, wie ich mit den Armen tun kann, und dann kommen sie schon vorwärts und ganz schnell, und ich konnte es nie nachmachen und habe es so viel probiert.«
»Du armes Kind«, entfuhr Hedwig unwillkürlich, »Kannst du auch nichts anderes tun, als Wolle zupfen? Tust du so immerfort dasselbe?«
»O nein«, sagte das Kind, »ich weiß auch eine Geschichte, und darum erwarte ich immer etwas, vielleicht kommt es noch, wenn Sie ein wenig dableiben.«
Hedwig schaute das Kind genau an. Nein, einfältig konnte es unmöglich sein; diese forschenden Augen hatten einen durchaus geistigen Ausdruck.
Jetzt hörte man Stimmen und Getrappel von großen und kleinen Füßen, die sich nahten. Rennend kam voran eine Schar kleiner Buben und Mädchen daher, hinterdrein folgten mehrere Frauen mit Hacken auf den Schultern, Das lahme Kind hatte sich vorgebeugt und schaute mit durchdringenden Blicken auf die rennenden nackten Füße. »Sehen Sie, sehen Sie!« rief es ganz erregt, indem es auf die Kinderfüße deutete; »so machen sie's immer ohne Mühe, O wie sie laufen, und ich kann es gar nicht nachmachen.« Eine der Frauen kam zu dem Kinde heran.
»So, Juliette, hast du Besuch?« fragte sie, indem sie sich mit höflichem Gruße zu Hedwig wandte. Es war die Mutter des lahmen Kindes. Hedwig erkundigte sich bei ihr nach dem Zustande der Kleinen und fand gleich bereitwillige Auskunft. Das Kind sei mit den lahmen Beinchen zur Welt gekommen; man habe dann alles angewandt, was hätte helfen können, den Doktor gebraucht dann eine Frau, die Kräutersalbe mache, und auch einen, der die Krankheiten mit Beschwörung heile, aber es habe alles nichts geholfen. Das Kind sei auch sonst schwächlich, der Doktor sage, es gehe nicht lange mit ihm. Sonst sei Juliette ein gutes Kind und mache es ihr nicht schwer; sie müsse eben ihrer Arbeit nachgehen und das Kind da sitzen lassen, oft ganze Tage lang. Hedwig fragte, was denn das Kind damit meine, daß es immer etwas erwarte, wie es ihr eben mitgeteilt hatte.
»Ah so«, sagte die Frau, »ich bin oft recht froh, daß es so etwas glaubt. Wenn es am Morgen weinen will, wenn wir alle fort gehn – denn die Kleinen muß ich immer mitnehmen, sonst fällt mir eins ins Wasser und eins ins Feuer, denn etwas stellen sie immer an –, sag' ich nur: ›Sei brav, Juliette, weißt du, heute könnte wohl etwas kommen, es ist mir grad' als wäre es ein Tag dazu.‹ Dann ist sie gleich zufrieden und schweigt still und sitzt ganz geduldig da den Tag hindurch und horcht auf alle Seiten hin. Es kommt von einer Geschichte her, die hat ihr einmal ein Töchterchen erzählt, das da herum in Pension war und manchmal bei Juliette niedersaß, wenn es vom Spaziergang kam. Es ist aber schon mehr als ein Jahr seither; zuletzt wird ihr schon der Glaube daran vergehen.«
Diese letzten Worte konnte Juliette nicht mehr hören; sonst hatte die Mutter alles vor ihr verhandelt, wohl wie viele annehmend, vor den Kindern könne alles ausgesprochen werden, da diese nicht verstehen, was große Leute sich sagen, obschon sie gewöhnlich so gut aufpassen, daß sie oft die Dinge schneller fassen, als die großen Leute untereinander selbst es tun.
Die Frau war mit Hedwig dem nahen Hause zugegangen. Jetzt, an der Türe stehend, entschuldigte sie sich, sie sollte hinein, um das Essen zurecht zu machen. Hedwig kehrte noch einmal zu der Kleinen zurück.
»Willst du mir nicht auch deine Geschichte erzählen?« fragte sie das Kind. Es war gleich bereit dazu und erzählte sehr lebendig seine einzige Geschichte. Es war eine der Variationen vom armen Kinde, das tat, was es sollte, und war brav und folgsam. Es hatte aber gar nichts, das ihm gehörte; darüber war es traurig, aber es murrte nicht. Und wie es einmal am Spinnrädchen saß, kam eine schöne Dame herein und sagte: »Allen armen Kindern, die nicht murren, mache ich einmal eine Freude; was willst du haben?« Das Kind antwortete: »Ich habe gar nichts, alles macht mir Freude.« Da rollte es auf einmal auf dem Tisch herum von goldenen Nüssen und Äpfeln und weißen Semmeln und Zuckerkuchen und Bilderbüchern und allen schönen Sachen, o so schön, wie es solche nie gesehen hatte. Des Kindes Augen glänzten immer mehr, wie es die Herrlichkeiten aufzählte; es war, als sähe es sie alle vor sich liegen.
»So hörst du gerne Geschichten erzählen, Juliette?« fragte