Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

Читать онлайн книгу.

Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


Скачать книгу
sehr gut, dass du fertig machen willst, was du angefangen hast; aber es gibt Dinge, die man nicht gleich hintereinander fertig machen kann, wenn sie einmal angefangen sind. Dann teilt man diese Dinge in mehrere Teile und nimmt sich vor: Heute mache ich den ersten Teil fertig und morgen den zweiten, und so bis zum Schluss. Dann hat man jeden Tag fertig gemacht, was dahin gehörte, und das Ganze auch fertig gebracht. Nun sagen wir: Unser Lied hat zwölf Strophen, jeden Morgen sollen nun zwei davon gesungen werden, und am sechsten Tag haben wir das ganze Lied fertig gebracht und nicht unbeendigt liegen lassen. Verstehst du das, Lippo, und bist du nun beruhigt?«

      »Ja«, sagte Lippo und schaute wirklich ganz befriedigt zur Mutter auf.

      Jetzt musste ein ungewöhnlich kurzer Abschied von Onkel Phipp genommen werden.

      »Komm nur bald wieder«, scholl’s noch dreimal von der Treppe zurück, dann ging es endlich der Schule zu.

      Die Mutter schaute den dreien noch aus dem Fenster nach; sie besorgte, die beiden Älteren könnten den Kleinen gar zu weit zurücklassen, da er das späte Fortkommen verschuldet hatte. Wirklich liefen Kurt und Mea ziemlich voraus. Was hatte aber auch Lippo für einen sonderbar grossen Schulsack auf dem Rücken? musste sich die Mutter fragen.

      »Kannst du erkennen, was Lippo aufgepack hat, Phipp?« fragte sie den Bruder.

      Der Deckel des Schultornisters stand hoch emporgestossen von einem dicken Gegenstand, der gar nicht in den Tornister hineingebracht werden konnte und jedenfalls nicht hineingehörte.

      »Was er nur mitschleppt! Siehst du was es ist?«

      »Ich sehe nur ein graues Papier um einen runden Gegenstand gewickelt«, erwiderte der Bruder, »es ist jedenfalls nichts Böses darin. Das muss ich sagen, er ist ein durchaus guter und gehorsamer und auch ein recht vernünftiger Junge. Sobald man ihm das rechte Wort sagt, kommt alles ins Geleise. Warum hast du aber auch so lange gewartet, ehe du’s ihm sagtest, Maxa?« Onkel Phipps Ton wurde ganz vorwurfsvoll. »Erst läufst du fort und lässest ihn jammernd zappeln, wo er sich nicht zu helfen weiss. Er wollte ja doch etwas ganz Rechtes, nur zu unrechten Zeit; man musste ihm nur auf den rechten Weg verhelfen. Warum hast du das doch nicht gleich getan, anstatt fortzulaufen?«

      »Ich konnte doch ruhig Brunos Anliegen schnell anhören, es war auch notwendig«, sagte die Schwester, »den Lippo wusste ich ja unterdessen in guten Händen. Ich dachte, du würdest ihm schon ein Wort sagen, das ihn beruhigen könnte, er hört ja so sehr auf dich.«

      »Ja, ja, das ist ja alles recht«, gab Onkel Phipp zu; »aber wenn da so ein kleiner Kerl eine rechte Sache hat und man soll sie ihm widerlegen, und er nimmt dann alles noch so genau, dass er behauptet, man könne kein Morgenlied am Abend singen, und jammert in seiner Hilflosigkeit, dass man’s nicht anhören kann, da kommt einem auch nicht sogleich das rechte Wort in den Sinn, das liegt nicht immer so auf der Hand.«

      Die Schwester lächelte.

      »Nicht wahr, Phipp, so ganz einfach ist das Kindererziehen doch nicht?«

      »Da ist etwas Wahres daran. Aber auf der anderen Seite sieht die Sache doch auch wieder nicht so schlimm aus«, sagte der Bruder mit einem Blick auf Mäzli, das jetzt still und friedlich am Tische sass und recht säuberlich und ordnungsgemäss seine Milch und Brocken behandelte. Während der grossen Aufregung von Lippo hatte es die Tätigkeit unterbrechen müssen; denn da musste es mit aller Aufmerksamkeit den Vorgang verfolgen; das Begonnene wurde nun in aller Ruhe zu Ende gebracht.

      Jetzt gewahrte Onkel Phipp, dass die Zeit, die er zu seinem Fortgehen bestimmt hatte, längst überschritten war. Schnell nahm er Abschied von seiner Schwester und wollte davoneilen; aber einen Augenblick hielt sie ihn noch fest.

      »Nicht wahr, Phipp, das tust du mir zu Gefallen?« bat sie dringend, »wenn du kannst, suchst du zu vernehmen, wohin das Mädchen gehört, mit dem du gereist bist? Denk doch, wenn deine Vermutung richtig wäre, wenn das Kind der Leonore hier in unserer Nähe wäre, da müsste ich es ja einmal sehen, nur einmal, das könnte mir doch niemand wehren!«

      »Wollen sehen, wollen sehen«, gab der Bruder eilig zurück, dann war er verschwunden.

      Der bewegte Tagesanfang hatte soviel Zeit weggenommen, dass Frau Maxa nun alle Hände voll zu tun vor sich sah, um nur mit dem Nötigsten fertig zu werden, bevor die vier aus der Schule zurückkamen und wohl jedes wieder ein eigenes Anliegen vorzubringen haben würde.

      Mäzli hatte sich nach der Mutter Anweisung auf sein Stühlchen gesetzt und strickte nun ganz tugendhaft an einem weissen Lappen, der einen schönen roten Rand bekommen sollte und dazu bestimmt war, den Staub von Onkel Phipps Schreibtisch wegzuwischen. An seinem Geburtstag sollte er mit dem schönen Werke überrascht werden. Dieser Gedanke und noch andere, die der belebte Vorgang dieses Morgens in Mäzlis Kopfe angeregt hatte, bewirkten, dass es heute trotz der Abwesenheit der Mutter auf dem Arbeitsstühlchen sitzen blieb und keine Streifzüge unternahm, wozu das Mäzli sonst eine starke Neigung hatte. Die Mutter bewegte in ihrem Herzen allerlei Gedanken auf ihren verschiedenen Gängen durch das Haus, die nicht mit diesen zusammenhängen konnten, weder mit der Wäsche, die sie eben in der Küche angeordnet, noch mit den Kochäpfeln, die sie nachher im Keller ausgelesen hatte. Manchmal hatte sie eine Weile lang die Hand unbeweglich auf den Äpfeln ruhen lassen und hatte wie abwesend vor sich hingeblickt. Dann war sie mit ihren Gedanken droben im Schlossgarten, wo sie mit einer lieblichen jungen Leonore unter den rauschenden Föhren hin und her wanderte und mit ihr sang und fröhlich plauderte und wieder sang.

      Des Bruders Mitteilung hatte die Erinnerung so lebendig wachgerufen. Dann wieder seufzte sie vor sich hin, denn eine andere Mitteilung stieg vor ihr auf und beunruhigte sie: Bruno hatte ihr gesagt, man solle nicht mit dem Mittagessen auf ihn warten; er werde wohl kommen, nur vielleicht ein wenig später; denn er wolle seine zwei Studiengenossen an einer Schandtat verhindern. Was diese war und wie er sie verhindern wollte, hatte er nicht mehr ausgesprochen; es war der Augenblick, da Kurt die Tür geöffnet und mit Donnerstimme nach ihr gerufen hatte. Sie hatte nur noch Bruno ermahnen können, doch nicht seinen Zorn über sich Herr werden zu lassen, was es auch sei, das ihn empöre. Viel schneller noch, als sie erwartet hatte, hörte die Mutter Kurt heranrennen und schon unter der Haustür mit erhobener Stimme nach ihr rufen.

      »Hier bin ich, Kurt«, ertönte es ruhig aus dem Wohnzimmer, wo die Mutter nach Beendigung ihrer Morgenarbeiten sich vor kurzem neben Mäzli niedergelassen hatte. »Tritt nur erst in die Stube ein, solche Eile werden deine Mitteilungen ja nicht haben.«

      Kurt war schon an der Mutter Seite.

      »Weisst du, man ist nie sicher, ob du zuoberst oder zuunterst im Haus bist, wenn man aus der Schule kommt, Mutter«, sagte er, »da muss man sich denn beizeiten erkundigen, wo du bist, und heute ist soviel zu berichten. Jetzt sollst du hören: zum ersten lässt der Lehrer danken für die Gaben der Abgebrannten und lässt dir sagen, da du es für zweckmässig erachtest, ihnen einen Kartonhelm mit rotem Federbusch zukommen zu lassen, so werde er diesen beilegen, oder ob du etwa eine besondere Bestimmung dafür im Auge habest?«

      »Ich verstehe kein Wort von allem, was du da redest, Kurt«, sagte die Mutter.

      Eben öffnete Lippo die Türe, er kam immer später an; denn zur Heimkehr erwartete der Ältere den Jüngeren nicht.

      »Da kommt er gerade, der erklären kann, was du dem Lehrer geschickt haben sollst, Mutter, er hat es überbracht«, sagte Kurt.

      Die Mutter begrüsste erst den fröhlich herantrottenden Lippo, der sich ganz rote Backen gelaufen hatte. Dann sagte sie: »Sag mir, Lippo, hast du in deinem Schultornister heute früh noch etwas für die Abgebrannten mit fortgetragen?«

      »Ja, meinen Helm von Onkel Phipp«, antwortete Lippo.

      »Gelt, du hast gedacht, wenn so ein armer kleiner Kerl kein Hemd mehr hat, so kann er doch noch einen Helm mit rotem Federbusch auf den Kopf bekommen«, sagte Kurt lachend.

      »Du brauchst nicht so zu lachen«, sagte Lippo ein wenig kläglich, »die Mutter hat ja gesagt, man müsse den Abgebrannten nicht nur schicken, was man selbst nicht mehr wolle, darum habe ich den Helm gegeben, ich wollte ihn sehr gern für mich behalten.«

      »Du


Скачать книгу