Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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mir nur sagen sollen, was du im Sinne hattest, Lippo, so hätte ich dir dazu helfen können, damit du mit deiner guten Absicht auch etwas Gutes hättest erreichen können. Ein andermal sag mir lieber, was du Gutes tun möchtest; es ist besser, wir tun es zusammen.«

      »Ja, ich will«, versprach Lippo beruhigt.

      »Jetzt hör nur weiter, Mutter«, drängte Kurt, »zweitens erfolgte etwas, das dich nicht freut, und uns auch nicht; denn die ganze Klasse hält es mit Loneli, und heute musste Loneli auf der Schandbank sitzen.«

      »Oh, warum denn? Das arme Kind!« rief die Mutter aus. »Was hat es denn getan? Die Grossmutter in ihrer Ehrenhaftigkeit wird einen schrecklichen Jammer erheben, wenn sie nur das arme Loneli nicht auch noch für die Strafe bestraft, dass es auf der Schandbank gesessen hat.«

      »Nein, das darf sie durchaus nicht«, eiferte Kurt, »der Lehrer selbst hat laut vor der ganzen Schule gesagt, nur ungern setze er Loneli auf die Schandbank; denn es sei eine brave und gehorsame Schülerin, wie er nur wenige habe; aber sein Wort müsse er halten. Er habe nun einmal gesagt, um dem leidigen Schwatzen ein Ende zu machen, den ersten Schüler oder die Schülerin, die er beim Schwatzen entdecke, werde er auf die Schandbank setzen. Da musste sich denn das Loneli hinsetzen, ganz allein, und es weinte so schrecklich, dass es uns allen ganz leid tat. Und du kannst auch denken, Mutter, ein Mensch schwatzt doch nicht allein, nicht wahr? Also hätte Loneli doch nicht allein dort sitzen müssen. Aber der Lehrer hatte eben gefragt: ‘Wer hat dort geschwatzt? Wenn’s auch nur geflüstert war, so hab ich’s wohl gehört. Wer war’s?’ Da antwortete das Loneli leise: ‘Ich’, und dann kam das Urteil. Nun hätte doch eine der Nachbarinnen auch ‘ich’ rufen müssen; denn eine hatte mitgeschwatzt, das ist klar.«

      »Loneli kann auch eine Frage getan und keine Antwort erhalten haben«, meinte die Mutter.

      »Das wird Mea berichten, sie lief nach der Schule dem Loneli nach. Jetzt geht’s weiter, Mutter«, fuhr Kurt fort, »also drittens sind heute früh zwei Buben aus meiner Klasse von Herrn Trius durchgeprügelt worden. Sie stiegen in aller Frühe über den Zaun am Schlossgut und wollten ein wenig nachsehen, wie es um die Rosenäpfel stehe, auf der anderen Seite des Zaunes. Aber der Herr Trius war schon auf den Füssen. Mit einem Male stand er da mit seinem dicken Stock und ihm Hui hatte jeder ein paar Triushiebe auf dem Rücken. Denn weisst du, der Zaun ist hoch und fest, so schnell ist man nicht wieder auf der anderen Seite. Jetzt noch viertens hat des Haldenbauern Marx, der hinter dem Schloss wohnt, erzählt: gestern nacht, wie sein Vater ganz spät erst nach zwölf vom grossen Viehmarkt aus dem Tal heraufgekommen sei, habe er eine grosse, ganz verschlossene Kutsche hinter sich herkommen und dann in den Schlossweg einlenken gesehen. Ganz sicher sei die Kutsche zum Schloss hinaufgefahren; aber was da drin hinaufgebracht worden sei, könne kein Mensch wissen. So, jetzt hast du mir endlich auch recht zugehört, Mutter, bis jetzt warst du gar nicht so aufmerksam, ich habe es wohl gemerkt. Dann hat Marx noch etwas von seinem Vater erzählt; aber du wirst bös, wenn ich dir das wiederhole.«

      »So ist es etwas Unrechtes, Kurt, sonst würdest du das nicht sagen, dann will ich auch lieber, du wiederholst es nicht«, sagte die Mutter.

      »Nein, gewiss, es ist nichts Unrechtes, nur etwas Merkwürdiges, weisst du, etwas, von dem du nichts wissen willst; aber ich glaube ja auch gar nichts von dieser Geschichte, so kann ich es ja wohl sagen. Marx hat noch erzählt, sein Vater habe gesagt, mit diesem Fuhrwerk sei es nicht richtig gewesen. Er sei weit aus dem Weg gegangen; denn der Kutscher habe ausgesehen, wie wenn er nur einen halben Kopf gehabt hätte; der Mantelkragen sei so hoch aufgeschlagen gewesen, als müsse er verdecken, was darunter war, und auf die Rosse habe er losgehauen, dass sie im hellen Galopp den ganzen Schlossberg hinaufgejagt und ihnen lauter Feuerfunken aus den Hufen geflogen seien.«

      »Wie kannst du so etwas nacherzählen, als wäre dabei wirklich etwas Geisterhaftes, Kurt«, verwies ihn die Mutter; »denn darauf soll es natürlich herauskommen, der Geist von Wildenstein habe wieder herumgespukt. Das kannst du doch jeden Tag sehen, dass Pferdehufe an den Steinen Funken schlagen und dass ein Kutscher seinen Mantelkragen aufschlägt, wenn der Wind recht geht. Es kommt mir vor, Kurt, trotz allem, was ich dir über dieses unsinnige Gerede der Leute sage, kannst du nicht anders, als immer wieder irgendwie dich mit der Sache beschäftigen. Ich hoffe, dass sei nun bei dir abgetan.«

      Kurt war froh, dass eben jetzt Mea eintrat; denn gerade heute hatte er sich in einer Weise mit dieser Sache beschäftigt, die wohl der Mutter nicht so ganz gefallen würde, doch beruhigte er sich damit, dass er doch ganz in ihrem Sinne handle, wenn er den Leuten beweise, dass der ganze Spuk eine leere Erfindung sei und dadurch dann für ihn und alle anderen alles für abgetan gelten würde.

      »Warum hast du denn so verweinte Augen?« rief er der Schwester entgegen.

      Jetzt brach Mea los, halb zornig, halb klagend, immer wieder mit den Tränen kämpfend: »Ja, du solltest nur wissen, Mutter, wie schwer es ist, mit der Elvira Freundschaft zu halten. Sie nimmt alles gleich übel, und dann wird sie so verstimmt und spricht nicht mehr und bleibt bös auf ganze Tage lang. Und wenn ich ihr noch etwas Gutes mitteilen will und ihr entgegenlaufe und ein bisschen an sie herankomme, so ist sie schon beleidigt und meint, ich habe ihr die Blumen auf dem Hut verdorben, weil sie ein wenig geschüttelt worden waren, und kehrt mir den Rücken und will nichts mehr von mir wissen.«

      »Ja, das hab ich wohl gesehen letzthin«, warf Kurt ein, »und gestern hab ich ein Lied auf sie angefangen, das soll ihr gesungen werden. Nun will ich dir’s gleich vorlesen:

      ‘Lied auf das bekannte Fräulein.

      Ein Fräulein schönen Angesichts,

       Die kehrt dir gern den Rücken,

       Von lautem Lärmen weiss sie nichts,

       Sie weiss von stillen Tücken’.«

      »Nein, das darfst du nicht singen, Kurt, das Lied darfst du nicht weitermachen«, rief Mea in neuer Aufregung.

      »Mea hat recht, dass sie ihre Freundin nicht in dieser Weise besingen lassen will«, sagte die Mutter, »und wenn sie sich dagegen wehrt, kannst du es auch wohl lassen, Kurt.«

      »Ich bin aber der Bruder, Mutter, ich will nicht zusehen, wie diese Freundin meine Schwester unterjocht und tyrannisiert. Das ist überhaupt gar keine rechte Freundin«, eiferte Kurt, »und wenn mein Lied sie so erzürnte, dass die ganze Freundschaft darüber verkrachen würde, so wäre dieses Erlebnis nicht zu beweinen.« Aber Mea wehrte sich leidenschaftlich für ihre Freundin und gab nicht nach, bis Kurt versprach, er werde das Lied nicht fortsetzen.

      Nun wünschte die Mutter zu wissen, was denn eigentlich Mea zugestossen sei, dass sie so verweinte Augen habe. Sie erzählte, sie sei dem Loneli nachgegangen, weil es unter Schluchzen und Weinen die Schule verlassen habe; sie hätte es gern ein wenig trösten wollen. Loneli habe ihr dann mitgeteilt, wie es mit dem Schwatzen gegangen sei: Elvira, Lonelis Nachbarin auf der Schulbank, hatte gefragt, ob es auch am Sonntag auf die Kirchweih nach Sils im Tal gehen dürfe, und es hatte geantwortet: ‘Nein’. Dann wollte Elvira wissen, warum nicht, worauf Loneli geantwortet hatte, es wolle ihr nach der Schule alles erklären, hier dürften sie ja nicht so miteinander schwatzen. In dem Augenblick hatte der Lehrer gerufen, und Loneli hatte sich angezeigt.

      »Nicht wahr, Mutter, da hätte doch Elvira sagen müssen, sie habe Loneli etwas gefragt, dann hätte gewiss der Lehrer nicht Loneli allein auf die Schandbank geschickt, vielleicht hätte er den zweien dann auch eine andere Strafe gegeben«, sagte Mea in Aufregung.

      »So, nun hat sie auch noch Loneli auf die Schandbank gestossen!« fiel Kurt ein, »Loneli ist meine gute Freundin, nun muss sie auch noch mehr Verse haben.«

      »Gewiss, das hätte Elvira tun sollen«, bestätigte die Mutter. »Ja, nun hör nur, wie es weiter ging«, fuhr Mea immer eifriger fort. »Ich lief dann von Loneli weg, weil ich noch Elvira einholen wollte. Ich habe aber das arme Loneli immer noch schluchzen hören, es fürchtete sich so sehr heimzugehen, es musste ja der Grossmutter sagen, was geschehen war, und es wusste, sie werde sehr bös sein, dass es sich eine solche Schande zugezogen habe. Elvira habe ich gleich nachher angetroffen und habe ihr gesagt, es sei doch nicht recht, dass sie sich nicht auch gemeldet habe, vielleicht wäre es dem Loneli dann auch nicht


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