Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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herangekommen, und jeder hatte eine eigene Mitteilung für die Mutter und den Onkel bereit. Die Sonne war hinter dem Berge niedergegangen. Das hatte sie erinnert, dass es Zeit sei, heimzukehren.

      Mutter und Onkel erhoben sich von ihren Sitzen, und nun ging es rasch den Berg hinab, die Kleinen wieder an der Seite des Onkels, in hellem Jauchzen dahintrabend; denn Onkel Phipp machte solche Sprünge, dass sie dabei manchmal hoch in die Luft flogen, aber an seiner festen Hand immer wieder sicher auf den Boden kamen.

      Beim Eintritt ins Haus kam Kurt ein herrlicher Gedanke: »Oh, Mutter«, rief er ganz erregt aus über die Aussicht, »heute abend kommt die Geschichte derer von Wallerstätten, das passt so gut, da man eben das Schloss so nahe betrachtet hat, dass man alle Giebel und Schiessscharten und Turmzinnen genau vor sich hat.«

      Aber wieder musste die Mutter sagen: »Nein, heute geht es wirklich nicht, heut ist der Onkel da, und morgen früh muss er wieder fort, da habe ich noch vieles mit ihm zu besprechen, und ihr müsst alle bald zu Bett, sonst seid ihr morgen nach dem langen Spaziergang nicht herauszubringen.«

      »Oh, wie schade! Oh, wie schade!« jammerte Kurt; denn er hoffte immer noch, bei der Geschichte komme doch etwas von dem Geist von Wildenstein zum Vorschein, obschon man ja nicht an ihn glauben konnte. Auf seinem Baum sitzend, hatte sich Kurt so recht in die Betrachtung vertieft, wo der Geist etwa hätte erscheinen können.

      Wenn die Mutter am Abend zum Nachtgebet an die Betten trat, fand sie gewöhnlich das Mäzli von den Ereignissen des Tages noch so aufgeregt, dass sie immer grosse Mühe hatte, das Kind zu der notwendigen Ruhe zu bringen. Heute musste es von besonders lebendigen Eindrücken erfüllt sein, die nun, da alles ringsum still war, wieder vor ihm aufgestiegen sein mochten.

      Mit funkelnden Augen sass Mäzli aufrecht in seinem Bett, und sobald die Mutter erschien, rief es ihr entgegen: »Warum darf die Knippelsuppe der Apollonie den Sonntagsfrieden stören?«

      »Was hast du wieder aufgeschnappt, Mäzli?« sagte die Mutter erschrocken; denn schon sah sie den Augenblick kommen, da das Mäzli die Frau Amtsrichter mit der neuen Benennung bekannt machen würde. »Diesen Ausdruck musst du nie mehr brauchen, Mäzli, siehst du, es würde kein Mensch verstehen, was du damit meinst. Kurt konnte ihn auch nur für den einzigen Augenblick erfinden, da die Apollonie vom Verschlucken sprach; er hätte es auch da unterlassen können. Du musst nie mehr so sagen, verstehst du, Mäzli?«

      »Ja, aber warum darf man der Apollonie ihren Sonntagsfrieden zerstören?« fragte Mäzli beharrlich weiter; denn die Apollonie war seine besondere Freundin, der es nichts geschehen lassen wollte.

      »Das dürfte man eben nicht, Mäzli«, erwiderte die Mutter, »keiner sollte dem anderen seinen Sonntagsfrieden stören, das ist ein Unrecht.«

      »Aber dann könnte ja der liebe Gott nur schnell herunterrufen: ‘Tu nicht so, tu nicht so’. Dann wüssten sie, dass sie nicht dürfen«, meinte Mäzli.

      »Das tut er auch, Mäzli, das tut er jedesmal, wenn einer ein Unrecht tun will«, sagte die Mutter, »ganz deutlich hört ein solcher dann die Stimme, die ihm zuruft: ‘Tu’s nicht, tu’s nicht!’ Und er weiss, es ist der liebe Gott, der ihm so zuruft. Aber manchmal tut er’s doch, und schon junge Kinder, wie Mäzli eins ist, hören die Stimme, wenn sie etwas tun wollen, das sie nicht tun dürfen, und dann tun sie es doch.«

      »Dann nimmt es mich nur wunder, dass der liebe Gott sie nicht gleich abstraft; das müsste er nur tun«, eiferte Mäzli.

      »Das tut er auch gleich«, antwortete die Mutter. »Gleich, wenn das Böse getan ist, ist der, der’s getan hat, ohne Friede, es drückt ihn im Herzen, so dass er immer denken muss: ‘Hätt ich’s lieber nicht getan!’ Dann ist der liebe Gott so gut und barmherzig, dass er ihn nicht noch weiter straft. Er lässt ihm dann Zeit, dass er zu ihm kommen und ihm sagen kann, wie es ihm leid ist, das Böse getan zu haben, und den lieben Gott um Verzeihung bitten kann. Wenn er aber das nicht tut, dann kommt die Strafe, dass er noch mehr Unrecht tut und davon ganz unglücklich wird.«

      »Nun will ich doch recht aufpassen, ob ich die Stimme auch einmal höre«, nahm sich Mäzli vor.

      »Und dann der Stimme folgen, das ist die Hauptsache, Mäzli«, sagte die Mutter. »Aber nun wollen wir ganz ruhig sein, und dann betest du, und nachher schläfst du schön ein.«

      Nun sagte Mäzli recht andächtig sein Gebetlein, und da es nichts Beunruhigendes mehr auf dem Herzen hatte, legte es sich hin und war schon halb eingeschlafen, als die Mutter die Tür hinter sich schloss.

      Nun wurde sie noch an vier Betten erwartet. Jedes der Kinder hatte um diese Zeit seine besonderen Anliegen der Mutter noch vorzutragen. Aber heute blieb wenig Zeit dazu mehr übrig; sie musste die Kinder auf morgen vertrösten; für den guten Onkel Phipp brachte man gern ein kleines Opfer. Er hatte der Schwester noch empfohlen, bald wieder zu erscheinen. Als sie nun wieder in die Stube eintrat, lief er mit ungeduldigen Schritten hin und her; er konnte es offenbar kaum mehr erwarten, endlich der Schwester die Sache mitzuteilen, auf die er schon mehrmals angespielt hatte.

      »Komm doch endlich«, rief er der Schwester entgegen, »bist du denn noch gar nicht neugierig, dein Geschenk kennen zu lernen, das ich dir gebracht habe?«

      »Ach, Phipp, das wird ja ein Spass sein«, erwiderte Frau Maxa; »aber etwas anderes möchte ich von dir hören, was du mit dem Gedanken meintest, den du über die Kinder von Wallerstätten hast?«

      »Das ist eines und dasselbe, Maxa«, erwiderte der Bruder. »Komm hierher, setzt dich neben mich; aber hol erst deinen Flickkorb her, sonst bleibst du nicht ruhig sitzen; das kenn ich, eher rennst du wieder weg und noch drei-, viermal zu den Betten der Kinder hin.«

      »Nein, Phipp, heut ist’s Sonntag, heut gibt’s keinen Flickkorb, und die Kinder schlafen alle friedlich. Erzähl mir nur, was hast du denn für Gedanken?«

      Jetzt setzte sich Onkel Phipp geruhlich zu seiner Schwester hin: »So sicher, als ich hier neben dir sitze, Maxa«, begann er, »so sicher sass ich vor drei Tagen neben der jungen Leonore von Wallerstätten, das war ganz untrüglich das Kind der Leonore. In diesem Augenblick weilt es nur eine Stunde von dir entfernt und wird da wohl mehrere Wochen lang bleiben. Diese Nachricht wollte ich dir zum Geschenk bringen.«

      Frau Maxa konnte vor Erstaunen und Überraschung erst kein Wort sprechen.

      »Bist du dessen wirklich sicher, Phipp?« fragte sie jetzt, nach neuer Versicherung verlangend; »aber wie konntest du zu der Gewissheit kommen, dass, die du gesehen, das Kind der Leonore ist?«

      »Erstens, weil kein Mensch, der Leonore gekannt hat, je vergisst, wie sie aussah, und dieses Kind jeden Zug von ihr hat und gerade mit demselben Blick aus den Augen schaut, wie Leonore. Zweitens, weil das Kind Leonore genannt wurde; drittens, weil ihm dieselben braunen Locken über die Schultern fielen wie der Leonore und es mit derselben Stimme sprach, wie Leonore, so weich und so anmutig, wie sonst kein Mensch, und viertens und fünftens und sechstens, weil dieses Kind nur der Leonore gehören kann und niemand anderem, denn sie war nicht doppelt da.« Onkel Phipp war vor eifrigen Beweisen ganz warm geworden.

      »So erzähl doch, wie es war, wo du das Kind sahst, erzähl mir doch alles genau«, drängte nun die Schwester.

      Nun erzählte der Bruder: Als er vor drei Tagen, von seiner Reise zurückkehrend, unten in der Stadt angekommen war, gab er gleich Befehl im Hotel, dass ein Wagen bereit gemacht werde, er wollte den Abend noch daheim, in Sils im Tal ankommen. Der Wirt habe ihm dann mitgeteilt, dass soeben auch ein Wagen von zwei Damen bestellt worden sei, die nach Sils am Stein hinaufzufahren gedächten. Dass diese alle nur möglichen Erkundigungen über die Fahrt eingezogen hätten, da sie des Weges ganz unkundig seien, und dass sie es gewiss mit Freuden begrüssen würden, wenn er sich zu der Fahrt ihnen anschliessen wollte, da sie ja doch denselben Weg zu machen hätten. Er habe dann dem Wirt überlassen, die Sache anzuordnen, da er nichts dagegen hatte und, wie es schien, die Damen auch nicht; denn bald nachher seien sie erschienen, sich ihm vorzustellen. Dann sei der Wagen vorgefahren, und beim Einsteigen habe sich erwiesen, dass sie noch ein Töchterchen mithatten, dem dann an seiner Seite auf dem Rücksitz der Platz zur Reise angewiesen wurde.

      »Und dieses Töchterchen


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