Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri


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Maxa war sehr erregt.

      Solle wirklich eines der Kinder, nach denen sie seit Jahren vergeblich gefragt und gesucht und ein solches Verlangen im Herzen getragen hatte, plötzlich in ihrer Nähe sein! Würde sie es sehen können? Wer waren die Damen, zu denen es gehörte?

      Eine Menge von Fragen stieg in ihr auf. Der Bruder sollte sie beantworten; er sollte noch vieles wissen und zu erzählen haben. Aber alles, was er noch weiter wusste, war, dass die Damen in der Nähe von Hannover lebten, dass das Töchterchen zu ihnen gehörte und Leonore genannt wurde. In einem Blatte hatten sie gelesen, dass in Sils am Stein eine kleine Villa für die Sommermonate zu vermieten wäre. Diese hatten sie für einige Zeit übernommen und waren nun auf dem Wege dahin. In Sils im Tal hatte er den Damen seinen Wohnsitz gezeigt, sich auch zu allen Dienstleistungen anerboten, die ihnen vielleicht im fremden Lande angenehm sein könnten, und sich dann von ihnen verabschiedet.

      Der Name Leonore hatte in Frau Maxa soviele Erinnerungen an die schönen Tage ihrer Kindheit und Jugendzeit wachgerufen, dass sie nicht müde wurde, dem Bruder alle die herrlichen Tage wieder vor die Augen zu bringen, die so dort auf dem Schlosse mit der unvergesslichen Leonore und ihren Vettern zugebracht hatten, und heute war der Bruder auch mehr als je geneigt, auf alle die Erinnerungen einzugehen. Ja, wenn die Schwester abzubrechen schien, fing er von neuem an und wusste der merkwürdigen Ereignisse und der mit den Freunden vollführten Taten immer noch mehr.

      »Weisst du, Maxa«, schloss er endlich aufstehend, »wir hatten bessere Spielgenossen, als deine Kinder jetzt haben, und wenn dein Bruno seine zwei Kameraden etwa ein bisschen hauen möchte, so gefällt’s mir noch besser, als wenn er ihre Art annehmen würde«

      So lange hatten die Geschwister seit langer Zeit nicht mehr in die Nacht hinein geplaudert, und doch kam nachher noch lange kein Schlaf in Frau Maxas Augen. Immer wieder stand jene Leonore mit den langen braunen Locken und dem gewinnenden Blick der glänzenden Augen vor ihr, und immer lebendiger wurde das Verlangen in ihr, das Mädchen zu sehen, das ihr so ähnlich war, dass es als ihr Kind erkannt werden konnte.

      Schloss Wildenstein

       Inhaltsverzeichnis

      Am frühen Morgen, als Lippo und Mäzli eben zum Tageslauf ausgerüstet aus der Mutter Händen entlassen worden waren, stiegen die beiden wie gewöhnlich in lebhafter Unterhaltung zur Wohnstube hinunter. Mäzli hatte dann immer schon erfahren, was ausgeführt werden sollte, wenn Lippo aus der Schule heimkommen würde, und machte ihm Mitteilung davon.

      Die Mutter hatte rasch noch eine andere Arbeit abzutun, dann folgte sie den Kindern nach. Sie standen alle fünf um das Klavier geschart. Der Eintritt der Mutter brachte Kurt plötzlich zu einem lauten Schreckensruf: »Oh, Mutter, wir haben die Abgebrannten vergessen, und heute morgen sollten wir alles mitbringen!«

      »Ja, und der Lehrer hat zweimal gesagt, wir dürfen es nicht vergessen«, jammerte Lippo. »Aber weisst du, ich habe es nicht vergessen.«

      »Ihr könnt ruhig sein, es ist alles in Ordnung«, sagte die Mutter. »Eben habe ich Käthi mit einem Korb voller Sachen zum Lehrer geschickt; er war zu schwer zu tragen für euch.«

      »Oh, wie angenehm! Es ist so bequem, dass man eine Mutter hat«, sagte Kurt erleichtert.

      Jetzt setzte sich die Mutter ans Klavier.

      »Wir wollen unser Morgenlied singen«, sagte sie, »auf den Onkel können wir nicht warten. Es möchte zu spät werden, bis er von seinem Morgenspaziergang zurückkehrt.« Nun schlug sie ihr Buch auf und stimmte an: »Die goldene Sonne - Voll Freud und Wonne.«

      Und die Kinder alle fielen ein und sangen frisch und sicher mit; denn sie kannten das Lied wohl. Auch Mäzli sang laut und eifrig mit, und wo die Worte des Liedes ihm entfallen waren, da setzte es ohne Zögern die eigenen ein und fuhr lobsingend fort. Zwei Strophen waren gesungen, da sagte Kurt: »Nun müssen wir aufhören, es wird sonst zu spät. Wir müssen frühstücken, dann ist’s Zeit für die Schule.«

      Die Mutter fand, er habe recht, stand auf und ging zum Tisch, die Tassen zu füllen.

      Aber nun erhob Lippo ein ganz klägliches Geschrei und rief, die Mutter zurückziehend: »Tu’s noch nicht! Tu’s noch nicht. Wir müssen fertig singen! Wir müssen fertig singen! Komm zurück, Mutter, komm zurück!«

      Sie wollte seine kleinen, festen Hände von ihrem Kleide lösen und ihn beruhigen; aber er hatte sich so fest daran geklammert, dass sie es nicht vermochte, und immer ärger schrie er: »Komm wieder zurück, du hast ja gesagt, gar nichts dürfe man liegen lassen, wenn es nicht fertig ist, und wir sind nicht fertig, wir müssen das Lied fertig singen.«

      Aber nun fing auch Kurt zu schreien an: »Lass los, du Zwingzange, wir kommen ja alle zu spät in die Schule!«

      Und Mea liess ihre Stimme auch in aufgeregten Ausrufungen gegen den fort und fort die Mutter drängenden Lippo erschallen, der vor Anstrengung und Eifer, sein Ziel zu erreichen, laut stöhnte.

      In diesem Augenblick trat Onkel Phipp ein.

      »Was geht denn hier vor?« rief er erstaunt in den Aufruhr hinein.

      Nun fingen alle miteinander an zu erklären.

      Lippo liess los, um dem Onkel nahe zu kommen und Hilfe von ihm zu erreichen. Kurt hatte die lauteste Stimme, er drang durch.

      Der Onkel vernahm nun, um was es sich handle und was Lippo mit Hartnäckigkeit durchführen wollte.

      »Lippo hat recht«, entschied Onkel Phipp, »was man angefangen hat, das soll man zu Ende führen, solchen guten Grundsatz muss man mit Hartnäckigkeit aufrechterhalten. Das hat Lippo von seinem Paten geerbt, der wird ihm auch beistehen. Komm, Lippo, gleich setzen wir uns hin und singen das Lied miteinander fertig bis zum letzten Wort.«

      »Aber Onkel Phipp, das Lied hat zwölf Strophen, wir müssen ja in die Schule; es ist die höchste Zeit, und Lippo muss ja mit«, rief Kurt in grosser Aufregung; »wenn der Lehrer fragt, warum Lippo nicht komme, kann ich doch nicht sagen, er muss daheim sein Morgenlied fertig singen.«

      »Das ist richtig, nun hat Kurt recht«, sagte der Onkel; »aber siehst du, Lippo, ich weiss einen Ausweg. Heute abend wird ja wieder gesungen, da muss mir die Mutter versprechen, das Lied mit euch zu Ende zu singen, damit ist es doch noch fertig geworden«

      »Das kann man nicht, das kann man nicht«, jammerte Lippo, »es ist ein Morgenlied, am Abend kann man kein Morgenlied singen; jetzt gleich muss man es fertig singen. Wart noch, Kurt!« schrie er auf, als er sah, dass Kurt seinen Schultornister auf den Rücken nahm.

      »Was muss man denn machen? Wo ist die Mutter? Warum läuft sie gerade in einem solchen Augenblick davon?« rief Onkel Phipp in hilfloser Aufregung. »Ruf die Mutter herbei, das kann ja nicht so gehen!«

      Lippo hatte sich, nachdem er seinen Angstschrei ausgestossen hatte, dass Kurt ihm nicht davonlaufe, an das Klavier gedrückt und leise, aber ganz kläglich zu weinen begonnen. Kurt riss die Tür auf und rief nach der Mutter mit einer Stimme, die weit über das Haus hinaus ihr Ohr erreicht hätte. Die Anstrengung wäre nicht nötig gewesen, die Mutter stand dicht neben ihm an der Tür. Bruno hatte sie hinausgezogen, weil er ihr gern noch eine Mitteilung machen wollte, bevor auch er für seine Unterrichtsstunden das Haus verliess, und zu seinen Mitteilungen wollte er die Mutter allein haben.

      »Komm doch herein, Mutter«, rief Kurt, doch jetzt in gemildertem Ton, »komm und hilf, dass dieser zweibeinige Gesetzesparagraph einmal Vernunft annimmt! In fünf Minuten geht die Schule an.«

      Die Mutter trat wieder in die Stube.

      »So komm doch, Maxa, wo bist du denn hingekommen?« rief ihr der Bruder zu, »es ist ja die allerhöchste Zeit. So hilf doch dem Buben zurecht. Da steht er ganz unglücklich und klammert sich an das Klavier an und soll doch gleich gehen, Kurt hat ja recht.«

      Die Mutter nahm den kläglich Schluchzenden bei der Hand und zog ihn, sich auf den kleinen Klaviersessel setzend, vor sich hin.

      »Komm,


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