Helle und die kalte Hand. Judith Arendt

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Helle und die kalte Hand - Judith Arendt


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sagte sie.

      »Wie meinst du das?«

      Amira richtete sich auf und sah Helle verwundert an. »Na, wie ich es sage. Zum Glück hast du Bengt.«

      Helle lachte verlegen. »Jaja, das stimmt schon, aber ich meine, wie kommst du jetzt darauf?«

      »Weil es sonst bei dir zu Hause genauso aussehen würde wie in diesem Schrotthaufen.«

      Amira stellte sich unter das schützende Vordach, während Helle die vermaledeite Rampe wieder ins Auto bugsierte. Dreißig Sekunden ohne Kapuze, und schon war ihr Kopf tropfnass. Das Wasser lief ihr von den Haaren in den Kragen, und Helle wünschte sich jetzt nichts sehnlicher als eine heiße Badewanne und danach ein Glas Wein am Kamin, eingemummelt in viele Decken und dicke Socken. Emil würde heute Nacht jedenfalls keinen Spaziergang mehr bekommen. Wenn er dringend musste, würde sie lieber nachts kurz aufstehen und ihn rauslassen.

      Das Haus war über den Tag ausgekühlt. Sie heizten noch nicht, aber der große Raum mit der offenen Küche und der Sofalandschaft wurde schnell warm, wenn der Kamin erst ordentlich loderte und jemand kochte.

      Helle machte alle Lampen an, stapelte Holz im Kamin und entzündete es. Die nassen Jacken und Schuhe hatten sie im Windfang gelassen, Amira verstaute ihren Rucksack in Leifs Zimmer, in dem sie während der vier Wochen in Skagen wohnen sollte.

      Helle verschwand im Schlafzimmer, um sich die klammen Sachen vom Körper zu reißen und in einen Hoodie sowie mollige Jogginghosen zu schlüpfen. Dabei streifte ihr Blick den Spiegel. Eine fremde Frau sah sie gehetzt an. Ein trauriger Blick aus verschatteten Augen, triefnasse dünne Haarsträhnen klebten an Wangen und Stirn. Unter dem Sport-BH wölbte sich ein weißer Bauch in mehreren Rollen, der zu kleine Baumwollschlüpfer verschwand fast darunter.

      Helle hielt inne und richtete sich auf. Sie zwang sich, der Frau im Spiegel in die Augen zu blicken. Wer war das? Und warum zum Teufel ging es der so schlecht?

      War sie krank? Nein.

      Jemand gestorben? Auch nicht.

      Musste sie auf der Straße leben? Helle schüttelte den Kopf und sah weg. Stell dich nicht so an, Helle Jespers, dachte sie. Was ist denn verdammt noch mal mit dir los?

      Dabei wusste sie ganz genau, was los war. Sie hatte sich gehenlassen. Der fürchterliche Fall vor einem Dreivierteljahr, die Anspannung wegen Leifs Abitur, die Abwesenheit gleich zweier Kollegen – Amira und Jan-Cristofer – und, last but not least, die Erkenntnis, dass Leif nun auch erwachsen war und sie verlassen würde, hatten dazu geführt, dass sie in ihrem eigenen Leben keine Rolle mehr gespielt hatte.

      Sie war müde und fühlte sich ausgelaugt. Helle setzte sich aufs Bett und starrte die Frau im Spiegel an.

      So nicht, dachte sie.

      Morgen würde sie Unterwäsche kaufen. Immerhin ein Anfang. Sie rubbelte sich die Haare halbtrocken und kramte aus der Schminkschublade ein altes Cremerouge hervor. Es roch ranzig, aber Helle schmierte sich trotzdem ein paar Tupfer auf die Wangenknochen. Sie sah gleich frischer aus. Was fand Bengt nur immer noch attraktiv an ihr? Nach zwanzig Jahren Ehe. Sie nahm sich vor, sich ein bisschen mehr Mühe zu geben. Mit sich, aber auch mit ihrem Mann. Er war – neben Emil – einer der wenigen, die sie noch aushielten.

      Sie hatten ein Abendessen improvisieren müssen, denn Helle hatte nichts eingekauft – in der irrigen Annahme, das würde wie immer Bengt übernehmen. Als der schließlich nach Hause kam, hatten sie fast alles aufgegessen: geröstete Roggenbrote mit Sardinen aus der Dose, stinkigen Käse, selbst gemachte Hagebuttenmarmelade und Ziegenfrischkäse mit gegrillter Paprika. Ein Kopf Salat hatte sich noch in der Gemüseschublade versteckt, Helle peppte ihn mit geriebener Karotte, dem Rest Gurke, einer Handvoll Kerne, hart gekochtem Ei und leckerem Dressing auf. Ein wahres Festmahl – der Kühlschrank war nun wirklich ratzekahl –, zu dem der schwere Bordeaux wunderbar schmeckte. Amira blieb wie üblich bei Tee.

      »Ich musste noch zu Papa.« Bengt kam aus dem Windfang herein, rotbäckig, dampfend vor Wärme in dem kalten Regen, in seinem Bart glitzernde Feuchtigkeit. Er brachte zwei große Tüten aus dem Bioladen mit hinein, stellte sie ab und begrüßte seine Frau mit einer liebevollen Umarmung und einem Kuss. Bevor er sie losließ, kniff er die Augen zusammen und musterte sie.

      »Du siehst gut aus.«

      Helle grinste. Ranziges Rouge vermochte Wunder zu vollbringen.

      Amira freute sich sehr, Helles Mann wiederzusehen, und ließ sich bereitwillig von dem gut gelaunten Wikinger drücken.

      »Und dir tut die Großstadt auch gut, wie ich sehe.«

      Bengt zwinkerte Amira zu, während er sich mit der einen Hand ein Brot in den Mund stopfte und mit der anderen sein Weinglas füllte.

      »Kopenhagen ist super, wirklich.« Amira rieb sich wieder die Oberschenkel. »Und ich habe wahnsinnig nette Kollegen.«

      »Pah!« Helle machte eine wegwerfende Handbewegung. »Ricky und Sören, hör mir bloß auf!«

      Sie lachten. Ricky Olsen war ein grobschlächtiger Hauptkommissar in Sören Gudmunds Truppe, und die Skagener hatten weder ihn noch den Leiter der Mordkommission ausstehen können, als die beiden damals im Fall Gunnar Larsen bei ihnen aufschlugen. Allerdings war die durchaus gegenseitige Antipathie im Lauf der Ermittlungen in Sympathie und Respekt umgeschlagen.

      »Wie geht es deinem Vater?«, erkundigte sich Amira bei Bengt, der gerade antworten wollte, als Helles Handy den Eingang einer Nachricht vermeldete. Seit Leif auf Reisen war, hatte Helle den Apparat stets in greifbarer Nähe, sie wartete sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von ihrem Sohn.

      Aber die Nachricht war von Ole. Er hatte ein Foto geschickt. Helle begriff nicht gleich, was darauf abgebildet war, ein Gegenstand im grellen Blitzlicht, außen herum schwarze Nacht.

      Dann erkannte sie es. Eine Hand. Die Finger, absurd gekrümmt, ragten mahnend in die Nacht. Das war die Hand eines Toten, und so, wie es aussah, war er oder sie schon lange tot.

      Ole hatte nur zwei Worte daruntergeschrieben.

      »Råbjerg Mile.«

      Aalborg

      Innentemperatur 18 Grad

      Während Pilita im Zimmer stand und sich für die Arbeit zurechtmachte, den dicken Anorak anzog, eine Mütze, Handschuhe und drei Paar Socken in den dünnen Schuhen gegen die Kälte da draußen, zogen dieselben Bilder vor ihrem geistigen Auge vorbei. Es war ein Mantra, sie musste sich ständig daran erinnern, warum sie nicht mehr in Luzon war, sondern hier, in Aalborg.

       Ich habe tief geschlafen. So tief und traumlos wie noch nie. Als ich aufwache, dröhnt mein Kopf, ich blinzle mühsam gegen die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen der Hütte fallen. Wieso ist es so hell? Instinktiv taste ich nach Imelda, nach meiner Schwester. Aber meine Finger greifen ins Leere, ich finde sie nicht. Auch nicht den kleinen Jomel.

       Wo ist Imelda? Ist sie draußen, Arbeit suchen? Wasser holen? Ist sie am Strand? Und der Kleine, hat sie ihn mitgenommen? Er sollte immer zwischen uns liegen, geschützt. So ist es, seit er auf der Welt ist.

       Pilita, Imelda und Jomel.

       Imelda hat sich noch nie weggeschlichen. Sie sagt mir immer, wohin sie geht. Weil sie Angst hat. Die Angst, die uns alle begleitet, seit sie Imeldas Mann Brillante abgeholt haben. Jomels Vater. Seitdem sind wir nur noch zu dritt.

       Pilita, Imelda und Jomel.

       Wir passen aufeinander auf. Wer weiß, ob sie uns nicht auch holen. Imelda und Jomel. Oder sogar mich.

       Ich setze mich auf. Er sollte hier liegen, neben mir, sein kleiner heißer Körper an mich geschmiegt, die Fingerchen umklammern eine meiner Haarsträhnen. Auf seiner anderen Seite der Körper von Imelda. Er soll immer in Sicherheit sein, beschützt.

       Mein Herz trommelt gegen die Brust, ich höre mein Blut im Ohr rauschen, weil ich


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