Helle und die kalte Hand. Judith Arendt

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Helle und die kalte Hand - Judith Arendt


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      Sie sahen sich an. Helle verstand sofort, was Ole ihr damit sagen wollte. Er wusste genau, dass niemand mehr etwas zu melden hatte, wenn Ingvar erst hier aufkreuzte. Er war ihr Vorgesetzter und würde die Ermittlungsarbeit sofort an sich reißen, sobald er witterte, dass aus diesem Fall etwas Größeres werden könnte.

      Und das würde es, ganz ohne Zweifel.

      Helle warf erneut einen Blick auf die Hand.

      »Wann hast du es gemeldet?«

      »Du hast eine Viertelstunde Vorsprung. Sie müssten gleich hier sein.«

      Helle nickte und beschloss, keine Zeit zu verlieren. Ole hätte sofort in Fredrikshavn anrufen müssen. Bei einem Kapitalverbrechen war es seine Dienstpflicht, die übergeordnete Stelle zu benachrichtigen. Stattdessen hatte er sie informiert. Sie zog ihr Smartphone aus der Tasche und machte Fotos von der Hand und der Umgebung, die sie mit ihrer Stablampe ausleuchtete.

      Die Hand war in erstaunlich gutem Zustand, entweder war der dazugehörige Mensch noch nicht lange tot, oder aber Sand konservierte ausgezeichnet.

      Jetzt hörten sie die Polizeisirenen. Ingvar kam also mit Getöse und Aufgebot. Die Kollegen kamen näher, das Licht ihrer Stablampen zuckte über den nachtschwarzen Strand, Helle und Ole hörten ihre Rufe.

      Da ragte auch schon Ingvars großer Oberkörper über die Dünenkante.

      »Das eiskalte Händchen«, er lachte laut. »Na, so was haben wir hier auch noch nicht gehabt.«

      Er stapfte zu ihnen hinunter und tauchte in dem abgesperrten Bereich auf, nickte Ole zu und klopfte Helle auf die Schulter. »Na, mein Mädchen, was habt ihr da aufgetan?«

      Ohne eine Antwort abzuwarten, beugte er sich nah zu der Hand und nahm sie in Augenschein. Er pfiff durch die Zähne.

      »Donnerwetter. Wie es aussieht, hängt da noch mehr dran.«

      Er wandte sich wieder an Helle, während hinter ihm nach und nach Kollegen aus Fredrikshavn auftauchten, die sich nun alle neugierig um den makabren Fund drängten.

      Helle referierte, was sie von Ole wusste. Dass Ansgar Norborg, der Apotheker, der für den Ironman trainiert hatte, die Entdeckung gemeldet hatte.

      »Offensichtlich hat der Dauerregen der letzten Woche dazu geführt, dass hier ein Stück von der Dünenkante abgewaschen wurde.« Helle zeigte auf den langgestreckten Sandhaufen, der sich am Fuß der Düne über ein paar Meter erstreckte.

      »Dadurch wurde die Hand freigelegt. Sonst hätte man die Leiche vermutlich nie gefunden.«

      Ingvar nickte und nahm die Gesamtsituation in Augenschein.

      Ein Kollege hatte inzwischen eine Kamera hervorgeholt und machte Fotos.

      »Als Erstes brauchen wir ein Zelt, um den Fundort vor dem Regen zu schützen. Habt ihr eins?«

      Helle nickte, und Ingvar schien zufrieden.

      »Pia, du rufst in Aalborg an. Die Spurensicherung soll ihren Arsch hierherbewegen, und zwar schnell. Und Dr. Holt benachrichtigen, der soll auch sofort kommen. Vielleicht kann er schon etwas darüber sagen, wie lange der Körper sich hier befindet.«

      »Wie lange der Mensch tot ist«, fiel Helle ihm ins Wort. »Vielleicht wurde er oder sie woanders getötet und dann hier versteckt. Und Dr. Holt ist vielleicht nicht der Richtige, er …«

      »Willst du mir meinen Job erklären?« Ingvar knurrte verärgert. Auf Dr. Holt, Allgemeinmediziner aus Fredrikshavn, mittlerweile in Rente, ließ er nichts kommen, es war einer seiner Weggefährten von Anfang an. Er spielte Rechtsmediziner und leistete die ersten Begutachtungen bei Unfällen und kleineren Gewaltdelikten. Bei Mord war er hoffnungslos überfordert.

      »Aber schön, dass du so viel von mir gelernt hast«, schickte Ingvar hinterher.

      Einer der Fredrikshavner Kollegen feixte. Helle streckte ihm die Zunge raus.

      »Skagen, schaut euch an, wer als vermisst gemeldet wurde. Vielleicht passt etwas zu unserem Fund hier.« Ingvar richtete sich auf und blickte streng wie ein Herbergsvater in die Runde. »Sagen wir mal die letzten zwei Jahre.«

      »In Skagen und Fredrikshavn?«, erkundigte sich Ole. »Ich glaube nicht …«

      »In Dänemark! Herrgott noch mal, Halstrup! Wie beschränkt bist du?« Ingvar schüttelte genervt den Kopf.

      Ole sah beschämt zu Boden.

      »Ole ist nicht …«, wollte Helle sich vor ihren jungen Kollegen stellen, aber Ingvar sprach einfach weiter, als existierte sie nicht.

      »Am besten wird es sein, wenn du das selbst machst, Helle. Die Vermissten durchgehen. Du bleibst hier am Tatort, Halstrup. Mit Amira, wenn sie schon mal da ist.«

      Den Seitenhieb konnte Ingvar sich nicht verkneifen. Er sah seine Autorität untergraben – schließlich hatte er die Digitalisierung der Skagener Wache abgelehnt, und dass Sören Gudmund sie beim Polizeipräsidenten doch für Helle durchgedrückt hatte, erregte sein Missfallen. Und das ließ er Helle bei jeder Gelegenheit spüren. Allerdings hatte sie beschlossen, auf Durchzug zu schalten.

      »Linn, du gibst eine Pressemitteilung raus. Vielleicht kommt das noch morgen in die Blätter, und es melden sich Zeugen.«

      Helle konnte förmlich sehen, wie Ingvar zu Höchstform auflief. Er schien regelrecht ein paar Zentimeter zu wachsen. Sie verzichtete auf den Einwand, dass es nicht besonders klug war, die Presse zu benachrichtigen, bevor irgendetwas über die Leiche in der Düne bekannt war. Ein Zeitungsbericht würde nämlich vor allem Neugierige und Gaffer auf den Plan rufen. Und ein paar Spinner, die irgendeine Nebensächlichkeit beobachtet hatten und sich wichtigmachen wollten.

      »Da wir die Ergebnisse der Spurensicherer und des Rechtsmediziners abwarten müssen, treffen wir uns erst morgen um elf. In meinem Büro.«

      Er drehte sich zu Helle und Ole um. »Es reicht, wenn einer von euch kommt. Am besten du, Helle. Dann kannst du uns die Ergebnisse deiner Recherche mitteilen.«

      »Übernimmst du den Fall?« Helle kannte die Antwort, aber sie musste trotzdem fragen.

      »Natürlich. Es ist ja meine Zuständigkeit.« Ingvar sah sie milde lächelnd an. »Ich weiß gar nicht, warum du fragst.«

      Damit wandte er sich ab und machte seinen Leuten ein Zeichen, den Tatort zu verlassen. Helle und Ole blieben im strömenden Regen in der Dunkelheit zurück.

      »Du gehst nach Hause, nimmst eine heiße Dusche und legst dich aufs Ohr«, wies Helle Ole an.

      »Aber …«

      »Ist mir scheißegal. Ich brauch dich lebendig und nicht mit einer Lungenentzündung. Hol dir eine Mütze Schlaf, dann treffen wir uns in der Wache. Sagen wir um sieben. Ich halte hier die Stellung.«

      Ingvar würde gar nicht merken, dass sie seiner Anweisung nicht Folge leisteten, dachte Helle. Hauptsache, es wartete hier jemand auf die Leute aus Aalborg und sorgte dafür, dass der Tatort gesichert blieb. Sie gab Ole noch ein paar weitere Instruktionen, dann verließ der junge Mann sichtlich erleichtert den Strand.

      Helle kauerte sich in die Hocke, zog den Südwester noch tiefer in die Stirn, goss sich einen Becher heiße Brühe ein und starrte auf die gespenstisch erleuchtete Hand.

      Sie hörte durch den Regen, der ihr auf Kopf und Schultern prasselte, die Wellen an den Strand branden. Roch den nassen Sand, frisch und sauber, den salzigen Tang, muffiges Treibholz.

      Helle spürte, wie sie ruhig wurde. Und fokussiert. Es war gerade gut, so wie es war. Allein hier in der Nacht in der Düne. Mit einer Hand. Niemand quatschte, keiner lenkte sie von ihren Gedanken ab.

      Unter dem Regenzeug war Helle trocken und warm, die depressive Stimmung, die sie in den letzten Tagen und Wochen umklammert gehalten hatte, war verflogen, ihr Herz schlug kräftig und gleichmäßig, sie fühlte sich lebendig und energiegeladen.

      Je länger sie die Hand betrachtete, desto sicherer war sie sich, dass


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