Helle und die kalte Hand. Judith Arendt

Читать онлайн книгу.

Helle und die kalte Hand - Judith Arendt


Скачать книгу
Pflicht verletzt, habe mein Versprechen gebrochen.

       Aber dann sehe ich, dass Imeldas Sachen verschwunden sind. Und die Sachen des Kleinen.

       Die große Plastiktasche.

       Imelda hat mich verlassen.

       Jetzt erst sehe ich den Zettel, den meine Schwester am Spiegel befestigt hat.

       Ich stehe auf und will es nicht glauben.

       Sie hat Angst, schreibt sie, Angst, dass sie sie holen wie Brillante. Und sie hat Angst, uns alle damit zu gefährden, ihre Familie. Mutter und Vater, ihren Sohn, mich und auch meinen Mann Filipe. Deshalb hat sie das Land verlassen. Heimlich, in der Nacht.

       Ich lese den Brief, aber ich verstehe nicht, warum sie alleine gegangen ist. Warum sie mir nichts gesagt hat, warum wir nicht zusammen gegangen sind, Jomel in unserer Mitte, so, wie es sein soll.

       Pilita, Imelda und Jomel.

       Ich fühle mich betrogen, aber das hält mich nicht davon ab, ihr zu folgen. Ich kann sie nicht alleinlassen. Ich werde ihr folgen und sie finden. Gemeinsam werden wir es schaffen, vielleicht in einem anderen Land.

       Unsere Zukunft ist Europa. So sagte es Filipe, der in der Welt herumkommt. So steht es in Imeldas Brief geschrieben, und so glaubte auch ich es.

      Draußen vor der Tür ertönte das Hupen. Dreimal kurz. Pilita öffnete die Zimmertür, im Gang warteten schon die anderen, und so gingen sie, acht Frauen, gemeinsam die Treppe hinunter und verließen das Haus. Öffneten die Tür des Kleinbusses und setzten sich stumm auf ihre Plätze.

      Råbjerg Mile

      Außentemperatur 2 Grad

      Helle brauchte keine fünf Minuten, um den Parkplatz in der Nähe der Wanderdüne zu erreichen. Amira hatte sich ihr angeschlossen, sie waren, ohne ein Wort miteinander zu wechseln, im höchsten Tempo, zu dem Helles Volvo imstande war, dorthin gerast.

      Das Blaulicht strahlte ihnen schon von weitem entgegen.

      Jan-Cristofer stieg aus seinem Wagen, als Helle neben ihm parkte. Er war ebenfalls in Zivil. Sofort nahm er Amira in den Arm und drückte sie fest.

      »Ole ist am Fundort.«

      Helle beschloss, schon einmal vorzugehen, sie wusste, dass die beiden gerne ein paar Worte alleine sprechen wollten. Auch Jan-Cristofer hatte bei dem Fall um den Toten im Tivoli Schaden an Körper und Seele erlitten, auch er hatte erst einmal eine Auszeit nehmen müssen. Aber nicht nur das verband die beiden miteinander. Amira hatte im selben Haus gelebt wie Jan-Cristofer, der ihr die Wohnung dort besorgt hatte. Er war doppelt so alt wie sie, geschieden und hatte einen Sohn, Markus. Um Amira hatte er sich immer wie ein Vater gekümmert, sie war wie Familie für den alleinstehenden Kollegen.

      Helle stapfte los. Sie hatte ihre Stablampe mitgenommen, die einen Strahl gleißenden Lichts in die Regennacht schickte. Zur Kirche, die Jahr für Jahr ein Stück mehr vom Sand verschluckt wurde, führte ein Weg quer durch die Dünenlandschaft. Im Sommer waren hier viele Touristen unterwegs, im Herbst und Winter trafen sich lediglich ein paar Hundebesitzer und Jogger.

      Aber mitten in der Nacht? Bei strömendem Regen?

      Kurz vor der Kirche sah Helle in Richtung des Meeres helles Licht.

      Sie wollte den Weg verlassen und direkt darauf zulaufen, aber dann hielt sie inne. Sie würde Spuren hinterlassen und damit der Spurensicherung ihre bei diesen Bedingungen ohnehin fast unmögliche Arbeit noch erschweren. Sie griff zum Handy und rief Ole an, der nur ein paar Meter entfernt stand.

      »Sag mal, wo seid ihr langgegangen? Ich will nicht auch noch …«

      »Vergiss es«, fiel Ole ihr ins Wort. »Das ist ne alte Leiche, die liegt schon lange hier, Spuren gibt’s nicht mehr.«

      Helle seufzte, schob das Handy in die Tasche ihres Ölzeugs und stapfte los. Als die Nachricht von Ole gekommen war, hatte sie sich gottlob nicht wieder irgendetwas übergeschmissen, sondern ausnahmsweise auf Bengt gehört, der ihr seine Fahrradregenhose, den gelben Friesennerz und Gummistiefel aufgedrängt hatte. Ihre Jogginghose und den Hoodie hatte sie darunter anbehalten, sie sah aus wie ein Hochseefischer im Sturm, aber immerhin blieb sie trocken und einigermaßen warm.

      Sie erreichte den Strand und lief entlang der Abbruchkante einer Düne auf die Fundstelle zu. Ole stand mit hochgezogenen Schultern inmitten eines abgesperrten Quadrats, drei Halogenlampen erhellten die gespenstische Szenerie.

      Helle stieg über das Flatterband. Sofort fiel ihr Blick auf das Corpus Delicti: Eine Hand ragte aus dem Sand. In etwa einem Meter Höhe. Sie hing dort zusammenhanglos in der Luft und wirkte wie ein makabrer Garderobenhaken.

      Ole folgte ihrem Blick.

      »Krass, oder?«

      Helle nickte. »Wer hat das gemeldet?«

      Sie sah sich um. Keine Zeugen. Sie hoffte auf einen anonymen Anrufer. Das wäre schon ein erster Hinweis, denn das würde bedeuten, dass jemand gewusst hatte, dass sich hier eine Leiche befand.

      »Ansgar.«

      »Norborg?«

      Ole nickte, und Wasser schwappte von seiner Uniformmütze.

      »Was zum Teufel macht der hier? Um die Zeit, bei dem Wetter?«

      »Als er die Leiche gefunden hat, war es gerade erst dunkel, aber bis er auf der Wache war und ich mit ihm hier rausgefahren bin …«

      »Moment! Nur, dass ich das verstehe.« Helle war ungehalten. »Ansgar treibt sich also hier herum und sieht mal eben zufällig eine Hand. Dann geht er in aller Ruhe zurück und denkt sich …«

      »Er hat trainiert«, unterbrach Ole wieder. »Er ist gelaufen. Ohne Handy. Er trainiert für den Ironman. Und deshalb läuft er hier um die Nordspitze.«

      Helle nickte nur, war aber in Gedanken schon woanders. Obwohl es eine Menge Sachen gab, die besser waren, als hier im eiskalten Novemberregen an der jütländischen Küste herumzustehen und sich mit einer Leiche zu befassen, durchströmte sie Energie. Denn war es nicht das, nach was sie sich so dringend gesehnt hatte? Ein Fall. Ein echter Fall, hier in Skagen, dort, wo man sich mit Ladendieben und Falschparkern herumschlug.

      Seit dem Mord an Gunnar Larsen Anfang des Jahres hatte Helle immer wieder darüber nachgedacht, ob Bengt nicht recht hatte. Er glaubte, dass sie unterfordert war mit ihrer kleinen Skagener Polizeiwache. Sie war erst fünfzig, im besten Alter, um Verantwortung zu übernehmen. Wenn du es noch mal wissen willst, hatte er mehr als einmal zu ihr gesagt, dann jetzt. Aber Helle war unsicher. Mehr zu wollen hätte bedeutet, aus Skagen wegzugehen. Ein Angebot der Mordkommission Kopenhagen lag auf dem Tisch. Aber sie wollte eigentlich nicht weg. Nicht von Bengt und Emil, ihrem Haus, dem Meer und den Dünen. Ihrer Comfort Zone.

      Helle starrte auf die Hand. Das war ein Fall. Ihr Fall.

      »Wo ist Ansgar jetzt?«

      »Ich habe seine Aussage aufgenommen und ihn nach Hause geschickt.« Ole fröstelte.

      Helle zog aus ihrer Manteltasche eine kleine Thermosflasche. Die hatte Bengt ihr zugesteckt, und nun gab sie sie Ole.

      »Nimm. Heiße Brühe.«

      Ole nahm dankbar die Flasche entgegen. Seine Hände waren rotgefroren, und er zitterte.

      »Du hast das toll gemacht, Ole«, lobte Helle ihn endlich. Besser spät als nie. »Wie im Lehrbuch.«

      Ole schüttelte den Kopf, während er versuchte, das heiße Getränk in den kleinen Becher zu gießen, ohne etwas zu verschütten.

      »Doch, doch. Es ist dein erster Tatort.« Helle zeigte um sich herum. »Gut gesichert, alles organisiert, die Richtigen benachrichtigt …«

      Ole schlürfte vorsichtig die Brühe, guckte Helle über den Becherrand


Скачать книгу