Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier. Immanuel Birmelin

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Die geheimnisvolle Nähe von Mensch und Tier - Immanuel Birmelin


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dem Menschen. Das ist in der Praxis oft ein langer Weg. Jane Goodall brauchte über ein halbes Jahr, um zwei Schimpansen-Männer von ihrer Ungefährlichkeit zu überzeugen. Als es so weit war, beschrieb sie die Situation so: »Keine achtzehn Meter weit weg saßen zwei Schimpansen-Männer und sahen mich forschend an. Die beiden großen Schimpansen-Männer fuhren ganz einfach fort, mich anzustarren. Langsam ließ ich mich nieder, und wenig später fingen die beiden an, sich gegenseitig das Fell zu pflegen, und akzeptierten mich.« Dies war der Beginn einer innigen Tier-Mensch-Beziehung. (Quellennachweis, Van Lawick-Goodall, >)

      Keiner kann es besser

      Aus meiner langen Erfahrung sowohl mit Wildtieren als auch mit Haustieren komme ich zur Erkenntnis, dass wir Menschen für Tiere interessante Lebewesen sind. Vorausgesetzt, wir behandeln sie wie Persönlichkeiten und respektieren ihre Persönlichkeit. Tiere auf der gleichen Augenhöhe zu betrachten, ist sowohl für das Tier als auch für uns Menschen ein Gewinn. Aufgrund der Fähigkeit, Empathie zu empfinden wie kein anderes Lebewesen, haben wir einen Schlüssel in der Hand, in die innere Welt eines anderen Organismus zu blicken. Wir sind in der Lage, die Gefühle und Verhaltensweisen eines Löwen, eines Hundes oder Pferdes zu interpretieren. Und wenn wir unseren Sinnen und Gefühlen nicht trauen, führen wir einfach Experimente durch, die unsere Auffassung unterstützen oder verwerfen.

      Ein Tier, das sich verstanden fühlt, entwickelt Vertrauen, Neugier und Zuneigung dem Menschen gegenüber. Kein Tier versteht womöglich ein anderes Tier so gut wie wir. Das ist eine besondere Leistung unseres Gehirns, das einem langen Evolutionsprozess unterworfen war und ist. Wir haben es im wahrsten Sinne des Wortes in der Hand, eine Bindung zwischen Mensch und Tier aufzubauen.

      Unsere Hände

      Wir sind in der Lage, mit unseren Händen nicht nur Klavier zu spielen oder ein Werkzeug herzustellen, sondern auch Gefühle auszudrücken, indem wir mit ihnen einen anderen Organismus streicheln und unsere positiven Gefühle auf ein anderes Lebewesen übertragen. Heute sind wir sogar in der Lage, dies naturwissenschaftlich zu messen. Untersuchungen belegen, dass bei Tieren, die gestreichelt wurden, das Stresshormon Cortisol gesenkt wird und die Bindungshormone ansteigen.

      Oxytocin ist solch ein Bindungshormon. So fanden Odendaal und Meintjes heraus, »dass sowohl bei Menschen als auch bei Hunden der Oxytocin-Spiegel im Plasma nach zwei- bis fünfminütigem Streicheln des Hundes signifikant ansteigt. Dieser Anstieg war höher, wenn die Versuchsperson ihren eigenen statt eines fremden Hundes streichelte. Das legt nahe, dass der Oxytocin-Anstieg von der Qualität der Beziehung zwischen Mensch und Hund abhängig ist: Also je enger die Beziehung, desto mehr Oxytocin wird wahrscheinlich durch die Interaktion freigesetzt.« (Quellennachweis, Odendaal und Meintjes, >) Neueste Untersuchungen japanischer Forscher, deren Ergebnisse in einer der renommiertesten wissenschaftlichen Zeitschriften der Welt, nämlich »Science«, erschienen sind, belegen, welch wichtige Rolle Oxytocin bei der Mensch-Tier-Bindung spielt. Die Forscher ließen 30 Herrchen und Frauchen eine halbe Stunde mit ihren vierbeinigen Freunden spielen und schmusen. Eine Gruppe von Hundehaltern bekam den Auftrag, möglichst intensiven Blickkontakt mit ihren Tieren aufzubauen. Vorher und nachher maßen sie den Oxytocingehalt in Urinproben von Mensch und Hund. Die Auswertung war überraschend, denn bei den Menschen- und Hundepaaren, die sich am längsten in die Augen sahen, wurde ein deutlich erhöhter Oxytocin-Spiegel gemessen. In einer Kontrollgruppe mit von Hand aufgezogenen Wölfen und Pflegern fehlte dieser Effekt, obwohl die Wölfe mit den Menschen sehr vertraut waren. Aber nicht nur Hunde lieben es, gestreichelt und gekitzelt zu werden, sondern auch Ratten.

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      Streicheleinheiten lösen auch bei Ratten ein wohliges Gefühl aus.

      Streichel- und Kitzel-Experimente bei Ratten

      Jaak Panksepp, einer der führenden Köpfe der Emotionsforschung, konnte dies in seinen Experimenten nachweisen. In einem ersten Experiment wurden die Ratten in Einzelkäfigen entweder mit dem Finger gekitzelt oder gestreichelt. Die Behandlung dauerte zwei Minuten und zog sich über fünf Tage hin. Dabei zeichneten die Forscher die 50-kHZ-Laute auf, die Ratten in angenehmen Situationen äußern. Wer diese Geräusche und Rufe gehört hat, vergisst sie nicht mehr so leicht. Zumindest ging es mir so. Sie verraten das Wohlbefinden der Tiere. Die mit dem Finger gekitzelten Ratten stießen siebenmal häufiger die 50-kHZ-Laute aus als die gestreichelten Ratten. Dabei nahm die Intensität der Rufe zu – offensichtlich genossen die Ratten das Kitzeln.

      Um die Ergebnisse ihrer Versuche zu erhärten, maßen die Forscher die Geschwindigkeit, mit der sich die Ratten dem kitzelnden/streichelnden Forscher näherten. Um die Hand des Forschers zu erreichen, mussten die Tiere eine Strecke von 50 Zentimeter zurücklegen. Die regelmäßig gekitzelten Ratten rannten viermal schneller als die gestreichelten.

      Ich habe bis jetzt häufig den Begriff Bindung und Beziehung benutzt, ohne zu erklären, was Wissenschaftler darunter verstehen. Machen Sie mit mir einen kurzen Ausflug in das Gebäude der Wissenschaftler.

      Auf der Suche nach Bindung

      Der Begriff Bindung stammt aus der Psychologie und wurde von den Forschern Mary Ainsworth, James Robertson und John Bowlby eingeführt. Nach ihrer Auffassung ist Bindung eine essenzielle biologische Größe, die nicht von Hunger oder Durst abhängt. Bindung entwickelt sich auf der Grundlage des Zusammenspiels und Handelns zwischen mindestens zwei Individuen. Wie gut das Zusammenspiel ist, zeigt sich daran, wie genau das Verhalten zeitlich aufeinander abgestimmt ist, wie genau die Verhaltensweisen der Individuen ständig aufeinander bezogen sind und wie sie reguliert werden. Die erste Bindung, die ein Kind eingeht, ist die zur Mutter. Zwischen Mutter und Kind wird eine enge emotionale Beziehung aufgebaut.

      John Bowlby erhielt von der Weltgesundheitsorganisation den Auftrag, einen Bericht über das Schicksal heimatloser Kinder im Nachkriegs-Europa zu verfassen. Bowlby zeigte, dass Babys genetisch vorprogrammiert sind, eine Bindung an eine feste Bezugsperson zu suchen und aufzubauen. Die sichere Beziehung zu einer vertrauten Person spielt eine wichtige Rolle bei der seelischen Entwicklung des Menschen, wie es auch bei allen anderen Primaten der Fall ist.

      »Die Bindungstheorie ist im ethologischen Denken der 1960er Jahre entstanden und verbindet psychoanalytisches Wissen mit evolutionsbiologischem Denken.« (Quellennachweis, Grossmann, >) Bowlby und Ainsworth beziehen sich auf die Tatsache, dass die Bindung an die Mutter ein lebensnotwendiges System in der Entwicklung vieler Tierarten darstellt und im Laufe der Stammesgeschichte einen hohen Anpassungswert erlangt hat. Beim Menschen ist dieser Mechanismus als stammesgeschichtlicher Rest noch vorhanden; der Säugling bindet sich zwangsläufig an seine Bezugsperson. Auf der Gegenseite bildet auch die Bezugsperson eine Bindung zum Kind aus.

      Eine Bindung des Kindes entwickelt sich nach Auffassung von Bowlby und Ainsworth in mehreren aufeinanderfolgenden Phasen.

      1 Vorbindungsphase: Hier reagiert der Säugling zwar allgemein auf Menschen, besonders auf das menschliche Gesicht, jedoch ohne zwischen einzelnen Personen zu unterscheiden. Die besondere Bevorzugung des Gesichts hängt mit der Reifung der Sinnesorgane zusammen.

      2 Entstehungsphase: Das Kind unterscheidet Personen hinsichtlich ihrer Vertrautheit. Diese Entwicklungsphase wird ab dem dritten Lebensmonat angenommen.

      3 Bindungsphase: Man nimmt an, dass etwa ab dem siebten Monat Bindungen zu individuellen Personen ausgebildet sind. Die Fähigkeit, Personen wiederzuerkennen, setzt bestimmte kognitive Leistungen voraus. Das Kind muss eine Vorstellung davon entwickelt haben, dass bestimmte Personen oder Objekte existieren, auch dann, wenn sie nicht sichtbar sind.

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      Ein Foto, das Bände spricht: Mutter und Kind in inniger Vertrautheit.

      Qualität der Bindung

      Wichtig ist auch zu wissen, dass in der Art der Qualität der Bindungen zwischen Eltern und Kind beim Menschen große Unterschiede


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